Aus der Kriminalstatistik kann man lesen, was man will. Das habe ich getan
Vergangene Woche haben neue Zahlen zu den Straftaten 2023 für Aufsehen gesorgt. Die »bösen Ausländer« seien Schuld an »immer mehr Gewalt!«, konnte man häufig lesen. Doch die Zahlen lassen auch ganz andere Schlüsse zu.
Vergangene Woche ist die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2023 erschienen und die Überschriften mit einem klaren Tenor ließen nicht lange auf sich warten:
Doch die vom Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlichte Statistik hätte auch folgende Überschriften hergegeben:
»Trendumkehr: Kriminalität nimmt deutlich weniger zu als im Vorjahr!«
»Straftaten verharren auf insgesamt niedrigem Niveau!«
Sie zeigen zwar nur einen Ausschnitt aus dem großen Ganzen – doch falsch sind sie nicht. Das ist eines der Probleme mit solchen Statistiken: Es gibt viele Wege, aus abertausenden Datenpunkten einen Trend herauszulesen – und noch mehr, eine reißerische Überschrift dazu zu finden.
Dabei lohnt ein genauerer Blick in die Statistik – und auch in die differenzierte Deutung der Ergebnisse, die das BKA gleich mitliefert. Nur so wird klar: Zu fast jedem Bereich gibt es ganz unterschiedliche Lesarten. Und genau das gibt es heute: Jeweils ganz unterschiedliche Schlüsse zu den 3 wichtigsten Punkten der Statistik.
Los geht’s!
1. Gab es mehr Straftaten? Kommt drauf an!
Bevor wir loslegen, ist es wichtig zu wissen: Generell erfasst die Statistik nur das sogenannte Hellfeld, also Straftaten, die zur Anzeige gebracht wurden. Das Dunkelfeld, also Straftaten, die nie behördlich bekannt werden, kann eine solche Statistik logischerweise nicht abbilden. Doch auch beim Hellfeld lässt sich mit den Zahlen der Statistik einiges ablesen – und auf die ein oder andere Art und Weise deuten.
Schluss 1: Die Zahl der
Schluss 2: Die Straftaten bleiben auf historisch niedrigem Niveau! Es genügt schon, den zeitlichen Horizont etwas zu erweitern, um das zu erkennen. Seit Beginn der bundesweiten Erhebung der Daten 1993 gab es nur 6 Jahre, in denen es weniger Straftaten gab. Rechnet man die Jahre 2020 und 2021 heraus, in denen aufgrund der pandemiebedingten Ausgangssperren besonders wenige Straftaten verzeichnet wurden, ist es nur in 4 Jahren deutlich besser gelaufen. Man kann 2023 also mit gutem Gewissen zu den Top 5 der straftatenärmsten Jahre seit der Wiedervereinigung zählen.
Aussagekräftiger als die absolute Anzahl der Straftaten ist die sogenannte Häufigkeitszahl. Sie gibt die Anzahl der Straftaten pro 100.000 Einwohner:innen an. Denn dass zum Beispiel in den USA mit seinen gut 300 Millionen Einwohner:innen absolut gesehen mehr Straftaten anfallen als, sagen wir, in Andorra, ist keine Überraschung. Die relative Häufigkeit, ausgedrückt durch die Häufigkeitszahl, macht solch unterschiedliche Rahmenbedingungen vergleichbar.
Auch in Deutschland hat sich die Zahl der Einwohner:innen seit 1993 stetig verändert; seit dem zwischenzeitlichen Tiefstand im Jahr 2012 (80,3 Millionen) hat die Einwohnerzahl 2023 einen neuen Höchststand erreicht (84,4 Millionen).
Dementsprechend ist die Anzahl der Straftaten pro 100.000 Einwohner:innen – die Häufigkeitszahl – weniger stark angestiegen und sieht nochmals einen Ticken weniger alarmierend aus als der absolute Anstieg der Straftaten (Grafik 1).
Weiten wir also unseren Horizont und schauen auf die relevantere Häufigkeitszahl, können wir festhalten: Auch 2023 war es in Deutschland im historischen Vergleich so sicher wie selten zuvor.
2. Sind die »Ausländer« schuld? Zu pauschal
Auch beim Thema der »Schuldigen« für Entwicklungen innerhalb der Statistik lässt sich einiges ablesen und interpretieren. Und zwar anders, als es Innenministerin Nancy Faeser tat und die Statistik zum Anlass nahm, hauptsächlich alarmierend und zur Begeisterung von Rechtsaußen über Integrationsprobleme zu sprechen. Das ist aber nur eine Lesart.
Schluss 1: Die »Ausländerkriminalität« hat stark zugenommen! Während die Anzahl aller Straftaten um 5,5% gestiegen ist, ist die Zahl der »nichtdeutschen« Tatverdächtigen sogar um 17,8% gestiegen. Obwohl Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft nur 14,6% der Bevölkerung ausmachten, waren 41,1% der Tatverdächtigen Ausländer. Im Vorjahr waren es 37,4%.
Schluss 2: Für die Kriminalität in Deutschland sind vor allem die Deutschen verantwortlich! Es mag trivial klingen, doch angesichts mancher Überschriften kann man schnell vergessen: Die absolute Mehrheit der Straftaten in Deutschland ist auf Deutsche zurückzuführen. Auch der jüngste Anstieg bei der Kriminalität geht vor allem auf die Kappe deutscher Tatverdächtiger.
Es stimmt, dass Nichtdeutsche überproportional vertreten sind in der Statistik. Doch direkt neben dieser Erkenntnis steht ein großes, altbekanntes Fettnäpfchen: Korrelation ist nicht Kausalität! Soll heißen: Ausländer begehen nicht mehr Straftaten, weil sie eben Ausländer sind und damit per se mehr kriminelle Energie aufweisen. Vielmehr unterscheiden sich die Menschen in Deutschland, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, statistisch gesehen vor allem in 3 Dingen von der Mehrheit mit Staatsbürgerschaft: Sie sind ärmer, sozial isolierter und männlicher.
Armut, Einsamkeit und das männliche Geschlecht sind ganz unabhängig von der Nationalität Hauptfaktoren für eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, Straftaten zu begehen. Das Bundeskriminalamt schreibt dazu selbst:
Es ist davon auszugehen, dass viele Schutzsuchende mehrere Risikofaktoren für verschiedene Deliktsbereiche aufweisen. Dazu gehören die Lebenssituation in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie wirtschaftliche Unsicherheit und Gewalterfahrungen.
Es gibt einen weiteren Faktor, den die reinen Zahlen verschleiern: 2023 sind auch viele Migrant:innen aus Deutschland in ihre Heimat zurückgekehrt – vor allem in die Ukraine. Gleichzeitig sind deutlich mehr neue Menschen gekommen, als es der reine Anstieg der Zahlen vermuten lässt. Gerade diese Neuankömmlinge haben oft mit Problemen zu kämpfen, die es wahrscheinlicher machen, dass sie straffällig werden. Dazu schreibt das BKA:
Es [liegt] nahe, dass die Anstiege von Kriminalität (besonders bei nichtdeutschen Tatverdächtigen) mit den besonderen Bedingungen, die mit dem Wanderungsgeschehen verknüpft sind, einhergehen. Dazu gehören beispielsweise die große Anzahl von Personen in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie viele kurzfristige Unterbringungen mit häufigen Umzügen.
Hinzu kommen 2 Dinge:
Blicken wir nochmals auf Grafik 5, also darauf, wie sich der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen entwickelt hat:
Die Grafik zeigt, dass der Anteil an nichtdeutschen Tatverdächtigen bereits 2016 auf ein ähnliches Niveau wie 2023 angestiegen war. Wir erinnern uns: Ein Jahr zuvor, 2015, waren besonders viele Flüchtende aus der Region um Syrien nach Deutschland gekommen und waren hierzulande zunächst ebenfalls oft in prekären Lebenslagen. In den Folgejahren integrierten sich diese Menschen zunehmend, wodurch der Anteil wieder schrumpfte.
Eine Berichterstattung, die sich nur auf Skandalisierung (»Kriminelle Ausländer!«) fokussiert und nicht mit den Daten der Statistik differenziert, ist schlichtweg unzureichend und verschleiert einen Teil der Wahrheit.
3. Ist Deutschland unsicherer?
Vielleicht hast du dich nach den Meldungen zur Kriminalstatistik etwas unsicherer in unserem Land gefühlt; damit wärst du wohl nicht allein. Doch eine Kriminalstatistik thematisiert eben vor allem Kriminalität – und gibt uns damit eine sehr spezifische Perspektive auf unser Land.
Doch es gibt auch jene, die von einem Gefühl der »Unsicherheit« profitieren. Die damit Stimmung gegen »Ausländer« machen können, die sie zu Feindbildern aufgebaut haben, und politisch dann mit dem Versprechen von »mehr Sicherheit« auf Wähler:innen-Fang gehen können.
Dabei gibt es auch hier mehrere Lesarten, eine, die den Profiteuren in die Hände spielt, und eine, die eine ganz andere Perspektive nutzt:
Aussage 1: Die Menschen in Deutschland sind krimineller geworden! Die Zahlen dazu haben wir bereits besprochen. Der Punkt ist: In den vorangegangenen Deutungen haben wir stets die Tatverdächtigen selbst als Ursache für die Schwankungen in den Blick genommen. Man mag es für Haarspalterei halten, doch Fakt ist auch:
Aussage 2: Die äußeren Umstände haben die Menschen dazu gebracht, mehr Straftaten zu begehen! Hier sind es vor allem 2 Faktoren: Zunächst haben die Coronapandemie und die damit verbundenen Ausgangssperren zu einem historisch einmaligen Einbruch der Straftaten geführt. Gelegenheit macht Diebe, heißt es bekanntlich. Wer zu Hause auf der Couch sitzt, hat jedoch nicht viele Gelegenheiten, um einen Diebstahl oder eine andere Straftat zu begehen. Corona ist also mitverantwortlich für die historisch niedrigen Werte in den Jahren 2020 und 2021. Dass die Fallzahlen nach Ende dieser Einschränkungen wieder ansteigen, ist völlig klar. Psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen, die aus der Coronapandemie resultieren und diese anfälliger für Straftaten machen, spielten laut Bundeskriminalamt ebenfalls eine Rolle.
Das erklärt aber nicht alles: Denn auch im Vergleich zum Jahr 2019, also bevor die meisten von uns das Wort »Coronavirus« überhaupt kannten, hat die Kriminalität inzwischen wieder zugenommen. Hier spielt – wie auch das Bundeskriminalamt zugibt und Kriminalitätsforschende längst wissen – der Faktor »Armut« mit hinein: Die Inflation und die damit stark gestiegenen Preise für Lebensmittel und andere Konsumgüter dürfte für viele Menschen ein Anlass gewesen sein, zu »nehmen«, was man sich auf legalem Wege nicht mehr leisten kann.
Nicht umsonst lautet eine Empfehlung zur Bekämpfung von Kriminalität des BKA:
Die Prävention muss bei den sozialen Ursachen ansetzen, die sich hinter Kriminalität und Gewalt verbergen. Dazu gehören fehlende Schulabschlüsse, Perspektivlosigkeit und Kinderarmut. An guter sozial- und Bildungspolitik darf daher auch in schwierigen Zeiten nicht gespart werden.
Sichtbar wird das zum Beispiel auch an folgender Entwicklung: Der Anteil der Tatverdächtigen über 60 Jahre ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Bei den Männern dieser Altersgruppe hat er sich seit 1993 gar fast verdoppelt – liegt aber unter dem der Frauen über 60 Jahren.
Sollten wir nun Titel wie den folgenden verbreiten: »Deutschlands Senior:innen werden immer krimineller!«? Vielleicht wäre es stattdessen sinnvoller, über Altersarmut und die dringende Notwendigkeit einer
Die Zahlen hätten noch viele weitere Deutungen und Analysen in alle möglichen Richtungen zugelassen, und so bleibt unterm Strich vor allem die Erkenntnis: Kriminalität und Statistik sind – vor allem in Kombination – komplizierte Sachverhalte. Sie lassen zwar einfache Schlüsse zu, doch ein vollständiges Bild zeichnen sie in der Regel nicht.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily