40-Stunden-Woche für alle? Darum geht es in der Debatte wirklich
Nichts ist vergeblicher als Appelle an die Arbeitsmoral. Dennoch wäre es falsch, die Forderungen nach längeren Arbeitszeiten zu ignorieren. Wie sich die Diskussion wieder geraderücken lässt.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer macht sich Sorgen um die Wirtschaft, speziell um die geleisteten Arbeitsstunden. Der CDU-Politiker wünscht sich längere Arbeitszeiten, am besten die 40-Stunden-Woche für alle,
Es gibt für ihn tatsächlich gute Gründe, über die wirtschaftliche Lage beunruhigt zu sein. In Sachsen steht die AfD vor einem möglichen Wahlsieg bei der
Angesichts dieser Gefahr und der ohnehin schon langen Liste an wirtschaftlichen Problemen überrascht es, dass sich Kretschmer ausgerechnet über die Arbeitszeiten beklagt. Zahlreiche Firmen wandern aus Deutschland ab oder verlagern ihre Produktion ins Ausland, darunter Traditionsunternehmen wie Miele, Volkswagen oder Stihl. Die deutschen Firmen sorgen sich um mangelnde Aufträge, drohende Insolvenzen und hohe Zinsen. Sie beklagen überbordende Bürokratie, langsame Genehmigungsverfahren und gestrichene Förderprogramme. Sie ächzen unter den Krisenfolgen, insbesondere den hohen Energiekosten.
Der politische Handlungsbedarf liegt auf der Hand. Doch ähnlich wie seine Kollegen auf Bundesebene, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner, will Kretschmer erkannt haben, worin die größte Gefahr für unseren Wohlstand besteht: Wir arbeiten zu wenig!
Die Arbeitszeitdebatte ist am Tiefpunkt
Der Wohlstand in Deutschland lasse sich nur durch Wachstum und Vollbeschäftigung erhalten, meint Kretschmer, »das bedeutet für mich die 40-Stunden-Woche für alle.« Auch Lindner hatte erklärt, dass das aus seiner Sicht bestehende Defizit an geleisteten Arbeitsstunden pro Person das größte Risiko für die Wirtschaft darstelle.
Robert Habeck sieht ebenfalls nicht die Zeit für kürzere Arbeitszeiten gekommen. Auch er ist alarmiert. Seine glänzende Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland beim Wirtschaftswachstum
Es ist nachvollziehbar, dass Politiker:innen, die alle Hände voll damit zu tun haben, Geld für den Staatshaushalt zu finden oder einen Wahlerfolg der AfD zu verhindern, weit entfernt von der Lebensrealität der Menschen sind, die sich mit einer 4-Tage-Woche arrangiert haben.
Man könnte Kretschmers Forderungen auch einfach als unqualifizierten Meinungsbeitrag eines Politikers abtun, der im Landtagswahlkampf eigentlich genügend andere Baustellen haben müsste. Schließlich bestimmen ja nicht Regierungen, sondern Unternehmen, Tarifparteien und die Beschäftigten selbst, wie viel sie arbeiten.
Doch es steckt beim gegenwärtigen Verlauf der Diskussion mehr dahinter als der hoffnungslose Appell an die Arbeitsmoral der Menschen. Dass Kretschmer sogar das Recht auf Teilzeit infrage stellt, zeigt, dass die Arbeitszeitdebatte einen Tiefpunkt erreicht hat. Es geht längst nicht mehr nur um ein paar Stunden mehr oder weniger. Es geht um das Selbstverständnis von Politik, um falsche Fakten, um Macht- und Geschlechterverhältnisse und – auch das stimmt – um die Zukunft der deutschen Wirtschaft.
Vielleicht arbeiten wir ja gar nicht zu wenig
Der erste Grund, warum die Diskussion am Tiefpunkt ist, findet sich in der Statistik. Bekanntlich sollte man keiner Statistik trauen, die sich ein Politiker für seine Zwecke zurechtgelegt hat. »Anderswo wird deutlich mehr gearbeitet«, sagte Finanzminister Lindner mit Blick auf die durchschnittliche Wochenarbeitszeit. Es scheint, als wären Griechenland, Bulgarien, Polen und Rumänien zum Maßstab einer erfolgreichen Wirtschaft geworden. Denn in diesen Ländern herrscht die höchste Wochenarbeitszeit.
Deutschland hingegen liegt in der EU-Rangliste auf dem drittletzten Platz. Der Durchschnitt aller EU-Erwerbstätigen liegt bei 37 Wochenstunden, in Deutschland
Diese Zahlen sagen isoliert betrachtet wenig über die wirtschaftliche Produktivität eines Landes aus und erst recht nichts über die Arbeitsmoral. Würden sich die Befürworter längerer Arbeitszeiten bei ihrem Zahlenstudium etwas mehr Mühe machen, kämen sie zu folgenden Erkenntnissen:
Erstens sind in Deutschland besonders viele Frauen erwerbstätig. Da sie es sind, die den größten Anteil der privaten Sorgearbeit leisten, arbeiten sie
Deutschland hat zusätzlich eine der niedrigsten Erwerbslosenquoten und sogar die niedrigste Jugenderwerbslosenquote in ganz Europa. Hierzulande gelingt es also besser als in anderen Ländern, eine hohe Beschäftigungsrate zu erzielen. Im April lag die Erwerbslosenquote
Aber ist es nicht besser, wenn die Arbeit auf möglichst viele Schultern verteilt wird? Gerade erst ergab eine Auswertung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dass das Gesamtarbeitsvolumen, also die Summe aller jährlich gearbeiteten Stunden,
Drittens: Es kommt für den wirtschaftlichen Erfolg nicht darauf an, wie viel Zeit mit Arbeit verbracht wird, sondern was in dieser Zeit geleistet wird. Bei der Arbeitsproduktivität, also dem Bruttoinlandsprodukt je geleisteter Arbeitsstunde, liegt Deutschland
Und ein vierter Punkt, der nicht vergessen werden sollte: In Deutschland werden in massivem Umfang Überstunden geleistet, die nicht im Arbeitsvertrag stehen. Letztes Jahr haben Beschäftigte hierzulande 1,3 Milliarden Überstunden geleistet.
Das alles sollte im Blick haben, wer sich über eine niedrige Arbeitszeit beklagt. Wer kontextfrei Vergleiche zu anderen Ländern zieht und daraus einen Mangel an Arbeitswillen in der deutschen Bevölkerung ableitet, bedient sich eines politischen Mittels, das leider immer beliebter wird: der Argumentation mit falschen Fakten.
Was war noch mal genau die Aufgabe von Politik?
Der zweite (und dritte) Grund für einen tieferen Blick in den aktuellen Diskurs sind die Annahmen, die ihm zugrunde liegen. Die zahlreichen, meist wirtschaftsnahen Stimmen wollen den Menschen nicht nur einreden, dass sie zu faul sind, um ein Leben in Wohlstand zu verdienen. Sie wollen ihnen auch weismachen, dass Erwerbsarbeit der Sinn und Zweck eines Menschenlebens ist.
Das scheinen die meisten Menschen aber anders zu sehen. Sie wollen kein Wirtschaftswachstum um den Preis des Ausbrennens von Mensch und Natur. Sie wollen ein gutes Leben, und ein gutes Leben entsteht nicht aus maximaler erwerbsmäßiger Leistungsbereitschaft. Der Wunsch nach mehr freier Zeit ist verbreitet, aber keine neue Entwicklung. Seit Beginn der 2010er-Jahre sinkt die gewünschte Arbeitszeit kontinuierlich. Im Schnitt würden Beschäftigte hierzulande ihre Arbeitszeit
Offenbar sind viele Politiker:innen der Ansicht, dass sie die Arbeitszeitwünsche einfach ignorieren können. Anders lässt sich jedenfalls nicht erklären, warum sie so intensiv an die Arbeitsmoral appellieren: Wir befinden uns in Krisenzeiten, deshalb müssen alle mehr leisten! Die Bevölkerung scheint aber anders auf die Krisenzeit reagieren zu wollen. Ihr geht es nicht nur um die Frage, wie viel geleistet wird, sondern was überhaupt geleistet wird und zu welchem Preis.
Abgesehen von den Klimaschäden der gegenwärtigen Wirtschaftsproduktion sind auch die Kosten für die unmittelbare Gesundheit der Menschen zu groß geworden: 2023 wurde
Unweigerlich stellen sich da ein paar Fragen: Was war noch mal die Aufgabe von Politik? Sollte es nicht ihr Ziel sein, Menschen ein gutes, gesundes Leben zu ermöglichen? Wie entfremdet von der Bevölkerung muss eine Regierung sein, wenn sie die Wünsche, Bedürfnisse und Lebenssituationen der Menschen ignoriert? Welches Selbstverständnis haben Politiker:innen, die sich über diese Wünsche hinwegsetzen?
Weite Teile der Wirtschaft sind schon deutlich weiter als die Politik – was nicht überrascht. Unternehmen befinden sich in einem harten Wettkampf um Fachkräfte. Das bedeutet unter anderem, dass ihnen kaum eine Wahl bleibt, als kürzere Arbeitszeiten anzubieten. Nicht wenige erkennen auch die Vorteile neuer Arbeitszeitmodelle.
Tatsächlich ist es ein Glücksfall, dass gerade jetzt so viele Unternehmen, etwa im Zuge der 4-Tage-Woche, aufzeigen, wie wir gesünder und effizienter arbeiten könnten, ohne Produktivität und Umsatz zu verlieren. Noch immer gehören Präsenzkultur, ständige Ablenkungen und unstrukturierte Meetings zum Alltag vieler Betriebe. Nichts davon steigert das Bruttoinlandsprodukt.
Es sind die Unternehmen mit reduzierten Arbeitszeiten, die zeigen, wie es auch anders gehen könnte. Das bedeutet nicht, dass alle Wirtschaftsorganisationen demnächst die 4-Tage-Woche einführen müssen. Aber das verlangt ja auch niemand. Nicht einmal die Organisator:innen des ersten deutschlandweiten Pilotversuchs zur
Die 4-Tage-Woche liefert zahlreiche Belege dafür, dass Arbeitszeitverkürzung eines der wirksamsten Mittel ist, um die Produktivität und Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Denn die Firmen, die ihre Arbeitszeit verkürzen, streichen nicht nur ein paar Stunden. Nein, sie verändern ihre Arbeitsbedingungen gezielt so, dass Beschäftigte effektiver, zufriedener und gesünder arbeiten können. Das wirkt sich positiv auf die Leistung aus und sichert Beschäftigung – ganz im Sinne von Kretschmer, Habeck und Lindner.
Hier könnte die Debatte ansetzen und nach Wegen suchen, wie sich die Wünsche der Arbeitnehmenden, die Realität der Unternehmen und die Ziele der Volkswirtschaft vereinbaren lassen. Doch stattdessen verliert sie sich in Mutmaßungen über Faulheit und Arbeitsverweigerung, die komplett haltlos sind.
Das letzte Aufbäumen des Patriarchats gegen die 4-Tage-Woche
Das dritte Problem, das in den jüngsten Äußerungen von Michael Kretschmer liegt, ist das, was er nicht sagt, aber meint, wenn er Teilzeitarbeit zurückdrängen will. Wie gesagt, verlangt er in dem Handelsblatt-Interview die 40-Stunden-Woche für alle. »Es war ein Fehler, dass wir Möglichkeiten wie die Teilzeit von der Ausnahme zur rechtlich abgesicherten Regel erklärt haben. Teilzeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. Nur so ist der Wohlstand Deutschlands zu erhalten«, meint Kretschmer.
Ich bin mir nicht sicher, ob er sich darüber im Klaren ist, was die Abschaffung des Rechts auf Teilzeit genau bedeuten würde. Vermutlich würde es dazu führen, dass Beschäftigte dann eben zu Arbeitgebern wechseln, die Teilzeit möglich machen. Oder sie arbeiten gar nicht mehr, wie etwa im Fall älterer Beschäftigter, die das Pensum einer 40-Stunden-Woche nicht mehr schaffen oder nicht mehr schaffen wollen. Das Ende der Teilzeit würde einen immensen Einbruch des Arbeitskräftepotenzials nach sich ziehen.
Wahrscheinlich weiß Kretschmer das selbst. Deshalb geht es ihm möglicherweise eher um eine Botschaft. Da vor allem Frauen in Teilzeit arbeiten, dürften sie auch die Adressatinnen seiner Forderung sein.
Michael Kretschmer kann den Müttern kein flächendeckendes Betreuungssystem für ihre Kinder anbieten. Gleichwohl erwartet er von ihnen, dass sie die Zeit für Sorgearbeit weiter zurückschrauben, um mehr Erwerbsarbeit leisten zu können. So, als wäre das nichts, Kinder zu betreuen. Als würde es die Bedürfnisse der Kinder oder der zu pflegenden Angehörigen überhaupt nicht geben und als könnte man die Zeit für die intensive körperliche, emotionale und gedankliche Sorgearbeit einfach immer weiter reduzieren. Diese ohnehin ungenügend anerkannte Form der Arbeit erfährt gerade durch Politiker wie Kretschmer und Lindner eine weitere inakzeptable Abwertung.
Genau das ist der Grund, warum man ein solches Interview, wie es der sächsische Ministerpräsident gegeben hat, nicht ignorieren sollte. Man muss mindestens genauso oft auf die Mechanismen hinweisen, mit denen versucht wird, die Lebensleistung der betreuenden und pflegenden Menschen zu entwerten.
Für Teile der Politik und Wirtschaft ist es offenbar schwer zu ertragen, dass Menschen und sogar Unternehmen erkennen, dass Arbeit und Leistung nicht an erster Stelle stehen. Die sich derzeit häufenden Forderungen nach längeren Arbeitszeiten wirken wie der letzte und wohl vergebliche Versuch, den Vorrang der Wirtschaft vor den Zeitbedürfnissen der Menschen zu retten. Die Idee, dass gute, gesunde und kürzere Arbeitszeiten letztlich allen dienen könnten, kommt ihnen überhaupt nicht.
Es ist Zeit, der Debatte mehr Tiefe zu geben. Die falsch interpretierten Statistiken, das Festhalten an Rollenbildern und die regelrechten Beschimpfungen der arbeitenden Bevölkerung tragen nichts zu einer konstruktiven Debatte bei. Nicht einmal der Konjunktur ist damit gedient.
Der einzige Sinn, der in der Forderung nach längeren Arbeitszeiten liegt, ist die Erinnerung daran, dass Zeit eine Frage von Macht ist. Wer sich mehr freie Zeit wünscht, muss sich dafür einsetzen. Immer mehr Menschen sind dazu bereit.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily