6 Lehren aus der EU-Wahl. Spoiler: Sie sind nicht alle düster!
Klima, Demokratie, Medien. Und immer wieder der Rechtsruck. 6 unserer Autor:innen legen heute dar, was bei ihnen nach der Wahl besonders hängen geblieben ist.
Manchmal ändern sich die Dinge ganz schnell. Gerade mal 2 Wochen ist es her, da lehnten wir uns aus den Fenstern unserer Redaktionsräume, um einen Blick auf den hohen Besuch zu erhaschen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Politikgrößen des Landes NRW empfingen einen Steinwurf von unserem Büro entfernt den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission.
Im Friedenssaal des historischen Rathauses der Stadt Münster hatte Macron den Preis des Westfälischen Friedens überreicht bekommen. Geeint und in bester Laune feierten die Mächtigen aus der politischen Mitte an diesem sonnigen Vormittag ein friedliches und vereintes Europa und winkten den jubelnden Zuschauern vom Balkon aus zu.
Jetzt, 2 Wochen später, herrscht Katerstimmung in Europa. Deutsche Medien beklagen vor allem den bundesweiten Rechtsruck. Der französische Staatspräsident hat aufgrund seines schlechten Wahlergebnisses und des Erstarkens der dortigen Rechten gar das französische Parlament aufgelöst – in wenigen Wochen wird es Neuwahlen geben.
Doch muss man wirklich alles so trüb sehen auf dem alten Kontinent? War das Ergebnis wirklich überraschend? Ist das Erstarken der Rechten ein unaufhaltsamer Trend? Und wer hat eigentlich warum wie gewählt?
Wir haben in der Redaktion schnell gemerkt, dass die Wahlen und ihre Ergebnisse ganz unterschiedliche Gedanken, Reaktionen und Gefühle ausgelöst haben. Was wir beobachtet haben und was unsere Gedanken dazu sind, liest du heute.
Demonstrieren für die Demokratie wirkt!
von Benjamin FuchsDie AfD hat bei der Europawahl kräftig zugelegt im Vergleich zur Europawahl 2019. Nehmen wir das damalige Ergebnis von 11% als Maßstab, ist der Zuwachs um 4,9 Prozentpunkte auf nun 15,9% beunruhigend. Mit Blick auf die Umfragewerte im Verlauf des Jahres 2023 ist die AfD allerdings deutlich hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben. Damals hatte sie sich bei 23% eingependelt.
Doch Anfang 2024 begann die Talfahrt.
Das zeigt: Es ist nicht alles verloren. Nicht alle Menschen, die in Umfragen ankündigen, rechtsextrem zu wählen, setzen dies auch unter allen Umständen um. Es gibt Ereignisse, die diese Zustimmung erschüttern können. Allerdings haben die demokratischen Parteien die Schwächung der AfD nicht genutzt. Sie haben keine großen, begeisternden Visionen für Europa aufgemacht, nicht aufgezeigt, wie ihre Politik das Leben der Menschen tatsächlich verbessern könnte. Statt Politikangebote zu machen, riefen fast alle auf Plakaten dazu auf, nicht rechtsextrem zu wählen. Die bloße Verhinderung der Dystopie statt Gestaltungswille. Ein Offenbarungseid, der zeigt, dass die etablierten Parteien die Proteste nicht verstanden haben. Sie waren ein Arbeitsauftrag, dem sich der Politikbetrieb verweigert hat.
Die Proteste selbst haben deutlich gemacht, wie schädlich das rechtsextreme Gedankengut der AfD für unser Land ist. Und wie wichtig es ist, für Demokratie einzustehen. Das beeindruckt anscheinend auch potenzielle, nicht gefestigt rechtsextreme Wähler:innen der AfD. Die Zivilgesellschaft ist wach, sie ist da und sie ist wirkungsvoll, wenn sie lagerübergreifend für Demokratie eintritt.
Keine rechte Welle, sondern eine stabile Mitte – und die ist gut fürs Klima
von Felix AustenWie die meisten Menschen, die nicht die AfD gewählt haben, war auch ich am Morgen nach der EU-Wahl ziemlich überrascht. Allerdings nicht etwa über das Ergebnis – denn das war ziemlich genau so, wie es die meisten Umfragen vorhergesagt hatten. Sondern eher darüber, dass sich die meisten Menschen, die nicht die AfD wählen, so schockiert und deprimiert davon zeigten.
Gut 15% für eine rechtsradikale Partei, das finde auch ich beschi***! Doch vor Kurzem lag diese Partei noch bei deutlich über 20%. Auch ein Blick ins Ausland zeigt: Mit 15% für die Rechten sind wir hierzulande bestens bedient. Eine absolute Mehrheit in Deutschland hat durch ihre Wahl zum Ausdruck gebracht, dass sie sich den demokratischen Grundprinzipien verpflichtet sieht.
Gerade innerhalb dieses Spektrums gehören Verschiebungen von ein paar Prozentpunkten hier und da doch zu einer Demokratie dazu! Schon vor 7 Jahren war die SPD totgesagt worden, nur um 4 Jahre später den Kanzler zu stellen. Im selben Jahr landete die AfD schon einmal bei 12,6%, nur um 2 Jahre später wieder 2 Prozentpunkte zu verlieren. Die Grünen sind nach ihrem Höhenflug im Klimawahljahr nun eben auf dem Bauch gelandet. In 1, 2 oder 5 Jahren kann es wieder in eine ganz andere Richtung gehen, je nachdem, welche Themen dann groß sein werden.
Was ich als Klimaautor als Erfolg dieser Wahl werte, ist ein Ergebnis, das Ursula von der Leyen sehr wahrscheinlich eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin sichern wird. Bei aller berechtigten Kritik an ihrer Politik: Ursula von der Leyen ist wohl der wichtigste Grund dafür, dass es in der EU mit dem Green Deal eine ernst zu nehmende Strategie für eine ökologische und nachhaltige Transformation Europas gibt.
Erst wenige Tage vor der Wahl veröffentlichte das Magazin Politico einen
Nicht in diesem Ton!
von Désiree Schneider»Behindert, dumm, blöd, Idiot …« – in Beiträgen und Kommentaren auf den sozialen Medien werden AfD-Wähler:innen derzeit viele Beleidigungen an den Kopf geworfen. Die Auswahl hier ist noch harmlos. Unter Grafiken, die zeigen, wie stark die AfD in Ostdeutschland gewählt wurde, verlangen Menschen sogar wieder einen Mauerbau oder wünschen sich, sie wäre stehengelassen worden. Das ist nicht lustig, sondern ziemlich unreflektiert.
Dass Menschen von den Wahlergebnissen frustriert und verängstigt sind, verstehe ich. Es gibt ihnen jedoch kein Recht, AfD-Wähler:innen oder Menschen in Ostdeutschland zu erniedrigen. So pauschalisierend zu urteilen, verhärtet die Fronten und vertieft die ohnehin vorhandene Spaltung eher, als irgendetwas daran zu ändern. Es ist das Letzte, was wir gerade gebrauchen können. Letztlich ist genau das das Niveau der Rechten.
Gerade wenn Menschen auf
Wir sollten eher verstehen, warum sich viele von den rechten Parteien angesprochen fühlen. Verhärtete Fronten bestätigt Menschen nur noch mehr in ihrer Entscheidung – auf die Gefahr hin, dass wir sie an den Rechtsextremismus verlieren.
Das Ausland lehrt: Dem Rechtsruck folgt nicht selten der Linksruck
von Han LangeslagIn Anbetracht der Wahlergebnisse in Deutschland und Frankreich übersehen wir schnell: Nicht in allen EU-Ländern hat die extreme Rechte zugelegt im Vergleich zur Wahl 2019. Vor allem im Norden Europas haben sie verloren. In Dänemark, Schweden und Finnland sind die grünen und linken Parteien die großen Gewinner.
Sind die Skandinavier einfach mal wieder smarter als wir? Vielleicht. Doch viel wahrscheinlicher hat die Sache einen anderen Grund: In Dänemark, Schweden und Finnland sind die Rechten gerade Teil der Regierung oder unterstützen eine Minderheitsregierung.
