Wenn du später unglücklich im Heim sitzt, liegt es vielleicht an dieser Geschichte
Vor 6 Jahren berichtete ich über ein innovatives Pflegeprojekt aus Münster, das alles besser machen wollte. Heute erzähle ich dir, warum es gescheitert ist und was wir daraus lernen können.
Würdest du deinen Lebensabend lieber im Pflegeheim oder in deinen eigenen 4 Wänden verbringen?
Kaum jemand, der sich nicht für Option 2 entscheiden würde. Denn Besuche im Altenheim hinterlassen oft einen bleibenden Eindruck: die gleichförmigen Gänge, der Geruch von abgestandener Luft und Desinfektionsmitteln – und das erleichternde Gefühl, wieder nach Hause gehen zu können.
Schnell verdrängen wir den Gedanken, dass wir eines Tages nicht mehr Besucher:in, sondern Bewohner:in sein könnten. Dabei ist es für viele Menschen nur ein frommer Wunsch, zu Hause alt werden und dabei lange selbstständig bleiben zu können.
Gerade in Zeiten des Pflegenotstands ist diese Möglichkeit zunehmend unrealistisch. Wer nicht das Privileg hat, sich auf ein stabiles Netz aus Freund:innen und Familie verlassen zu können, ist auf die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes angewiesen. Doch die Zahl der Menschen, die diesen Job übernehmen wollen, sinkt seit Jahren beständig: Pflegekräfte sind knapp, frustriert von Bürokratie, Zeitdruck und schwierigen Arbeitsbedingungen. Bis 2034 fehlen voraussichtlich 500.000 Mitarbeitende in der Pflege.
Dabei wächst die Zahl der Menschen, die auf externe Hilfe angewiesen sind, unaufhaltsam an. Vor allem weil die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in der Alterspyramide weiter nach oben rücken.
Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt rasant
Das Diagramm zeigt die Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland in Millionen. Über 80% von ihnen werden zu Hause versorgt. Hinweis: Ein Sondereffekt liegt seit 2017 mit der Einführung des neuen, weiter gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor. Dies führte zu einem überdurchschnittlichen Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen.
Falls du jetzt denkst: »Was geht mich das an? Ich bin jung und meine Eltern fit wie ein paar nagelneue Turnschuhe!«, wirst du wahrscheinlich bald eines Besseren belehrt. Denn selbst wer die eigene Zukunft konsequent ausblendet, wird im Hier und Jetzt die Kosten dieser Entwicklung mittragen müssen – und zwar über den Lohnzettel. Denn der Beitrag für die Pflegeversicherung wird steigen,
Verdrängung ist keine Option.
So riesig der Veränderungsdruck auch ist, so rat- und ideenlos wirken die politischen Verantwortlichen – und das seit Jahren.
Der »Sandwich-Effekt«
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach angesichts dieser Lage zuletzt von einem »Sandwich-Effekt«. »Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden«, sagte er. Erstmals seien 2 Generationen gleichzeitig auf Pflege angewiesen: »Die Babyboomer und deren Eltern.«
Doch dann kam
Knapp 7 Jahre ist es her, dass ich auf die ersten Gehversuche des Konzepts in Deutschland gestoßen bin – ein hoffnungsvolles Pilotprojekt und vielleicht genau die Lösung, die die Pflege hierzulande braucht.
Heute ist vom Enthusiasmus und der Idee niederländischer Pflegekunst nicht mehr viel übrig – zumindest auf den ersten Blick. Doch nicht so vorschnell!
Ein Schritt nach dem anderen: In diesem ersten Teil erfährst du, wie Buurtzorg überhaupt funktioniert, woran es bei der Umsetzung in Deutschland gehakt hat – und welche wertvollen Lehren wir daraus ziehen können. Im zweiten Teil, der morgen erscheinen wird, erfährst du dann am Beispiel von einem weiterhin aktiven Team, was die Pflege hierzulande trotz der ersten Ernüchterung von Buurtzorg lernen kann.
So funktioniert Buurtzorg – der Zungenbrecher, der Pflege besser, menschlicher und günstiger macht
Die Revolution der Altenpflege in den Niederlanden nahm 2006 in Enschede ihren Anfang: Jos de Blok, Gründer von Buurtzorg und selbst Pfleger, begann mit einem Team von 4 Mitarbeiter:innen, Menschen in ihrem Zuhause zu versorgen. Das Besondere: Das Buurtzorg-Team bot nur eine einzige Leistung an – Pflege.
