Warum Deutsche starren – und wie du ihre Blicke besser verstehst
Wurdest du schon mal angestarrt? Nach diesem Text durchschaust du die Welt der Blicke – und warum Deutsche vielleicht anders dreinschauen.
»Das kommt jetzt blöd rüber und ich will echt nicht unhöflich sein«, sagt eine Frau, die mir am Tisch gegenübersitzt, »aber warum starrst du mich so an?«
Sofort tritt mir Schamesröte ins Gesicht. Habe ich sie angestarrt? Oh ja, das kann sein. Ich habe ihr gedankenverloren beim Essen zugeschaut, während mein Reis in der Hostelküche noch vor sich hin köchelt. Die Japanerin schmunzelt: »Du bist Deutsche, nicht wahr?« Ich bejahe und entschuldige mich für mein unangenehmes Verhalten. »Kein Problem, dann war das wohl der berüchtigte German Stare«.
Bitte, was? »Das deutsche Starren?« Bevor ich nachfragen kann, was sie damit meint, sind alle internationalen Reisenden in der Hostelküche mit an Bord und ein lebhaftes Gespräch entspinnt sich. »Meine deutsche Freundin macht das auch«, »Ich war mal in Deutschland, da haben einen alle so lange angeguckt, selbst beim Sprechen!«, »Ja, und die älteren Menschen stehen am Fenster und beobachten dich«. Die meisten erzählen davon, wie sie die langen Blicke oft als unangenehm empfanden oder sie nicht richtig einzuordnen wussten. Die Gäste des Hostels sind sich einig: Starren, das können die Deutschen besonders gut!
Wieder zu Hause in Deutschland suche ich nach Antworten. Zuvor hatte ich noch nie vom Vorurteil der starrenden Deutschen gehört. Eine kurze Internet-Suche und – tatsächlich: »Wieso glotzen die Deutschen so?« ist eine häufig gesuchte Frage im Internet.
Mustern Deutsche ihre Mitmenschen in der Öffentlichkeit wirklich länger als Bürger:innen anderer Nationen? Ab wann wird ein Blick zum Starren? Warum verunsichern uns lange Blicke? Und wie gehen wir mit unangenehmen Starrsituationen am besten um?
Schau her! So wichtig sind Blicke für uns
»Ich bin auch eine fürchterliche Starrerin und wurde schon öfters dabei erwischt«, schmunzelt Anne Böckler-Raettig im Videogespräch, nachdem ich ihr meine Geschichte erzähle. Die Psychologin unterrichtet und forscht zu den Grundlagen sozialen Verstehens und Verhaltens an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seit 2017 leitet sie dort eine Forschungsgruppe, die in einem internationalen Projekt die Mechanismen und Funktionen von menschlichem Blickkontakt untersucht.
Ein Blick ist an sich erst mal nahezu bedeutungslos. Es ist nur ein weißer Kreis mit etwas Farbe drin und einem schwarzen Punkt. Aber im sozialen Miteinander geben wir ihnen Bedeutung und machen sie so zu einem wichtigen Signal für unsere Kommunikation.
Im Alltag orientieren sich Menschen maßgeblich an den Blicken anderer, wie die Forschung zeigt. Wir beobachten, ob wir angeschaut werden und wohin andere Menschen ihren Blick schweifen lassen. Für den Job des Umherschauens sind unsere Augen bestens aufgebaut. Im Vergleich zu anderen Tieren hat das menschliche Auge
Dieses Verhalten, Blicke zu suchen und ihnen zu folgen, ist uns angeboren.
Dieses Training sorgt dafür, dass wir uns später im subtilen Signaldschungel der nonverbalen Kommunikation zurechtfinden. Sogar ganze Gespräche können wir mit unseren Augen strukturieren: Wir signalisieren Gesprächspartner:innen, ob wir aufmerksam zuhören, das Gesagte verstehen, was wir davon halten, ob etwas ernst oder scherzhaft gemeint ist, und übergeben einander mit einem kurzen Blickkontakt das Wort. Doch ein Blick kommt niemals allein.
Um Botschaften zu senden oder sie von anderen zu entziffern, brauchen wir Kontext: Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Tonlage, was vorher passiert ist oder wie lange eine Person guckt. Deutlich machen das Studien, bei denen Menschen Bilder von bestimmten Gesichtsausdrücken ohne Kontext gezeigt werden.
»Blicke sind wichtig, aber natürlich können wir auch ohne sie kommunizieren«, sagt Böckler-Raettig. Sind Menschen blind oder können ihr Gegenüber nicht gut sehen – etwa beim Telefonieren,
Ist ein Blick wirklich so beabsichtigt, wie er bei dir ankommt?
Auch nehmen wir Blicke nicht unbedingt so auf, wie es der Absender beabsichtigt. Wie wir eine Situation »lesen«, hängt davon ab, welche sozialen Signale wir beim Aufwachsen gelernt haben und wie wir uns in dem Moment fühlen. Dennoch komme es im Verhältnis dazu, wie oft wir ambivalente oder subtile Informationen interpretierten, nur selten zu Missverständnissen, erklärt Böckler-Raettig.
Denn auch wenn jede Person etwas anders spricht und schaut, nehmen wir die Information, die transportiert wird, meist richtig auf: »Menschen sind sehr gut darin, die sozialen Informationen zu extrahieren, auf die es ankommt.«
Eines ist jedoch so gut wie bei jedem Menschen gleich: die körperliche Reaktion, die Blicke in uns auslösen.
Schau mich an! Was Blicke in uns auslösen
Vielleicht kennst du Situationen, in denen sich dein Blick unerwartet mit dem einer anderen Person kreuzt?
Das hat oft etwas Intimes. Manchmal fühlt es sich so an, als ob die Zeit stillstünde – wie in einem Film. Das kommt nicht von ungefähr.
Blickkontakte haben eine Signalwirkung. Sie aktivieren uns, machen uns aufmerksam. Sie können unser Herz schneller schlagen lassen und stimmen uns auf die Verarbeitung sozialer Information ein.
Schau weg! Dann wird ein Blick unangenehm
3,3 Sekunden – ab dieser Dauer gilt ein Blickkontakt durchschnittlich als unangenehm.
Die Teilnehmenden haben sich Videos von Menschen angeschaut, die ihren Blick wie in einem Gespräch eine Weile auf ihnen ruhen ließen und dann wieder woanders hinschauten. Sie haben per Knopfdruck rückgemeldet, ob ihnen der Blickkontakt »zu wenig« oder »zu viel« war. Keine:r der Teilnehmenden mochte übrigens einen Blickkontakt, der länger als 9 Sekunden aufrecht erhalten wurde.
Die 3 Sekunden können als Richtwert verstanden werden, sind jedoch nicht allgemeingültig. Ab wann ein Blick zum Starren wird, also zu einem unangenehmen Erlebnis, ist individuell und kontextabhängig: »Ein langer Blick von dem Partner oder der Partnerin kann ein schönes, verbindendes Erlebnis sein. Wohingegen sich der gleiche Blick einer fremden Person bedrohlich und übergriffig anfühlen kann«, sagt Böckler-Raettig.
In einem Gespräch würden die meisten Menschen nicht länger als 2–3 Sekunden Blickkontakt halten, bevor sie wieder wegschauten. Denn obwohl direkter Blickkontakt in Gesprächen Aufmerksamkeit und Vertrauenswürdigkeit signalisiert, ist unser Gehirn mit der Informationsflut, die es aufnimmt, auch schnell überfordert –
Schau dich um! Ist Starren »typisch deutsch«?
Ob der German Stare eine selbsterfüllende Prophezeiung ist oder tatsächlich »typisch deutsch«, muss wohl jede:r für sich entscheiden. Es gibt keine Forschung zum Phänomen. »Etwas kann durchaus dran sein«, findet Böckler-Raettig. Sie wäre auch nicht überrascht, wenn Menschen bereits versucht hätten, das Phänomen zu untersuchen, jedoch ohne Erfolg. Denn es sei schwer, eine so subtile Kommunikation, die von vielen Variablen abhänge, im Labor zu untersuchen. Menschen verhielten sich in Versuchslaboren oft anders als in einer spontanen Alltagssituation.
Was ist überhaupt »typisch deutsch«?
Es lassen sich aber durchaus Unterschiede in Blickverhalten und -wahrnehmung zwischen verschiedenen Kulturen feststellen.
Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, doch interessant: So bewerteten finnische Teilnehmende Blicke anderer Finn:innen, auch wenn diese leicht abgewandt waren, als auf sich gerichtet. Bei den japanischen Gesichtern machten sie es nicht. Die Japaner:innen machten es generell nicht. Dies begründen die Studienautor:innen damit, dass Menschen aus dem Westen in ihrem Alltag mehr Blickkontakt haben als in Japan, wo dies als respektlos gilt. Das könnte dazu führen, dass Menschen in Finnland verschiedene Blicke leichter wahrnehmen und letztlich Blicke ihrer eigenen kulturellen Kreise besser interpretieren können.
Schau zurück! Was du gegen unangenehme Blicke tun kannst
Unsere Augen haben sich so entwickelt, dass es für uns relativ einfach herauszufinden ist, wohin ein Mensch schaut, selbst wenn wir diesen nicht direkt anblicken. Damit können wir Starrer:innen ziemlich gut auf die Schliche kommen. Doch gerade wenn wir uns unsicher fühlen, es dunkel ist oder wir innerlich aufgewühlt sind,
Manchmal spüren Menschen Blicke auf sich, selbst wenn sich die scheinbar starrende Person nicht in ihrem Sichtfeld befindet.
Wenn wir uns in einer unangenehmen Situation befinden, in der wir angestarrt werden, gibt es verschiedene Optionen, damit umzugehen:
Manchmal ist Zurückstarren eine Option, zum Beispiel wenn dem Gegenüber ihr Starren gar nicht richtig bewusst war. Oder man schützt sich, indem man die Person aktiv aus dem Sichtfeld entfernt, sich also wegdreht. In wirklich ambivalenten Situationen brauchen wir aber eigentlich einen direkteren Kommunikationsweg: reden. Den Menschen darauf ansprechen und fragen: Wieso starrst du mich so an? Oder: Kennen wir uns?
Natürlich gibt es auch Situationen, in denen Menschen auf keinen Fall Kontakt mit der starrenden Person aufnehmen wollen. Denn starrende Blicke sind nicht immer harmloser Natur. Sie werden auch dazu eingesetzt, um Menschen gezielt zu sexualisieren, zu erniedrigen oder Machtverhältnisse aufzubauen. Viele Frauen, Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund sind solchen Blicken in der Öffentlichkeit täglich ausgesetzt. Es hilft, Menschen, die augenscheinlich in Bedrängnis sind, eine alltägliche Frage zu stellen, um zu sehen, ob sie Hilfe brauchen und diese annehmen wollen.
Meine Starrsituation in der Küche hat sich am Ende zum Glück sehr schön aufgelöst. Indem die Frau mich auf mein Starren ansprach, hat sich ein buntes Gespräch entfaltet, das den gesamten Abend eingenommen hat. Nach dem Essen fanden wir auch gleich ein passendes Spiel: Wer kann am längsten starren, ohne zu zwinkern? Ich war es nicht. Sondern die Japanerin.
Titelbild: Nina Cvijovic | Unsplash - CC0 1.0