Noch mal neu beginnen: Darum lassen sich immer mehr Menschen spät scheiden
Immer mehr Menschen lassen sich in hohem Alter oder nach über 20 Jahren Ehe scheiden. Eine Scheidungsanwältin erklärt, wie es dazu kommt und wie eine späte Scheidung reibungslos ablaufen kann.
Unser Sex war inzwischen zur Routine geworden, es gab weder Höhen noch Tiefen. Es war immer gleich und eintönig und gehörte einfach dazu wie Zähneputzen. Mir machte das nichts aus. Und ich machte mir auch sonst keine großen Gedanken darüber. Dann merkte ich, dass mein Mann fremdging. Auch wenn unsere Ehe nicht perfekt war – welche Ehe war das schon? –, das wollte ich dann doch nicht mit mir machen lassen. Das war einfach zu viel, nach all den Jahren.Ulrike, aus dem Buch »Doch noch scheiden oder weiter leiden?«
Die Entscheidung, eine Ehe fortzusetzen oder zu beenden, ist bedeutend und meistens schwierig zu treffen. Besonders dann, wenn sie nach einer langjährigen Ehe getroffen werden muss oder wenn die Eheleute über 60 sind. Schließlich zieht das komplexe emotionale, soziale und eben auch rechtliche Folgen nach sich. Werde ich allein zurechtkommen? Wie werden unsere Familie und Freund:innen reagieren? Wer von uns darf im Haus bleiben? Solche Fragen stellen sich viele Menschen, wenn sie über eine Scheidung nachdenken.
Renate Maltry ist Anwältin und hat sich auf Scheidungsrecht spezialisiert. 1986 gründete sie den Verein TuSch (Trennung und Scheidung – Frauen für Frauen), der Frauen bei Trennungen und Scheidungen berät und psychologisch unterstützt. Sie stand selbst einmal vor dieser Entscheidung. Heute sieht sie ihre Scheidung nicht als Niederlage, sondern als einen Neubeginn.
In ihrem Buch »Doch noch scheiden oder weiter leiden?«, das sie gemeinsam mit dem Psychotherapeuten Heinz-Günter Andersch-Sattler verfasst hat, beleuchten sie die Geschichten verschiedener Paare, die sich genau diese Frage gestellt haben.
Im Interview erklärt Maltry, warum Paare einen Beziehungsvertrag unterschreiben sollten und welche Maßnahmen sonst noch zu treffen sind, damit eine potenzielle Scheidung so konfliktarm wie möglich abläuft.
Die Scheidungsgründe, die Sie in ihrem Buch aufführen, sind sehr verschieden, doch eines haben alle Fälle gemeinsam: Es sind »späte Scheidungen«. Was ist damit gemeint?
Renate Maltry:
Zum einen sind es langjährige Ehen. Die Durchschnittsehe in Deutschland dauert 15 Jahre. Wenn ich von »späten Scheidungen« spreche, meine ich damit 25 oder 30 Ehejahre. Aber darunter fallen auch Paare, die spät geheiratet haben und über 60 oder 70 Jahre alt sind.
Was hat Sie dazu bewegt, ein Buch über späte Scheidungen zu schreiben?
Renate Maltry:
Ich kann mich noch an einen Scheidungsfall aus meiner Zeit als Junganwältin erinnern. Der Richter sagte zu meiner Klientin: »Sie sind doch schon über 70, warum müssen Sie sich denn überhaupt noch scheiden lassen?« Das fand ich total irritierend und nicht nachvollziehbar. Soll die Frau weiter unglücklich leben, nur weil sie schon älter ist? Im besten Fall bleiben ihr noch 20 Jahre, die sie unbeschwert leben kann.
Während meines Berufsbeginns gab es noch wenige solcher späten Scheidungen. Heute ist das längst kein Tabu mehr. Späte Scheidungen kommen viel häufiger vor, als sich die meisten Menschen vorstellen können.
Woran liegt es, dass sich immer mehr Menschen auch in hohem Alter oder nach langjähriger Ehe für eine Scheidung entscheiden?
Renate Maltry:
Heute ist die Lebenserwartung der Menschen höher. Vor allem die Rente ist so ein Knackpunkt, an dem sich viele fragen, wie sie ihr Leben jetzt gestalten sollen. Wollen sie wirklich noch 20 oder gar 30 Jahre so weiterleben wie jetzt oder etwas verändern? Eine andere Schnittstelle für Paare ist, wenn die Kinder aus dem Haus ziehen. Dann entsteht oft das sogenannte Leere-Nest-Syndrom. Manche haben sich in der Zwischenzeit völlig auseinandergelebt und können ohne Kinder nichts mehr miteinander anfangen.
Sie setzen sich in Ihrer Arbeit vor allem für das Recht von Frauen ein. Was hat sich im Hinblick auf die Ehe für sie verbessert?
Renate Maltry:
Die Hausfrauenehe war in Deutschland seit dem Jahr 1900 gesetzlich manifestiert. Es gab ganz starre Regelungen: Die Frau bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder und den Haushalt. Bis 1977 haben verheiratete Frauen die Zustimmung ihres Ehemannes gebraucht, um einer Berufstätigkeit nachzugehen.
Heute haben wir den Grundsatz der Eigenverantwortung. Das heißt, dass jeder selbst für seinen Unterhalt sorgen soll – auch nach der Scheidung. Dadurch arbeiten mehr Frauen und gehen auch bei Kinderbetreuung, meist nach dem dritten Lebensjahr eines Kindes, einer Erwerbstätigkeit nach – wenn auch oft in Teilzeit. Die eigene Selbstverwirklichung steht also mehr im Fokus. Frauen beschäftigen sich mit ihrem eigenen Weg und das ist etwas Positives.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass bei einer Scheidung nicht nur die juristischen Angelegenheiten, sondern auch die emotionalen Lasten gleichermaßen beachtet werden müssen. Was meinen Sie damit?
Renate Maltry:
Ich bin selbst bereits geschieden und mir hat es damals sehr geholfen, meine eigenen Beziehungsmuster zu erkennen. Das heißt: Warum verhalte ich mich gerade so und warum entstehen immer wieder die gleichen Konflikte? Es ist wichtig, sich während eines Trennungs- oder Scheidungsprozesses mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, damit kein Scheidungskrieg ausbricht und um gut mit der Trennung abschließen zu können.
Deshalb arbeiten in unserer Beratungsstelle auch Psychologinnen und Sozialpädagoginnen, Oft liegen diese Verhaltensweisen an bestimmten Beziehungsmustern, die wir von unseren Eltern oder Großeltern gelernt haben. Sie haben uns in dieser Hinsicht viel mitgegeben und wir haben sie meist unbewusst verinnerlicht.
Ich spreche da gerne von »ungeschriebenen Verträgen«: Jede Person denkt, dass ihre Vorstellung von Beziehung die richtige ist – ohne das vorher mit dem Partner oder der Partnerin abzusprechen. Ich hatte zum Beispiel einen Scheidungsfall von einem älteren Paar, bei dem der Mann sich und seine Frau im Seniorenheim angemeldet hat, weil für ihn klar war, dass sie dort nach der Rente hingehen. Seine Frau hatte aber ganz andere Pläne und wollte reisen. Beide haben vorher nicht über ihre Wünsche gesprochen und gingen davon aus, dass ihre Vorstellung vom Lebensabend für die andere Person genauso aussieht. Daher ist es enorm wichtig, Beziehungsverträge aufzustellen, diese anzusprechen und sie immer wieder zu überprüfen.
Was meinen Sie mit Beziehungsverträgen?
Renate Maltry:
Dass man schon vor der Beziehung und auch währenddessen über gewisse Vorstellungen spricht und die vielleicht auch niederschreibt. Egal ob es dabei um Kindererziehung, das Leben nach der Rente oder darum geht, wie man im Falle einer Trennung auseinandergehen möchte.
Es gibt viel Kritik – vor allem von älteren Menschen –, dass sich Paare heutzutage zu schnell trennen bzw. scheiden würden. Empfinden sie das genauso?
Renate Maltry:
Wer heute lange verheiratet ist, kommt aus einer Generation, die sich schwer mit Trennungen und Scheidungen tut. Es herrscht immer noch die Vorstellung von einer Versorgerehe statt einer partnerschaftlichen Ehe. Man durfte sich früher nicht scheiden lassen, das war verpönt. Während sich ältere Menschen zu schwer trennen, trennt man sich heute vielleicht auch zu leicht. Wenn zum Beispiel schnell über Whatsapp eine Beziehung beendet wird. Ich finde die Gesamtentwicklung aber eher gut. Früher war die Ehe einfach zu starr. Dann gab es in den 80ern plötzlich einen Scheidungsboom. Ich denke, das muss sich erst noch einpendeln.
Was sind die häufigsten Gründe für eine Scheidung?
Renate Maltry:
Das kommt ganz auf das Alter der Paare an. In jungen Jahren sind Paare mit Beruf und Kinderbetreuung oft überlastet und nehmen sich wenig Zeit für die Paarbeziehung. Die Folge ist oft ein Seitensprung oder eine neue Beziehung. Bei späten Scheidungen haben sich die Paare oft auseinandergelebt oder eine Person erkrankt schwer, beispielsweise an Demenz. Solch eine Herausforderung führt häufig zur Krise. Wenn die Liebe schon vor Eintritt der Krankheit Risse zeigte, kommt es oft schneller zum endgültigen Bruch.
Woran erkennt ein Paar, wann die Zeit reif für eine Scheidung ist und wann die Ehe noch zu retten ist?
Renate Maltry:
Die Ehe kann aus meiner Sicht immer dann gerettet werden, wenn das Paar bereit ist, an sich zu arbeiten. Wenn beide gemeinsam aus der Krise herauskommen wollen. Schwierig wird es, wenn nur eine Person an der Beziehung festhält und die andere die Partnerschaft schon längst abgeschrieben hat.
Ich bin überzeugt davon, dass jede Ehe Krisen braucht. Denn aus jeder Krise kann man lernen und als Paar stärker herauskommen.
Gibt es Grenzen?
Renate Maltry:
Leider erlebe ich in meiner Arbeit aber auch viele schlimme Fälle von Gewalt in der Ehe. Da empfehle ich, frühzeitig einen Schlussstrich zu ziehen. Auch wenn der Partner verspricht, sich zu ändern. Ich habe in meiner langjährigen Arbeit nicht einen Fall erlebt, bei dem sich jemand, der gewaltvoll war, verändert hat.
Gibt es sonst noch Maßnahmen, die man vor einer Scheidung treffen kann, damit diese reibungsloser abläuft?
Renate Maltry:
In meinem Buch haben wir am Ende 10 Tipps für eine konfliktarme Scheidung aufgeführt.
Dazu gehört auf jeden Fall, frühzeitig einen zu schließen. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme. Dadurch kann man einen Scheidungskrieg vermeiden, denn im Vorhinein wurde schon alles festgelegt. Wichtig ist aber, dass es ein individueller Ehevertrag ist, dass er also auf das Paar angepasst ist. Während der Ehe sollte man immer mal wieder schauen, ob die festgehaltenen Punkte so noch passen oder ob der Vertrag noch mal geändert werden muss.
Während eines Scheidungsprozesses ist es auch immer bedeutend, die Sach- und die Beziehungsebene zu trennen. Bei Eltern würde das zum Beispiel bedeuten: Auf Beziehungsebene streiten sich die Eltern, weshalb sie sich ja auch scheiden lassen. Auf Sachebene müssen sie aber in Ruhe miteinander kommunizieren, wenn es zum Beispiel um die Kinder geht.
Gewaltfreie Kommunikation ist sowieso ein essenzieller Punkt im Scheidungsprozess. Also die eignen Wünsche nicht als Forderungen, sondern als Bitten äußern, eigene Bedürfnisse klar kommunizieren, Beobachtungen von Bewertungen trennen und lieber noch einmal nachfragen, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Dabei kann auch ein Perspektivenwechsel hilfreich sein. Sich also immer wieder in die Lage des Gegenübers zu versetzen, denn gegenseitiges Verstehen hilft dabei, Lösungen zu finden.
Privilegien sind in unserer Gesellschaft ungerecht verteilt. Menschen werden aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Sexualität oder ihrer Behinderung diskriminiert. Mit ihren Texten möchte sich Maryline dafür einsetzen, dass sich das ändert. Sie ist zwischen der deutschen und der französischen Kultur aufgewachsen, und die Zweisprachigkeit zog sich auch durch ihr Studium: Bachelor FrankoMedia und Master Deutsch-Französische Journalistik.