Nicht im Angebot waren hingegen technisch klingende Module wie »Teilwaschen«, »Überwachung von Ausscheidungen« oder »körper- und situationsgerechtes Lagern / Betten«. In Deutschland hingegen legt jedes einzelne Bundesland Dutzende solcher Leistungskomplexe fest, die dann am Ende von den jeweiligen Pflegediensten wie auf einem Kassenbon
Jos de Blok setzte mit seinem vereinfachten Modell ein Ausrufezeichen gegen durchbürokratisierte Pflegesysteme. Einmal »kleine Körperpflege« für 21,56 Euro plus »einfache Hilfe bei der Nahrungsaufnahme« für 7,59 Euro und das möglichst zackig, um die nächsten Leistungen beim Nachbarn abrechnen zu können – das gibt es bei Buurtzorg nicht.
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De Bloks Ansatz war radikal anders: Kein Unternehmen, sondern eine Non-Profit-Organisation sollte Buurtzorg sein, frei von Effizienzregeln, frei von Manager:innen, Dienstleitern und starren Zeitvorgaben für atomisierte Leistungen am Menschen. Nur Pflege, und zwar so viel, wie an dem jeweiligen Tag nötig ist. Abgerechnet wird pro Stunde.
»Das wird teuer«, mögen sich jetzt vielleicht einige denken. Doch falsch gedacht: Am Ende kostet das System, das heute in den Niederlanden funktioniert, die Menschen weniger als das alte. Zwar stiegen die Kosten pro Stunde leicht an, die Gesamtzahl der benötigten Pflegestunden sank dort jedoch um bis zu 50%.
Bei Buurtzorg kümmern sich die Pflegekräfte nicht nur um die medizinischen Bedürfnisse der Patient:innen, sondern sind auf viele Weisen anders aktiv als in Deutschland. In den Niederlanden steht das Konzept neben der Art der Vergütung auf 4 weiteren Säulen:
- »Aktivieren« statt abhaken: Statt einfach einen Thrombosestrumpf anzuziehen und diese tägliche Aufgabe abzunehmen, soll eine Buurtzorg-Pflegekraft gezielt darauf hinarbeiten, dass der Strumpf vielleicht doch irgendwann wieder allein angezogen werden kann.
- Selbstorganisation statt Manager:in: Die Teams von Buurtzorg organisieren sich selbst. Es gibt keine mittlere Management-Ebene, die den Pflegekräften vom Schreibtisch aus erklärt, was sie tun sollen. Das führte in den Niederlanden zu einer höheren Zufriedenheit bei den Pflegekräften,
- Schlanke Strukturen statt aufgeblähtem Verwaltungsapparat: Durch die flache Hierarchie und den Verzicht auf umfangreiche Bürokratie spart Buurtzorg erhebliche Verwaltungskosten. Das bedeutet, dass mehr Geld direkt in die Pflege investiert werden kann, anstatt in die Verwaltung zu fließen.
- Lokale Vernetzung statt langer Fahrtwege: Die Pflegekräfte bei Buurtzorg arbeiten in den Niederlanden primär in ihrer eigenen Nachbarschaft. Dadurch kennen sie die Umgebung und oft auch die Menschen schon vor ihrer Tätigkeit als Pflegekraft. Das erleichtert die Kommunikation und das Vertrauen.
Die Kombination aus diesen Elementen ergibt die Pflegerevolution, die in den letzten 20 Jahren die Niederlande umgekrempelt hat. Dort arbeiten inzwischen über 15.000 Pflegende in 950 selbstorganisierten Teams nach dem Modell. Buurtzorg wurde bereits 5-mal zum besten niederländischen Arbeitgeber gewählt und ist inzwischen in 25 Ländern aktiv.
Kritik am Modell kommt von der traditionellen Pflegekonkurrenz: Buurtzorg-Patient:innen seien bei unvorhergesehenen Ereignissen doch auf die Hilfe klassischer Pflegedienste angewiesen – und würden sogar häufiger in der Notaufnahme landen. Zudem würden sich die Teams nur besonders
Es scheint, Buutzorg funktioniert einfach – warum nicht auch in Deutschland?
Wie ein Pflegedienst aus dem Münsterland Deutschlands Altersaussichten revolutionieren wollte
Angesichts der Einleitung zu diesem Text ist es wahrscheinlich bereits klargeworden: Eine Pflegerevolution könnten wir auch hierzulande gut gebrauchen.
Einer, der diese auch in Deutschland anzetteln wollte, ist Udo Janning. Der ehemalige Pfleger war von Anfang an mit dabei, als der Pflegeunternehmer Gunnar Sander aus der Nähe von Münster das Buutzorg-Konzept nach Deutschland importieren wollte und damit begann, einige seiner ambulanten Teams darauf umzustellen.
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Das war 2017. Damals hatte ich über das Pilotprojekt berichtet, der Pflegenotstand war schließlich schon zu dieser Zeit eine zentrale Herausforderung.
Ich möchte herausfinden, wie es Udo Jannings Projekt heute geht. Doch als ich im Netzt recherchiere, bin ich geschockt: Buurtzorg Münster existiert nicht mehr. Insolvenz im Dezember 2022. Was war passiert?
Ich rufe Janning an. Er hat die ersten Teams in Münster und Umland eng betreut. Bis zum Ende war er allerdings nicht mehr dabei, wie er mir berichtet. Er hatte sich bereits vorher aus den Teams zurückgezogen, als die Entwicklung des Pilotprojekts in eine andere Richtung lief, als er es sich vorgestellt hatte.
Aber eins nach dem anderen: »Zu Anfang war das Interesse an dem Ansatz riesig, wir wurden von Anfragen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum überschüttet«, erinnert sich Janning. »Das hat uns natürlich sehr gefreut. Wir haben von Beginn an versucht, dem gerecht zu werden und möglichst viel PR zu machen, damit das Konzept bekannter und besser akzeptiert wird.«
Doch die Aufmerksamkeit hatte ihren Preis: Bald wurde Janning, der zuvor 26 Jahre lang selbst als Pfleger tätig war, von seiner Position als Teambegleiter »an der Basis« in den Modellprojekten abgezogen. Quasi über Nacht war er zu einer Art Buurtzorg-Botschafter für ganz Deutschland geworden und tingelte in dieser Funktion quer durch die Republik.
Das ging etwa 1,5 Jahre so: »Zu diesem Zeitpunkt erschien es der Geschäftsleitung als ein interessantes Geschäftsmodell, die frohe Kunde weiter zu verbreiten. Irgendwann habe ich dann nachgefragt, wie es denn überhaupt vor Ort mit unseren Teams aus dem Pilotprojekt läuft. Deren Begleitung war da schon ins Hintertreffen geraten«, erinnert sich Janning. Dabei braucht jedes neue Konzept, bei dem sich Teams auf weitgehend selbstständige Arbeit umstellen müssen – in der Pflege wie auch sonst wo – eine enge Begleitung.
Die ersten Umsetzungsschwierigkeiten zeigten sich. Und es sollten nicht die letzten sein.
Warum die Pflegerevolution ausgeblieben ist – zumindest vorerst
Es kamen regelmäßig niederländische Buurtzorg-Coaches ins Münsterland, doch diese mussten bald feststellen, dass die Verhältnisse in Deutschland ganz andere sind als in ihrer Heimat: »Uns wurde schnell klar, dass es nicht möglich ist, das Modell einfach so eins zu eins zu importieren. Die Coaches waren schon sehr verwundert, wie starr und spießig die Pflege in Deutschland geregelt ist; wie wenig den Pflegenden offenbar zugetraut wird an Eigenverantwortung«, sagt Janning.
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»Letztendlich sind all das Probleme, die uns Jos de Blok genauso prognostiziert hat. Er hat uns gesagt, dass wir zu Anfang vor viele Wände laufen werden, dass es viele Widerstände geben wird. Der Fokus müsse dabei aber immer auf dem Aufbau und der Betreuung der Teams bleiben und dass wir sie erst allein lassen können, wenn sie alles verinnerlicht haben – und genau das haben wir verpasst.« Schuld gibt Janning der Geschäftsleitung: »Die hat sie da ein bisschen allein gelassen und darauf gesetzt, dass sie allein aus ihren Fehlern lernen.«
Irgendwann erreichten Udo Janning dann Hilferufe der Teams aus der Heimat, man komme nicht mehr zurecht. Ungeachtet dessen setzte man von Seiten der Geschäftsführung weiter auf Öffentlichkeitswirkung und Expansion: »Wir waren einfach viel zu schnell unterwegs. Diese Dynamik dann wieder zu bremsen, war schwierig«, sagt Janning. »Wir sind einfach losgerannt, ohne irgendeinen Plan B in der Hinterhand zu haben, die niederländischen Coaches ausgenommen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass man sich zumindest ein Jahr zur Vorbereitung für eine Umstellung nehmen sollte.«
Janning bat darum, von der Stelle als Buurtzorg-PR-Referent abgezogen zu werden und zu den Teams im Münsterland zurückkehren zu dürfen – ohne Erfolg: »Ich merkte, wie die Truppe langsam zerbröselte, die Anrufe nahmen zu, die ersten Leute gingen.«
Als Erstes sei dann der Ableger in Münster selbst geschlossen worden. Weil sich das Team dort mangels Mediation hoffnungslos zerstritten hatte. Da man sich in Sachen Prioritätensetzung nicht einig wurde, trennte man sich – im Guten, wie Janning betont.
Das erklärt, was schiefgelaufen war: zu schnelle Expansion, eine zu ambitionierte Geschäftsleitung, menschliche Reibung. Enttäuscht bin ich dennoch nach dem Gespräch mit Janning. Doch der hat sich einen Teil seines Optimismus bewahrt …
Pilotprojekt gescheitert, doch der Geist lebt fort
Entgegen seinen Erfahrungen hält Janning das Konzept nicht für gescheitert: »Ich bin da gar nicht verbittert. Es war eben ein erster Anlauf, bei dem es natürlich auch zu Problemen kommen musste. Irgendwie müssen ja Erfahrungen gesammelt werden, so bitter die auch manchmal sind.«
Und bitter war vor allem, so Janning, wie wenig Rückendeckung das ganze Projekt von Seiten der Politik und den zuständigen Pflegekassen bekommen habe, die unter anderem für die Abwicklung der Kosten in der Pflege verantwortlich seien. »Ehrlich gesagt hätte ich schon erwartet, dass die jubelnd auf den Tischen tanzen, wenn da jemand mit einer Idee kommt, um endlich etwas nachhaltig zu verbessern.« Die Bereitschaft für Innovation und Reform sei jedoch auf allen Ebenen eher verhalten gewesen.
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Und das habe sich vor allem beim Geld gezeigt. Um zumindest auf plus/minus 0 zu kommen, hätten seine Teams mindestens 40 Euro pro Stunde als Vergütung gebraucht. Nach zähen Verhandlungen mit den Pflegekassen waren es dann aber gerade einmal 32. »Das schafft kein Pflegedienst in der ganzen Republik.« Kleine Pflegedienste könnten es sich schlicht nicht erlauben, mit Zehntausenden Euro in Vorleistung zu gehen, nur um zu beweisen, dass ein neues Modell funktionieren kann.
Wenn der Pflegenotstand so groß ist und niemand eine Idee für einen Ausweg hat und dann jemand mit einem vielversprechenden Konzept um die Ecke kommt, das sogar in anderen Ländern schon erprobt ist, hätte ich gedacht, dass wir ordentlich unterstützt werden. Dass mal mit Mut ein Fass aufgemacht wird, um es uns für ein paar Jahre ohne finanziellen Druck versuchen zu lassen. Am Ende hätten wir dann unsere Ergebnisse auf den Tisch legen können, beweisen können, dass es geht. Nichts dergleichen gab es. Schulterklopfen, wohin wir kamen: Tolles Projekt, viel Glück – aber ohne uns.
Dass selbstorganisierte Pflege funktionieren kann, hat Janning zwischenzeitlich in Rheinland-Pfalz bewiesen. Dort begleitete er 2 Pflegedienste, die zwar nicht unter dem Namen Buurtzorg arbeiten, aber den Geist des Projektes weitertragen und mehr Eigenverantwortung für die Pflegenden wagen wollten.
