»Ich sehne mich nach normaler Erschöpfung«: Eine Ärztin mit Long COVID erzählt
Gerade erkranken wieder mehr Menschen an Corona, die Ärztin und PD-Gastautorin Natalie Grams ist nie genesen. Sie hat ME/CFS nach Long COVID und erlebt, wie wenig darüber bekannt ist. Das möchte sie ändern.
An den Moment, in dem mir klar wurde, dass ich nicht nur Long COVID, sondern auch die chronische Diagnose ME/CFS habe, erinnere ich mich noch ziemlich genau. Bis dahin hatte ich die Hoffnung gehabt und das Ziel verfolgt, nach meiner zweiten Coronainfektion wieder ganz gesund zu werden. Ich wollte die Long-COVID-Krankheitszeit als lange, aber letztlich überwundene Tiefphase verbuchen und nach einigen Monaten dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte mit meinem Leben.
Ich weiß noch, dass ich gebeugt und zittrig in einem Untersuchungszimmer einer spezialisierten Arztpraxis auf einer Liege saß und mit dem Arzt die neuen Befunde besprach. Ich wusste, dass damit alle Kriterien der ME/CFS bei mir erfüllt waren. Und dann sprach er es aus.
An der Wand mir gegenüber hing ein großes Klebeplakat der Südsee. Palmen und weißer Sand, das türkisblaue Meer. Die Ränder pellten sich ein wenig von der Wand ab.
Im Medizinstudium hatte ich gelernt, dass man im Idealfall jemand dabeihat, wenn man eine schwere Diagnose erfährt. Im Moment der Offenbarung geraten Menschen oft in eine Art Schockzustand, in dem sie nachfolgend gar nicht mehr richtig wahrnehmen können, was die Ärzt*innen alles sagen – und wie es nun weitergeht. Genau daran dachte ich in diesem Moment.
Wie auf einer surrealen Metaebene sah ich mich selbst etwas verwackelt dort auf der Patient*innenseite sitzen. Es fühlte sich unwahr an. Ich war doch immer so ein gesunder Mensch gewesen! Ich starrte auf die sich abpellende Südsee.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily