Links in der Krise. Was »woke« sein noch bedeuten kann
Die internationale Linke sei »moralisch bankrott«, hieß es zuletzt in vielen Artikeln. Schuld daran sind die Reaktionen auf islamistische Gewalt. Wo die Linke gerade tatsächlich falsch abbiegt und was sie dringend lernen muss, erklärt ein Zeit-Journalist in seinem neuen Essay.
Wo ist eigentlich Greta Thunberg?
Die weltbekannte Klimaaktivistin und Gründerin der »Fridays for Future«-Bewegung war lange Zeit gern gesehen in deutschen Medien. Mit rechtschaffener Wut beklagte sie das Versagen von Politiker:innen dieser Welt im Angesicht des Klimawandels. Berühmt ist ihr Ausruf bei der Rede auf dem UN-Klimagipfel in New York 2019: »How dare you?« (Deutsch: »Wie könnt ihr es wagen?«). In Thunberg vereinten sich Kritik am Kapitalismus, ein Bewusstsein für strukturelle Ungerechtigkeit und ein aktiver Kampf für eine bessere, sozialere Zukunft. Kaum jemand war so »woke« wie Greta. Und dafür wurde sie vor allem von einer progressiven Linken, die viele ihrer Ziele teilte, als Ikone verehrt.
Heute ist es um die 21-Jährige deutlich ruhiger geworden. Und das hat etwas mit Israel zu tun. Seit einigen Jahren solidarisiert sich Thunberg immer stärker mit dem palästinensischen Volk. Als die palästinensische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 eine Reihe von Massakern in der Negev-Wüste verübte, fand Thunberg kaum Worte des Mitleids für die jüdischen Opfer. Stattdessen teilte sie auf sozialen Medien Accounts, die den Terrorakt verharmlosten oder bejubelten. Der brutale
Nein, das war kein Ausrutscher und keine Unwissenheit. Thunbergs Reaktionen auf das Massaker sind symptomatisch für einen Teil der globalen Linken, die seit dem Terrorakt in einer tiefen moralischen Krise steckt – einer Krise, die rechts natürlich wahrgenommen und genüsslich ausgeschlachtet wird.
Darüber hat der deutsche Journalist Jens Balzer nun ein langes Essay in Buchform geschrieben. »After Woke« heißt es und legt glasklar da, wo sich die »woke« Linke aktuell verrannt hat – und wie sie vielleicht noch zu retten ist. Ein Plädoyer für einen Neustart.
Schwarz und Weiß: Warum ist gerade Israel der Feind?
Jens Balzer analysiert seit Jahren die internationale Linke und ihre aktuellen Trends mit einer kritischen Brille. So hat Balzer, der etwa für die Wochenzeitung »Die Zeit« schreibt, schon 2022 mit »Ethik der Appropriation« ein
Aus »woker« Perspektive ist das ein moralisches Unding. Immerhin hat »der weiße Mann« vielen indigenen Völkern ihren Lebensraum geraubt und andere Grausamkeiten an ihnen verübt. Das alles ist wahr und bedauernswert. Und nun übernimmt er auch noch unreflektiert deren kulturelle Insignien. Und genau hier wirbt »Wokeness« um mehr Achtsamkeit und
Was hier nämlich wirklich stattfindet und worauf Balzer den Finger legt, ist eine vereinfachende Aufteilung der Welt in gute Menschen (woke Alliierte der Unterdrückten) und schlechte Menschen (ignorante, geistige Alliierte der Unterdrücker). Und dieses sehr fragwürdige Schwarz-Weiß-Denken erschöpft sich längst nicht beim symbolischen Sinn oder Unsinn von Kostümen zu Karneval.
Wer Menschen – bei allem berechtigten Mitleid für die Unterdrückten und Wut über strukturelles Unrecht – in simple Schemata wie »Gut und Böse« unterteilt und ihre Unterschiede betont, trifft letztlich eine moralische Wertung. Und diese kann zu leicht zum extremen Schluss führen, nicht jedes Menschenleben als gleichwertig zu betrachten. Genau hier laufen manche Anhänger des »postkolonialen Wokenism« in die Irre, wie Balzer in After Woke dokumentiert und ausführt.
Denn wie einige Vertreter:innen und Influencer:innen der internationalen Linke auf das Massaker des 7. Oktobers reagierten, ist tatsächlich auffällig. Die zentrale Frage des Essays klingt so, als wäre sie direkt an Greta Thunberg gerichtet:
Wie kann es sein, dass jemand, der sich selbst als Protagonistin der politischen Emanzipation versteht, keinerlei Mitgefühl mit den Opfern eines Massakers
Es ist eine neue »Kälte«, die nicht nur Jüd:innen befremdet. Dazu gehören nicht nur vereinzelte unerhörte Umdeutungen des außergewöhnlich brutalen Gewaltaktes einer islamofaschistischen Terrororganisation zu einer Art legitimer
Sondern Balzer kritisiert zu Recht auch »Schweigen und Leere« bei Personen und Accounts, die sonst nicht müde werden, für jedwede soziale Gerechtigkeit zu werben und solidarische Flaggen zu zeigen. Autorin Anastasia Tikhomirova überspitzt dies in einem Beitrag für die Edition F zynisch zu:
Überraschend ist das aber nicht, findet Balzer. Ganz im Gegenteil: Er skizziert nachvollziehbar, wie aus gut gemeinter Wokeness in den letzten Jahren eine ideologische Verhärtung entstand, ein eigenes Weltbild, in dem Sätze wie »alle Weißen sind Rassisten« unwidersprochen stehen bleiben. Dass sich diese Anklage auch gegen Menschen richtet, die selbst von Rassismus betroffen waren und sind, wie Jüd:innen, wird dabei ignoriert. In diesem Schwarz-Weiß-Denken erhalten der Staat Israel und seine Bevölkerung die Rolle als Unterdrücker (weiß, rassistisch, kapitalistisch) und die Palästinenser als unterdrückte Indigene. Die Hamas wird dabei zu – kein Scherz – Guerillas für die richtige Sache romantisiert.
Zur Erinnerung: Die Terrororganisation Hamas überfiel beim Massaker von Reʿim im Oktober 2023 ein Trance-Techno-Festival und filmte sich bei der Jagd auf ihre vielfach jugendlichen Opfer sowie bei den anschließenden Gewalttaten und Morden. Unbewaffnete Besucher auf der Flucht und solche, die sich aus Angst versteckt hatten, wurden aufgespürt, verfolgt und systematisch erschossen. Man muss sich geistig schon sehr verbiegen,
Was habt ihr alle denn gedacht, was Entkolonialisierung bedeutet? Vibes? Aufsätze? Verlierer.
Ermordete Jüd:innen werden hinter hochtrabenden Wörtern wie Entkolonialisierung versteckt und damit entmenschlicht. Und zu Recht zieht Balzer Parallelen zu entmenschlichenden Tendenzen der Linken, die sie schon lange vor Wokeness verinnerlichten. Auch »Alle Bullen sind Schweine« oder »All Cops are Bastards« ist letztlich so eine Entmenschlichung.
Im Relativieren einer Terrortat oder in ihrem Verschweigen liegt diese Entmenschlichung ihrer Opfer. – Jens Balzer in »After Woke«
Bizarr daran ist, dass die islamistische Hamas eben vor allem auch für ein »patriarchales, misogynes und rückwärtsgewandtes« Weltbild kämpft, das den Idealen und Werten woker Linken geradezu diametral entgegensteht.
Dass diese Verrenkungen trotzdem möglich sind – von linken Ikonen wie Greta Thunberg
Und diese wirkten schon damals.
Der Terror der Hamas ist da eine extreme Steigerung des damals schon sichtbaren Hasses und der Gewalt.
Der angebliche Bankrott linken Denkens – und seine Fans
Also ist die woke Linke nun unrettbar verloren?
Nein, wehrt sich Balzer und springt mit After Woke in die Bresche. Denn eine nun stattfindende »moralische Bankrotterklärung« allen linken Denkens ist nur eine Erzählung, die vor allem rechte Kreise genüsslich vorantreiben. Sie finden in der moralischen Krise der progressiven Linken eine ersehnte Steilvorlage, um all ihre Vorurteile zu bestätigen – wie Balzer es ausdrückt –,
Dies will er ihnen nicht durchgehen lassen. Anders gesagt, auch Greta Thunberg ist dieser Tage falsch abgebogen. Das macht die Sache, für die sie lange Zeit ihres Lebens gekämpft hat, aber nicht falsch oder weniger wichtig. Denn nun in allem gut gemeinten linken Streben nur Heuchelei zu sehen, ist kaum mehr als boshafter Zynismus von rechts.
Balzer weiß sehr genau, dass eine neue internationale, rechte Antiwokebewegung eine Linie von Wladimir Putin über Viktor Orban bis zum AfDler Maximilian Krah zieht. Und diese ist es, die die liberale Demokratie bedroht, inklusive allem, wofür linke Aktivist:innen bisher gekämpft haben. Für diese Antiwoken ist jeder moralische Patzer der Linken, jedes Zeichen von ideologischer Schwäche ein gefundenes Fressen. Denn mit solchen Steilvorlagen können sie das Märchen auftischen, nur sie selbst könnten brave Bürger:innen vor einer moralisch verkommenen, gar gefährlichen Ideologie schützen.
Nein, nicht der Abgesang aller Wokeness und ihrer Ideen ist eine Lösung, die diesen antiwoken Autokraten in die Hände spielt,
Und er entwickelt auch gleich Schritte, wie das gelingen kann.
4 Schritte, um »Wokeness« zu retten
Am Anfang muss ein Eingeständnis der Linken stehen, dass der Terror der Hamas und die Reaktionen darauf etwas erschüttert, etwas bloßgelegt haben. Ohne das wird es nicht gehen. Und nein, auch die fortgesetzte Gewalt des israelischen Militärs im Gazastreifen rechtfertigt nicht rückwirkend das, was direkt – teils nur Stunden und weit vor jeder Reaktion Israels – aus einigen Linken herausbrach. Erst dann, wenn diese ideologische Wunde anerkannt, freigelegt und gesäubert wurde, kann es an Heilung gehen. Balzers Ratschläge:
- Woke sein für die eigene Bigotterie: Dass es antijüdische Ressentiments innerhalb der Linken gibt, steht nach dem Massaker außer Frage. Anstatt permanent von anderen zu fordern, sich zu reflektieren, wäre hier eine Selbstreflexion der Linken angebracht, zu der »After Woke« anstoßen kann und will. Insbesondere meint das eine Selbstreflexion bezüglich antisemitischer Vorurteile und Stereotype – die offenbar einen blinden Fleck darstellen. Das müsste dann auch beinhalten, anzuerkennen, dass sich einige Linke in ihrer Auslegung von Konzepten ein Stück weit verrannt haben, welche den Unterbau für diese ideologische Verhärtung bereiteten –
- Akzeptieren von Unsicherheiten: Postkolonialismus, eine Lieblingsdisziplin des linken Diskurses, die ein Abwerfen kolonialer Kultur und eine Rückkehr zu einem »Urzustand« fordert, braucht ein Update. Denn aktuell verleitet er zu einer »unreflektierten Feier des Indigenen«, die manchen Akteuren als Steilvorlage dient, die Welt in gut (Unterdrückte) und böse (Unterdrücker) aufzuteilen. Ein realistischer Blick müsste – so Balzer – betonen, dass »Hybridität, das Unreine, Vermischte als Grundlage von allem« Kulturellen ist. Und statt Unterschieden müssten Gemeinsamkeiten in den Fokus genommen werden.
- Rückbesinnung auf den akademischen Diskurs: »Der Postkolonialismus als solcher ist keineswegs antisemitisch«, betont Balzer am Ende seines Essays. Er gibt die Schuld einem nachgelagerten Milieu lauter und meinungsstarker Aktivisten, die diese Theorien um- und teilweise falsch deuten. Hier braucht es auch in der öffentlichen Wahrnehmung mehr Differenzierung, was mit komplexen Wörtern wirklich gemeint ist, was Aktivist:innen nur in Mikrofone raunen und was eine verzerrte Interpretation von antiwoken Feinden ist.
- Neue Vorbilder: Vielleicht ist es an der Zeit, so darf man in After Woke zwischen den Zeilen lesen, sich von den irrgehenden linken Vorbildern zu lösen.
Jetzt könnte man Balzer natürlich entgegenhalten, dass er selbst hier billig von der Kanzel predigt. Er lebt weder in einem unsicheren Land noch kämpft er wegen seiner Identität gegen Vorurteile oder Verfolgung an. Er ist doch ein erfolgreicher weißer Cis-Mann und sollte lieber mal seine eigenen Privilegien hinterfragen, anstatt woken Linken, postkolonialen Intellektuellen oder queerfeministischen Aktivisten irgendetwas zu erklären. Warum nicht lieber schweigen und das Feld für jemanden räumen, der »besser« geeignet ist? Würde man das entgegnen, hätte man damit aber nur bewiesen, wie tief die ideologische Verhärtung und ihre Abwehrreflexe bereits sitzen.
Titelbild: Natalia Blauth - copyright