Die schlechte Nachricht: Sie muss nicht einmal regieren, um den Rechtsstaat in ihrem Sinne zu verändern. Die gute: Prävention ist möglich. Das »Thüringen-Projekt« zeigt, wie diese aussehen könnte.
Sachsen, Brandenburg, Thüringen. In diesen 3 ostdeutschen Bundesländern wird im Herbst eine neue Regierung gewählt – und in allen liegt die AfD aktuell
Zeit, sich die Frage zu stellen: Was wäre, wenn? Wenn die AfD tatsächlich Regierungsmacht erlangt oder künftig die stärkste Fraktion in einem der Landtage stellt?
In Ungarn, Polen und anderen Ländern haben autoritär-populistische Parteien an der Regierung gezeigt, wie sich Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen lassen. Nicht mit einem radikalen Umsturz, sondern ganz legal, Schritt für Schritt.
Auf solche Szenarien müssen wir uns auch in Deutschland vorbereiten, dachte sich ein Team von Jurist:innen und startete das »Thüringen-Projekt«.
Am Beispiel Thüringen haben sie erforscht, welche Spielräume eine Partei wie die AfD auf Landesebene hätte, um ihre Macht zum Schaden der Demokratie einzusetzen. Damit es nicht so weit kommt, hat das Team 9 Handlungsempfehlungen erarbeitet, die den Rechtsstaat »wetterfester« machen könnten.
Juliana Talg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thüringen-Projekt und erklärt im Interview, was ein resilientes System ausmacht, warum Volksbefragungen nicht immer eine gute Idee sind und wer am Ende wirklich die Demokratie retten kann.
Katharina Wiegmann:
Wie könnte es Thüringen verändern, wenn nach den Landtagswahlen eine autoritär-populistische Partei regiert?
Juliana Talg:
Regierungsmacht heißt: Man kann Gesetze anpassen. Man kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen ansetzen und letztlich den Staat umbauen, wie wir es in Ungarn oder Polen gesehen haben.
Das funktioniert vor allem dann, wenn die Regierungspartei im Parlament die absolute Mehrheit hat. Nach den aktuellen Umfragen ist es nicht wahrscheinlich, dass die AfD Regierungsverantwortung bekommt, weil sie dafür ja entweder diese absolute Mehrheit oder einen Koalitionspartner bräuchte. Den Rechtsstaat könnte sie dennoch beschädigen.
Ihr habt im Rahmen des Handlungsempfehlungen erarbeitet, mit denen man – quasi präventiv – die rechtsstaatliche Resilienz stärken könnte. Wie sieht ein »resilienter Rechtsstaat« aus?
Juliana Talg:
Das institutionelle Setting ist umso resilienter, je schwerer es ist, dieses umzubauen.
Es ist wichtig, dass es Institutionen gibt, die eine ausgewogene Machtverteilung und Gewaltenteilung garantieren; die dafür sorgen, dass der Rechtsstaat funktioniert und die Justiz unabhängig ist. In einem demokratischen Rechtsstaat kann man das allerdings nie zu 100% gewährleisten.
Warum nicht?
Juliana Talg:
Erhalten autoritär-populistische Parteien eine Mehrheit im Parlament, können sie Gesetze ändern und damit auch das institutionelle Setting. Besonders wichtige Entscheidungen können deshalb nur mit 2/3-Mehrheit getroffen werden. In Thüringen gilt das zum Beispiel für die Wahl der parlamentarischen Mitglieder des Richterwahlausschusses, der zustimmen muss, wenn Richterinnen und Richter auf Lebenszeit ernannt werden.
Die Kehrseite solcher erhöhten Mehrheitserfordernisse ist die sogenannte Sperrminorität. Wenn für bestimmte wichtige Entscheidungen eine 2/3-Mehrheit erforderlich ist, heißt das auch, dass sie nicht mehr getroffen werden kann, wenn eine Minderheit von etwas mehr als 1/3 der Stimmen dagegen ist.
Erreicht eine autoritär-populistische Partei eine solche Sperrminorität, kann sie also bereits aus einer Minderheitsposition heraus sehr viel Macht ausüben, indem sie Entscheidungen blockiert und damit den Betrieb lahmlegt. Oder diese Blockademöglichkeit als Druck- und Erpressungsmittel einsetzt, um an anderer Stelle eigene Positionen durchzusetzen.
Wie könnte man dem vorbeugen?
Juliana Talg:
Im Moment wird viel diskutiert, wie man damit umgeht. Ein resilientes institutionelles Setting sieht Mechanismen vor, die diese Sperrminorität umgehen und eine Blockade lösen können. Solche Mechanismen müssen aber gut durchdacht sein und sind nicht in allen Fällen ratsam.
Weil Missbrauchsgefahr besteht?
Juliana Talg:
Genau. Setzt man zum Beispiel die Mehrheit für die Änderung der Verfassung herunter, bedeutet das, dass es künftig einfacher ist, die Verfassung zu ändern – auch für eine autoritär-populistische Partei, wenn sie die nötige Mehrheit erreicht.
Bei der Wahl von Verfassungsrichterinnen und -richtern halten wir es dagegen für sinnvoll, einen Ersatzwahlmechanismus einzuführen,
Das Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?
In Thüringen kann der Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin den Staatsvertrag mit dem MDR kündigen – womit einige Vielleicht könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner jetzigen Form dort dann nicht mehr senden. Wie kann man ein solches Szenario vermeiden?
Juliana Talg:
Eine Besonderheit in Thüringen ist, dass der Ministerpräsident allein die Kompetenz hat, Staatsverträge zu kündigen. Er müsste nicht einmal die Regierung als Kollegialorgan beteiligen – und auch nicht den Landtag, weil in der Verfassung nur die Zustimmung des Landtags zum Abschluss solcher Staatsverträge vorgesehen ist.
Wir schlagen also vor, dass auch die Kündigung von Staatsverträgen nur mit Zustimmung des Landtags möglich ist.
Gäbe es tatsächlich einen Ministerpräsidenten Höcke, hätte der doch auch eine entsprechende Mehrheit im Parlament, die dieser Kündigung zustimmen würde …
Juliana Talg:
Das Ergebnis wäre wohl dasselbe. Aber es macht einen Unterschied, ob eine solche Maßnahme durch den Landtag geht und damit noch mal dem parlamentarischen Prozess ausgesetzt wird – weil das Öffentlichkeit und Transparenz bedeutet. Es bedeutet, dass darüber diskutiert wird, dass sich die Zivilgesellschaft zu Wort melden und entsprechend Druck ausüben kann. Wenn der Ministerpräsident als erste Amtshandlung den öffentlich-rechtlichen Sendebetrieb mit einem Federstrich beendet, dann findet dieser Diskurs nicht statt.
Eine weitere Handlungsempfehlung für einen resilienteren Rechtsstaat klingt erst mal paradox: Ihr empfehlt, »konsultative Volksbefragungen« verfassungsrechtlich auszuschließen. Ist es denn nicht gut, die Bürger:innen nach ihrer Meinung zu fragen?
Juliana Talg:
Man muss da differenzieren: Es gibt Instrumente der direkten Demokratie, die auf Landesebene vielfach vorgesehen sind, so auch in Thüringen.
Bürgerinnen und Bürger können von unten mit konkreten Gesetzesvorhaben ans Parlament herantreten. Wenn sie relativ hohe Hürden nehmen, gibt es sogar die Möglichkeit der Volksgesetzgebung. Auch mit kann man sich beteiligen.
Konsultative Volksbefragungen sind aber keine Instrumente der direkten Demokratie, sondern ein Instrument der Regierung, das von oben kommt. Und wir haben schon vielfach gesehen, wie dieses Mittel missbraucht wurde.
Wie genau?
Juliana Talg:
Viktor Orbán hat in Ungarn von diesen Befragungen schon häufig Gebrauch gemacht. Als Regierung formuliert man seine Frage so, wie es am besten passt. Die Formulierung kann sehr suggestiv und vereinfacht sein, da kommt das populistische Element ins Spiel. Fällt das Ergebnis der Befragung entsprechend aus, kann man damit seine Politik legitimieren.
Gleichzeitig ist das Ergebnis aber nicht bindend. Wenn etwas schiefgeht und man als Regierung doch nicht seinen Willen bekommt, setzt man sich einfach darüber hinweg, auch wenn man dann natürlich ein kleines Kommunikationsproblem hat. Konsultative Volksbefragungen sind ein Instrument, das nur der Regierung nützt.
Ihr empfehlt, bestimmte Positionen wie den Polizei- oder den Verfassungsschutzpräsidenten aus der Liste »politischer Beamter« zu streichen. Wieso?
Juliana Talg:
Politische Beamte bleiben nicht wie normale Beamte auf Lebenszeit im Amt, sondern können theoretisch jederzeit ohne Angabe von Gründen entlassen werden. Dahinter steckt die Idee, dass diese Positionen eine Art Scharnier zwischen Beamtenapparat und der Politik darstellen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Staatssekretäre und Staatssekretärinnen.
In Thüringen ist die Liste politischer Beamter vergleichsweise lang. Unter anderem stehen darauf die Präsidenten von Polizei und Verfassungsschutz. Bei diesen beiden Behörden ist das eigentlich nicht angebracht.
Warum nicht?
Juliana Talg:
Weil sie keiner Regierung nach dem Mund reden, sondern vor allem an Recht und Gesetz gebunden sein sollten. Entsprechend neutral müssen diese Positionen ausgeübt werden.
Zurzeit ist es so, dass diese Personen nach einem Regierungswechsel ausgetauscht werden und dann ihr Amt entsprechend der Parteilinie gestalten können. Und das in hierarchischen Behörden, in denen vieles ohnehin nicht super transparent ist! Gerade beim Verfassungsschutz ist es ja ein Kennzeichen, dass die Arbeit nicht immer für alle einsehbar ist.
Im Sinne der rechtsstaatlichen Resilienz wäre es, wenn der Chef einer solchen Behörde sich rechtswidrigen Weisungen entsprechend entgegenstellen und ein Gegengewicht bilden könnte. Wenn er einfach entlassen werden kann, ist das nicht mehr der Fall.
»Eine wasserdichte Verfassung gibt es nicht«
Gibt es auch auf Bundesebene Möglichkeiten, die Institutionen »demokratiefester« zu machen?
Juliana Talg:
Aktuell gibt es eine Debatte um die Absicherung des Bundesverfassungsgerichts. Hier haben wir bei der Richterwahl auch das Problem einer Blockademöglichkeit durch eine Sperrminorität. Das sollte man angehen.
Wir haben uns die Bundesebene aber nicht im Detail angeschaut, sondern uns mit Thüringen ein Land herausgepickt, in dem durch die Landtagswahlen und die Stärke der AfD eine Aktualität gegeben ist. Die AfD ist eine autoritär-populistische Partei und sie droht, die stärkste Fraktion zu werden. Eventuell mit einer Sperrminorität, im allerschlimmsten Fall sogar mit einer Mehrheit.
Auf Bundesebene wäre es ebenso wichtig, sich auf solche Szenarien vorzubereiten.
Müssen wir Entwicklungen wie in Polen und Ungarn fürchten?
Juliana Talg:
Oft wird gesagt, dass man Entwicklungen wie in Polen und Ungarn bei uns nicht befürchten muss, weil wir das Grundgesetz haben, das eine stabile Ordnung schafft. Ich würde es auch nicht schlechtreden wollen, aber man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass es eine wasserdichte Verfassung gibt.
Es gibt sicherlich auch auf Bundesebene Möglichkeiten, das System etwas resilienter zu gestalten. Ein perfektes Ergebnis wird man aber nie haben. Denn am Ende liegt es nicht am Recht, sondern an den Menschen und daran, inwiefern sie bereit sind, die Demokratie auch zu verteidigen und dafür einzustehen.
In Ländern wie Polen, Ungarn oder der Slowakei waren oder sind autoritär-populistische Parteien an der Regierung beteiligt. Welche Lehren kann man daraus ziehen?
Juliana Talg:
Eigentlich ist das ganze Thüringen-Projekt eine Lehre aus diesen Erfahrungen. Was autoritären Populismus ausmacht, ist die schrittweise Änderung der Institutionen mit den Mitteln des Rechts. Grundsätzlich ist dieser Weg der des geringsten Widerstands. Man baut den Staat einfach Schritt für Schritt zu einem autoritären System um, das fällt weniger auf.
Es ist sinnvoll, sich diese einzelnen Schritte, die für sich genommen erst mal nicht so problematisch wirken, genau anzuschauen und dann bekannt zu machen. Dann nimmt die Zivilgesellschaft diese Veränderungen nicht einfach so hin, sondern hinterfragt sie und sieht die Gesamtstrategie dahinter.
Auch in Israel hat die Regierung versucht, mit einer Justizreform den Rechtsstaat auszuhöhlen …
Juliana Talg:
Die Diskussion um die Justizreform in Israel ist ein positives Beispiel. Da gab es die Leute sind auf die Straße gegangen und das hat dazu geführt, dass diese Reform jetzt erst mal nicht umgesetzt wird. Der Druck von der Straße war extrem wichtig und die Mobilisierung hat auch deshalb so gut funktioniert, weil Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genau das gemacht haben, was wir jetzt versuchen: Sie haben den Leuten erklärt, was es mit der Reform auf sich hat. Warum sie ein Problem für die Demokratie und für den Rechtsstaat ist.
Wenn man den Zuschnitt der Institutionen mit Blick auf eine bestimmte Ideologie verändert – macht man damit nicht genau das, wovon man die anderen abhalten will?
Juliana Talg:
Demokratinnen und Demokraten müssen sich bei Gesetzesänderungen, insbesondere bei Verfassungsänderungen, sehr genau überlegen, ob diese aus allen Richtungen rechtfertigbar sind. Dafür ist eine Kontrollüberlegung hilfreich: Würde man eine Regelung unabhängig von einer autoritär-populistischen Partei, die an Kraft gewinnt, für sinnvoll halten?
Man muss sehr vorsichtig sein, wenn es an rechtliche Änderungen geht. Ein System sollte daraufhin geprüft werden, ob und wie man es resilienter machen kann. Aber natürlich besteht die Gefahr, dass man mit Blick auf aktuelle Umfrageergebnisse überstürzt handelt und Regelungen anpasst. Das ist nicht der Sinn der Sache.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.