Deshalb ist Reality-TV sinnvoller, als du denkst
Reality-Formate können nicht nur unterhalten, sondern erfüllen wichtige psychologische Funktionen. Welche das sind und wie sie uns nutzen, erklärt ein Medienpsychologe.
Nur noch ein paar Tage, dann ist es wieder so weit: Das Dschungelcamp startet. Dieses Jahr mit einer besonderen Ausgabe, dem »Showdown der Dschungel-Legenden«. Ich weiß jetzt schon: Im Perspective-Daily-Team gibt es einige, die auf die Show hinfiebern – und andere, die die Begeisterung für das Format nur schwer nachvollziehen können.
Auch abseits von unserem Team spaltet Reality-TV die Geister. Das fängt schon bei der Frage an, welche Formate eigentlich in das Genre fallen. Grundsätzlich ist die Definition dieser Sparte nämlich recht breit: Als Reality-TV gelten all jene Shows und Sendungen, in denen versucht wird, die Realität abzubilden. Das können Gerichtssendungen sein, in denen Schauspieler:innen wahre Fälle nachspielen, aber auch Datingshows, in denen die Teilnehmenden versuchen, ihre »wahre Liebe« zu finden (oder ihre Karriere als Reality-Star in Gang zu bringen). Auch Castingshows und Reality-Dokus, die berühmte Personen in ihrem Alltag begleiten, können zu dem Genre gezählt werden.
So unterschiedlich wie die Formate sind auch die Einstellungen zu den Shows. Die einen schwören auf das Dschungelcamp, andere auf die queere Datingshow Prince Charming oder das Format Love-Island, für das ein Haufen Singles in eine Insel-Villa gesteckt wird. Und manche können mit keinem Reality-Format etwas anfangen – so geht es scheinbar auch vielen Leser:innen von Perspective-Daily.
Auch ich selbst habe mich lange zur letzten Kategorie gezählt. Bis ich kürzlich auf die Reality-Doku Kaulitz & Kaulitz stieß, in der die beiden Frontsänger von Tokio Hotel durch ihren Alltag in Los Angeles mit der Kamera begleitet werden. Obwohl ich nie Fan der Band war und es grundsätzlich problematisch finde, wenn reiche Menschen – wie Bill und Tom – mit Privatjets um die Welt fliegen, zog mich das skurril-bunte Leben der beiden in seinen Bann. Was war los mit mir?
Der Trailer von Kaulitz und Kaulitz:
Ich beschloss, der Sache nachzugehen und eine Erklärung dafür zu finden, was Menschen eigentlich so an Reality-TV fasziniert. Warum lieben es manche und andere hassen es? Kleiner Spoiler: Die Formate können unter den richtigen Bedingungen einen Mehrwert für unser psychisches Wohlbefinden
Wieso Menschen auf Reality-TV stehen
Um mehr über das scheinbar menschliche Faible für Reality-Formate aller Formen und Farben zu erfahren, spreche ich mit dem Medienpsychologen
Oftmals befassen sich Reality-Shows mit fundamentalen Fragen, die für die Zuschauenden relevant sind. Wie verhalten wir uns in Konflikten? Was passiert, wenn wir verliebt oder eifersüchtig sind? Und wie reagieren Menschen auf Extremsituationen?
Gleichzeitig sind die meisten Formate so überzeichnet, dass sie sich vom alltäglichen Leben der Zuschauenden stark unterscheiden. So ermöglichen sie es ihnen, eine gewisse Distanz zu wahren. »Konflikte und Dramen des Lebens können aus der Distanz und im Schutzraum des Entertainments betrachtet werden«, erklärt Reinecke.
Wenn es etwa Streit um den Verzehr von Känguru-Hoden im Dschungelcamp gibt, können wir uns die Frage stellen, was wir in einer solchen Extremsituation machen würden: »Opfern« wir uns fürs Team? Oder folgen wir unseren Prinzipien? Während wir darüber nachdenken, können wir sicher sein, dass wir wohl niemals in eine solche Situation kommen werden.
Reality-Formate schaffen eine schrille, unterhaltsame Alternative zum Alltag, die es den Zuschauenden ermöglicht, sich zeitweise von ihren eigenen Sorgen zu distanzieren.
Reality-TV als Erholungsmaßnahme: Laut Reinecke kann das funktionieren. Darauf deuten
- Der emotionsorientierte Typ: Manche Menschen sind in ihrem Umgang mit Stress eher emotionsorientiert. »Um negative Emotionen zu managen, müssen sie sich Phasen schaffen, in denen sie stark abgelenkt sind und eben nicht an ihren eigenen Stress denken müssen«, sagt Reinecke. Dabei können Formate helfen, die besonders involvierend wirken.
- Der lösungsorientierte Typ: Andere Menschen haben einen eher problemlösungsorientierten Stil, um mit ihrem Stress zurechtzukommen. Das heißt: Wenn sie mit Stressoren konfrontiert sind, dann möchten sie sich stärker mit ihren Problemen auseinandersetzen. »Sie möchten Input, der ihnen vielleicht Hinweise darauf gibt, wie sie mit der stressauslösenden Situation besser umgehen können«, sagt Reinecke.
Unser Stressbewältigungstyp bestimmt dabei nicht nur, welches Reality-Format wir mögen, sondern spielt auch eine Rolle, wenn es darum geht, welche Bücher, Serien oder Filme wir konsumieren und als erholsam empfinden.
Doch insbesondere die Sache mit der Reality-Erholung hat auch Haken.
Ein Problem: Das vermittelte Weltbild
»In Formaten wie Der Bachelor oder Germany’s Next Topmodel werden oft oberflächliche Beziehungsbilder und problematische Idealvorstellungen von Schönheit vermittelt«, sagt
Die gute Nachricht: Die Kritik setzt manche Redaktionen so unter Druck, dass sie ihre Formate anpassen. So versucht beispielsweise die Sendung Germany’s Next Topmodel, inklusiver zu sein, indem auch mehrgewichtige oder ältere Menschen teilnehmen und verschiedene Geschlechtsidentitäten Platz in der Sendung haben. Auch in vielen Datingshows geht es nicht mehr nur um heteronormative Paarbeziehungen, sondern ebenso um
Das schlechte Gewissen danach
Wer will, findet heute zumindest mit ziemlicher Sicherheit ein Reality-Format, das den eigenen moralischen Ansprüchen gerecht wird. Doch auch wenn es inhaltlich passt, bleibt nach dem Schauen oft die Frage: Hätte ich die Zeit nicht sinnvoller verbringen können?
»Gerade Unterhaltungsmedien laden uns dazu ein, Zeit zu vergessen«, sagt Reinecke. »Man muss eine gute Balance mit anderen Aktivitäten finden, um einen gut gefüllten und abwechslungsreichen Alltag zu haben.« Wer ständig das Gefühl hat, zu viel Fernsehen zu schauen, kann das laut Reinecke zum Anlass nehmen, die eigenen Nutzungsmotive und Routinen zu reflektieren. Zum Beispiel mithilfe folgender Fragen:
- Wie sieht meine Mediennutzung im Alltag aus?
- In welchen Situationen tut mir Mediennutzung im Nachhinein nicht gut?
- Was sind die Auslöser für meine Mediennutzung?
- Was sind andere Aktivitäten, die mir in Bezug auf Stress und Belastung guttun?
»Dann können wir an diesen Punkten etwas ändern und uns in den betreffenden Situationen – statt den Fernseher einzuschalten –
Reinecke betont aber auch, dass exzessiver Konsum selten ist: »Für das eigene psychologische Wohlbefinden sehe ich bei den meisten Menschen relativ wenig Gefahren. Gerade Reality-Formate werden vor allem zur Unterhaltung, Stressbewältigung und als Kontrast zum Alltag genutzt. Dass dadurch andere wichtige Dinge verdrängt werden, ist selten und betrifft nur eine Randgruppe.«
Das Paradoxe: Auch in Situationen, in denen unser Medienkonsum alles andere als problematisch ist, neigen wir dazu, uns danach schuldig zu führen – und das sabotiert den Erholungseffekt, den das Ganze haben kann. Das gilt übrigens nicht nur für Reality-Formate, sondern ebenso für fiktionale Filme oder Serien. »Es kann schwerfallen, die Erholung anzunehmen, wenn wir uns eigentlich wünschen, noch mehr Energie zu haben«, erklärt Reinecke. Das schlechte Gefühl kann weiter verstärkt werden, weil wir wissen, dass diese Art von Erholung gesellschaftlich nicht akzeptiert ist.
Wer am Abend gerne noch die Steuererklärung gemacht oder ein Fitnessstudio besucht hätte, aber einfach keine Kraft mehr dazu hatte, dem rät Reinecke zum Realitätscheck: Wie realistisch sind die Ziele, die ich noch gehabt habe? Und ist es nicht vielleicht besser, mir die Erholung zu gönnen, auf die ich gerade Lust habe, und mich dann morgen ans Werk zu machen?
Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Medienunterhaltung eben deutlich mehr ist als Zeitverschwendung und dass man sich durchaus auch Entertainment gönnen kann, darf und soll. Es erfüllt eine ganze Reihe von wichtigen psychologischen Funktionen.
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