Das deutet auf einen Trend hin: Sobald extrem rechte Parteien mitregieren, laufen sie Gefahr, von unzufriedenen Wähler:innen auch wieder abgestraft zu werden. Genau so, wie demokratische Parteien, die Regierungsverantwortung übernehmen, eben auch. Dass Regierungsparteien in »Zwischenwahlen« wie der EU-Wahl Anteile verlieren, bei der Wähler:innen vor allem ihre Haltung zu ihren nationalen Regierungen zum Ausdruck bringen,
Ähnliches wie jetzt in Skandinavien haben wir zuletzt in Polen gesehen. Demnächst wird bei unserem
Auch im Osten der EU haben extrem rechte Parteien entweder verloren oder lagen weit hinter den Erwartungen zurück. Viktor Orbáns Regierungspartei Fidesz zum Beispiel verpasste in Ungarn mit 44% überraschend eine absolute Mehrheit. Die neue Mitte-rechts-Partei
Vielleicht ist der letzte und effektivste Weg, um extrem rechte Parteien zu entzaubern, sie an der Regierungsarbeit zu beteiligen. Nur so sehen alle, was geschieht, wenn populistische Rhetorik auf die Realität stößt. Und dass die Steckenpferde der Rechten, wie ein harter Stopp der Migration, kaum Probleme löst. Natürlich ist ein solcher Weg nicht ohne Risiken; die Rechten können einiges zerstören, was die Demokratie zuvor mühsam aufgebaut hat. Umso wichtiger sind demokratische Institutionen wie freie Presse und ein unabhängiges Rechtssystem, um antidemokratische Parteien in der Regierung überleben zu können – und effektiv zu entzaubern.
AfD-Wähler:innen sind alle Nazis? So einfach ist es nicht
von David HaslerLange Zeit war der Grundtenor in der breiten Öffentlichkeit, dass die AfD eine reine Protestpartei sei. Die Nachwahlumfragen ergeben, dass
Warum so schwarz-weiß? Wahlentscheidungen haben selten nur genau einen Grund. Ein großer Teil der Wähler:innenschaft der AfD ist offen für rechtsextremes Gedankengut, keine Frage. Doch das gilt eben nicht für alle.
Der am häufigsten genannte Grund, die Partei zu wählen, bleibt mit deutlichem Abstand Migration. 46% gaben dies als Hauptthema für die Wahlentscheidung an. Doch bei genauerem Hinsehen hat sich etwas verschoben: Im Vergleich zur EU-Wahl 2019 hat Migration als wahlentscheidendes Thema um 11 Prozentpunkte abgenommen.
Und die Probleme sind real: Die Preissteigerungen in den vergangenen Jahren haben Lohnzuwächse zunichtegemacht, wirtschaftlicher Aufschwung bleibt aus und bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper.
Aber damit das klar ist: Die AfD löst keines dieser Probleme, sondern macht sie deutlich schlimmer. Wir reden hier über die einzige Partei, die sozialen Wohnungsbau und Mietenregulierung ablehnt.
Sie behauptet zwar, dass sie sich um »die kleinen Leute« kümmere. Aber die Fakten sprechen dagegen. Deshalb steht fest: Will die Bundesregierung etwas gegen rechts außen unternehmen, muss sie zeigen, dass Politik das Leben der Menschen verbessern kann. Und das kann sie, wenn am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche ist. Mit dem rechtsextremen Kern müssen wir leben lernen. Doch ein bedeutender Teil der AfD-Wählenden ist mit guter Politik noch zurückzuholen.
Die Wahl und die AfD, ein Medienversagen
von Dirk WalbrühlEigentlich sollte man meinen, Medienschaffende wüssten mittlerweile, wie man mit dem politischen Rechtsextremismus in Deutschland umgeht. Die EU-Wahl und die gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen haben allerdings deutlich gemacht: Viele Redaktionen sind erstaunlich lernresistent bei diesem Thema.
»Die AfD hat ihren Erfolg manifestiert«, titelt die Zeit.
Ja, innerhalb der Beiträge wird analysiert, kritisiert, ausdifferenziert. Doch gerade die Überschriften sind das, was auf sozialen Medien ausgespielt, geteilt und beim Drüberscrollen gesehen und gemerkt wird. Sie tragen zur Verharmlosung einer Partei bei,
Warum nicht einen ehrlichen Titel wählen: »Trotz Extremismus, Skandalen und Russlandnähe wählen Millionen Deutsche die AfD – vor allem im Osten.« Dann müsste man natürlich auch Antworten auf das »Warum« liefern. Wenn die zentrale Erkenntnis 2024 dann aber lautet: »Die AfD polarisiert«, dann hat man genau beim »Warum« nicht viel zu bieten. Dann haben manche Journalist:innen die letzten Jahre Radikalisierung der im Kern rechtsextremen Partei und auch
Wir wissen aus den USA: Wer Extremisten und Autokraten verharmlost, aber trotzdem zum Framing nutzt – für die Klicks! –, darf sich nicht wundern,
Das Mediengetöse, das die klaren Worte scheut, lenkt von einer großen, wichtigen Frage ab:
Da ist es fast erholsam, wenn irgendein Politiker dieses Medienspiel von Faszination und Empörung einmal nicht mitmacht. Auf die Frage eines Journalisten, ob er die Erfolge der AfD »beeindruckend« finde,
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