»Da sind alle mitgegangen, es war sehr strukturiert und wir haben innerhalb von 6 Monaten viel zum Besseren verändert. Allerdings herrschte dort auch eine viel offenere Kultur bei den Pflegekassen und anderen Institutionen, die uns eine Chance gegeben haben und machen ließen. Das war von dieser Seite her in Münster ganz anders«, berichtet Janning. In Rheinland-Pfalz würde inzwischen über 60 Euro pro Stunde gezahlt.
Auch die Wissenschaft sieht in Buurtzorg eine Chance für Deutschland
Jannings Fazit bleibt also trotz allem positiv. Und für seine Einschätzung gibt es einiges an Unterstützung – aus der Wissenschaft. Etwa von Tobias Becker von der Fachhochschule Münster. Er hat das Buurtzorg-Team gemeinsam mit Kolleg:innen von der Hochschule Osnabrück 2020–2022 im Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) für eine wissenschaftliche Evaluation begleitet.
Auch Becker wehrt sich dagegen, dass das Pilotprojekt gescheitert sei.
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Während der Evaluationszeit haben er und andere Wissenschaftler:innen die Effekte des Buurtzorg-Modells mit »klassischen« ambulanten Pflegediensten verglichen, diese bei ihrer Arbeit begleitet, Interviews mit Mitarbeitenden, Gepflegten und deren sozialem Umfeld geführt und die Finanzierung untersucht.
Ihr Ergebnis: Sowohl Patient:innen als auch Angehörige haben sich gut durch Buurtzorg betreut gefühlt. Dies rührt vor allem von der erhöhten Flexibilität her, die die Pflegenden ohne das Korsett des starren Leistungskatalogs hinzugewonnen haben. »So konnte dann zum Beispiel entschieden werden, ob bei einem Termin wirklich die große Grundpflege nötig ist oder eine kleine ausreicht und die restliche Zeit besser mit einem guten Gespräch beim Frühstück investiert ist«, berichtet Becker.
»Letzten Endes haben im Rahmen des Vergleichs beide Pflegemodelle gut abgeschnitten. Buurtzorg wurde nicht signifikant besser bewertet. Aber es waren Tendenzen erkennbar, dass die Versorgung besser gewesen ist«, so Becker.
Dass die Pflegenden dabei hülfen, ein soziales Netz aus Unterstützenden aus dem Umfeld aufzubauen, habe sich in der Untersuchung hingegen nicht gezeigt. Doch das müsse nichts heißen, so Becker. Immerhin war 2020–2022 die Hochzeit der Coronapandemie, was den Aufbau von Kontakten, wie es Buurtzorg eigentlich vorsehe, generell erschwert habe.
Wenn man Becker reden hört, merkt man, dass er positiv über Buurtzorg denkt. Er beendet unser Gespräch mit einem schönen Beispiel: »Wir hatten unter den Patient:innen eine ältere Dame, die einen Kompressionsstrumpf an- und ausgezogen bekommen musste. Diese Dame hatte eine Nachbarin mit dem gleichen Problem. Beide wurden durch Buurtzorg betreut. Das Team kam am Morgen, zog die Strümpfe an, sorgte dann aber dafür, dass die Damen sich besser kennenlernten und sich künftig bei einem Schnack am Abend gegenseitig die Strümpfe wieder auszogen, ohne Pflegedienst. Das hat nicht nur Zeit und Kosten gespart, sondern konnte auch die soziale Isolation während der Pandemie durchbrechen, unter der beide gelitten hatten.«
Ein normaler Pflegedienst hätte diese vermeintliche Kleinigkeit mit großem Effekt nicht so einfach leisten können, da dieser 2-mal Strümpfe an- und ausziehen abgerechnet hätte.
Ich habe jetzt meine Antworten und bin am Ende weniger ernüchtert als gedacht. Das liegt nicht zuletzt auch an einem Pflegeteam aus München, das noch immer im Rahmen von Buurtzorg tätig ist – aber daraus sein ganz eigenes Konzept gemacht hat.
Ich war neugierig und habe nachgehakt. Was dabei herausgekommen ist und wie die Pflege der Zukunft in Deutschland vielleicht demnächst aussieht, erfährst du im zweiten Teil:
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily