Was ist nur gerade im Vereinigten Königreich los?
Ein Anschlag, Fake News, Krawalle, Anstandsproteste und mittendrin Taylor-Swift-Fans. Das UK erlebt gerade die Auswirkungen der Wut-Maschine. Was das mit dem Land macht.
Es beginnt alles mit Taylor Swift. Der Megastar ist längst zu einer feministischen Ikone geworden, die sich von niemandem etwas sagen lässt. In ihren Liedern hinterfragt sie immer wieder Rollenbilder. Außerhalb der Bühne setzt sie sich gegen Diskriminierung ein und wirbt für progressive
Die vielen Fans, die sich »Swifties« nennen – darunter viele junge Mädchen –, vergöttern sie und studieren ihre Bühnen-Choreografien ein.
So auch in Southport im Nordwesten Englands, wo Ende Juli zu Beginn der Sommerferien ein Swiftie-Tanzworkshop für Kinder im Grundschulalter stattfand. Doch der Tag sollte ein tragisches Ende nehmen. Nach dem Stand der aktuellen Ermittlungen passierte Folgendes: Ein 17-jähriger
Es ist eine unfassbare Tragödie. Die Musikerin Taylor Swift ordnet es treffend ein:
Ich bin einfach völlig geschockt. Der Verlust von Leben und Unschuld und das schreckliche Trauma, das allen zugefügt wurde. Das waren nur kleine Kinder in einem Tanzkurs.
Die Familien erhielten landesweit Unterstützung und Beileidsbekundungen. Blumen wurden niedergelegt. Nachrichten über das Attentat gingen um die Welt. Die Anteilnahme ist bis heute riesig: Kein Wunder, denn das Attentat wirkt wie ein Einfall von etwas Bösem in eine heile Welt – ein willkürlicher Mörder tötet friedliche Kinder. Das erzeugt Emotionen. Und genau von diesen leben soziale Netzwerke.
Dort wird die Nachricht vor allem von rechtsextremen Interessengruppen aufgegriffen. Bald grassierten Fake News um das Attentat. Sie verbreiteten sich digital wie ein Lauffeuer. Das Resultat sind Wochen voller Ausschreitungen, Dutzende verletzte Polizist:innen und ein brennendes Asylsuchenden-Heim – aber auch eine Zivilgesellschaft, die sich diesen Irrsinn nicht mehr bieten lassen will und gegen die Randalen und die Ideologien dahinter aufsteht.
Wie konnte es so weit kommen? Und was können wir daraus lernen?
Im Herzen der Wut-Maschine
Die folgenden Sätze geben rechtsextreme Fake News wieder. Das stelle ich so deutlich voran, denn immerhin gelang es diesen Desinformationen, Wellen der Gewalt im Vereinigten Königreich hervorzurufen. Die erlogenen Geschichten könnten einem wirren Paralleluniversum entstammen:
Wahr ist, dass der Täter zur Tatzeit noch minderjährig war und nach britischem Recht Minderjährige nicht namentlich als Täter genannt werden dürfen, bis ein Gericht das beschließt. Das ist mittlerweile passiert – und die Falschnachricht widerlegt.
Wahr ist auch, dass der Angreifer ein gebürtiger Brite ist. Lediglich seine Eltern sind
Ein Tatmotiv ergibt nichts davon – und das ist normal. Selbst bei der wahrscheinlich bestdokumentierten und -analysierten jugendlichen Gewalttat, dem Amoklauf an der Columbine High School aus dem Jahr 1999, worüber zahlreiche Dokumentationen gedreht und Bücher geschrieben wurden,
Ja, das ist unbefriedigend. Denn es ist zutiefst menschlich, eine solche Gewalttat verstehen und erklären zu wollen. Nicht alle Menschen halten den Gedanken aus, dass solche Taten Teil unserer Wirklichkeit sind und sehr oft ungeklärt bleiben. Genau hier können sich Fake News in die Leerstellen setzen. Sie bieten einfache Erklärungsmuster für komplexe Fragen. Diese vorgefertigten Erklärungen greifen viele Menschen nur zu gern auf. Denn ihnen geht es weniger um Wahrheit als um das, was ins eigene Weltbild passt. Das macht Menschen manipulierbar. Rechtsextreme Netzwerke wissen das und nutzen es aus. Tatsächlich hat sich im Netz eine regelrechte Wut-Maschine gebildet, die versucht, Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Hier ihre Vorgehensweise am Beispiel von Southport:
- Desinformationen produzieren: Nach Recherchen des britischen Nachrichtenportals The Independent verbreiteten sich die Lügen über das Attentat in Southport vor allem auf der Plattform X (früher Twitter).
- Willige versammeln, Aktionen auf der Straße anstoßen: Noch am selben Tag des
- Auf prominente Unterstützung und Eskalation setzen: Lucy Connolly ist die Frau eines Stadtrats der englischen Conservative and Unionist Party (Tories) und eine der ersten prominenten Figuren, die sich zu den Protesten äußerte. Auf Twitter/X schrieb sie:
- Daraus ein Politikum machen: Mittlerweile sind die Krawalle in England unter Kontrolle. Was bleibt, sind ausgebrannte Autos, angegriffene Moscheen und Asylsuchenden-Heime. Der nächste Schritt der Wut-Maschine läuft bereits: die Verwendung der Ausschreitungen auf politischer Ebene. Nigel Farage, Führer der rechtspopulistischen Reform-UK-Partei, kümmert sich derzeit um genau dies. Gegenüber dem rechtskonservativen US-Nachrichtensender Fox News versuchte er die fremdenfeindlichen Ausschreitungen als verständliche »Proteste britischer Mittelschichtler« umzudeuten und den neuen englischen Premierminister Keir Starmer (Labour Party), der sie beenden ließ, als »größten Feind der freien Meinungsäußerung in der Geschichte«
Desinformationen, Fake News, Telegram-Gruppen von Willigen, Aktionen auf der Straße, prominente Unterstützende und politische Opportunist:innen – es ist dieselbe Wut-Maschine, die etwa auch den Sturm auf den Reichstag in Deutschland 2020 oder die Trucker-Blockaden (Freedom Convoy) in Kanada 2022 anfeuerte. Parallelen sind deutlich:
- Es gibt keine eindeutigen Anführer der Aktionen. Zwar gibt es Agitator:innen aus dem Neonazi-Spektrum, doch die tatsächliche Organisation passiert dezentralisiert im Netz.
- Im Kern geht es um Anfeindung und Schwächung der jeweiligen Regierungspolitik.
- Es profitieren vor allem Rechtsextreme und rechtspopulistische Politiker:innen und Gruppen.
Die Preisfrage ist: Wer steckt dahinter?
Die viel wichtigere Frage: Wie können wir dafür sorgen, dass diese Wut-Maschine nicht mehr funktioniert? Hier sind 4 Ansätze.
Was gegen die Wut-Maschine wirkt
Was wir jetzt schon wissen: Die Festnahmen von über 900 Menschen, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, werden nicht reichen, um die Wut zu stoppen.
Einige vielversprechendere Ansätze:
- Ökonomische Perspektiven mitdenken: Es ist kein Zufall, dass die Proteste in Großbritannien gerade nach einer Phase der finanziellen Rezession so gewalthaltig sind.
- Gesellschaftliche Verurteilung von Unanständigkeit: Der Kommentar von Lucy Connolly entlarvt die Ideologie, die die Ausschreitungen speist. Nicht umsonst verlangte sie »Massendeportationen jetzt« und sprach von »Bastarden«. Es ist offen gezeigte Menschenfeindlichkeit, die wir in Deutschland aus den Correctiv-Recherchen und Fantasien großer Teile der AfD kennen. Connolly ist deshalb so ungeniert öffentlich, weil sie sich als Teil einer schweigenden Mehrheit wähnt. Deshalb ist es wichtig, dass viele Behörden und Medien die Ausschreitungen scharf verurteilen. Auf der Beerdigung eines der 3 getöteten Mädchen fand etwa der Polizeichef von Southport deutliche Worte:
- Gegen rechtsextremen Kulturkampf aufstehen:
- Symbolisch den Ängsten trotzen: Die Wut-Maschine nährt sich aus Verunsicherung und Angst – von einer bösartigen oder gezielten Messerattacke und der Vorstellung, dass ein unvorhersehbarer Gewaltakt unschuldige Menschen aus dem Leben reißt.
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