Diese jungen Progressiven wollen, dass die AfD bei den Landtagswahlen möglichst wenig Macht erlangt. Dafür haben sie eine digitale Wahlhilfe gebaut – die mancherorts auch die CDU empfiehlt.
Die Thüringer AfD ist rechtsextrem. Aufgrund dieser Diagnose beobachtet das Thüringer Amt für Verfassungsschutz den dortigen AfD-Landesverband genau.
Es ist erwiesen, dass dieser sich »in ziel- und zweckgerichteter Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung« richtet, heißt es im aktuellen Verfassungsschutzbericht.
Die AfD in Thüringen macht aus dieser Haltung schon lange keinen Hehl mehr: Sie beschäftigt ungeniert-offen rechtsextremes Personal, allen voran ihren Spitzenkandidaten Björn Höcke, der immer wieder Naziparolen benutzt und laut Gerichtsurteil »Faschist« genannt werden darf.
Doch auch in Sachsen ist die AfD extrem und treibt die Bundespartei ideologisch immer weiter ins Extreme. Nicht umsonst haben viele Menschen Angst, dass an diesem Wochenende Demokratiefeind:innen von Rechtsaußen auf demokratischem Weg Macht in 2 deutschen Bundesländern gewinnen.
Doch was kann man dagegen tun?
Eine Antwort darauf heißt: taktisch wählen.
Dahinter steckt die Idee, eventuell nicht bei der eigenen Lieblingspartei ein Kreuzchen zu machen, sondern so, dass am Ende möglichst wenig Macht für Blau(-Braun) dabei herauskommt.
Doch damit das Wirkung zeigt, muss man genau wissen, was man tut und wohin das Kreuzchen muss. Das junge Onlineportal taktisch-wählen.de will genau hierbei helfen. Ich habe mit einem der Initiator:innen gesprochen.
Chris Vielhaus:
Du und deine Mitstreiter:innen rufen mit der Initiative dazu auf, taktisch zu wählen. Was heißt das genau?
Tristan Runge:
Aktuellen Umfragen zufolge könnte die AfD sowohl in Sachsen als auch in Thüringen ungefähr 1/3 der Sitze im Landtag holen. Tritt dieser Fall ein, hat sie künftig eine sogenannte Sperrminorität im Landtag, die ihr unabhängig von der Regierungskoalition sehr viel Macht gibt. Auch wenn sie nur in der Opposition ist.
Sie könnte dann viele wichtige Vorhaben blockieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die Landesregierung auf diese Weise erpressbar wird. Sie müsste der AfD politisch etwas anbieten, um voll handlungsfähig zu sein. Das ist die akute Gefahr, die wir sehen.
Taktisch-wählen.de ist ein datenbasiertes Portal, auf dem Wahlberechtigte ihre Postleitzahl eingeben und wahlkreisspezifische Empfehlungen erhalten können. Unser Ziel mit diesen taktischen Wahlempfehlungen ist es, eine drohende Sperrminorität der AfD im Thüringer und Sächsischen Landtag zu verhindern. Aktuell stehen bis zu 3 Parteien knapp davor, aus den Landtagen zu fliegen – wenn das passiert, ist der AfD die Blockademacht sicher.
Wer steht hinter taktisch-wählen.de?
Tristan Runge:
Wir sind eine Gruppe bestehend aus 10–15 jungen Leuten, vorrangig aus Sachsen und Thüringen. Ich selbst komme aus Grimma in Sachsen. Zusammengefunden haben sich die meisten von uns auf den Demos gegen rechts zu Anfang des Jahres. Viele hatten aber schon vorher einen politisch-aktivistischen Hintergrund. Unter uns sind auch 2 Web-Developer, die unser Onlinetool gebaut haben und pflegen.
Taktisch wählen klingt rational. Aber ist das nicht eine Bankrotterklärung für die Demokratie, wenn man nur wählt, um das Worst-Case-Szenario zu verhindern?
Tristan Runge:
Es ist natürlich frustrierend, dass wir uns eigentlich gerade keine andere Wahl mehr leisten können und nicht rein für unsere Ideale und politischen Inhalte kämpfen. Doch wir sind der festen Überzeugung, dass es aktuell die höchste Priorität hat, die demokratischen Parteien unabhängig ihrer politischen Färbung zu stützen, um zu verhindern, dass die AfD die Sperrminorität erhält. Unabhängig vom Ausgang muss in den nächsten 5 Jahren sowohl von der Landesregierung als auch von der Zivilgesellschaft viel getan werden, um die AfD zu schwächen und nicht erneut in diese Zwangslage zu geraten. Dann kommt die Zeit, für die jeweiligen politischen Inhalte zu kämpfen.
Das kann im Zweifelsfall natürlich auch heißen, ein Kreuzchen bei der CDU zu machen. Die inszeniert sich zwar gerade als einzige Rettung vor der AfD in Ostdeutschland. kaum noch ab. Wie schätzt ihr die Situation ein?
Tristan Runge:
Zunächst einmal ist es nicht verwunderlich, dass Parteien kurz vor der Wahl Strategien fahren, die sie selbst in den Mittelpunkt stellen. Ich kann es nachvollziehen, dass die CDU diesen Kurs fährt, um sich selbst auch in anderen Wähler:innenkreisen als sinnvolle strategische Wahl zu bewerben. Andere Parteien machen das natürlich auch. Das ist Wahlkampf, und das ist ihr gutes Recht.
Genau vor diesem Hintergrund war es uns wichtig, mit unserem Portal eine neutrale, datengestützte Grundlage zu bieten, um ganz konkret schauen zu können, was im eigenen Wahlkreis klug wäre, um am Ende die AfD-Sperrminorität zu verhindern. Wir geben pro Wahlkreis eine Empfehlung für Erst- und Zweitstimme. Bei der Erststimme empfehlen wir immer den oder die Direktkandidat:in mit den besten Chancen gegen den oder die AfD-Kandidat:in. In manchen Wahlkreisen ist das der oder die Direktkandidat:in der CDU – obwohl wir auch explizit noch mal geschaut haben, ob sich die entsprechenden Kandidat:innen auch wirklich zur Brandmauer bekennen. In anderen Wahlkreisen sind es dann vielleicht die Linken, die Grünen oder eben die SPD.
In Wahlkreisen, in denen die AfD keine Chance auf das Direktmandat hat, sondern 2 demokratische Kandidat:innen um dieses konkurrieren, geben wir keine Empfehlung für einen taktischen Einsatz der Erststimme ab.
Unser Ziel ist klar: Wir wollen das Stimmgewicht der AfD möglichst kleinhalten. Das bedeutet auch, viele Direktmandate zu verhindern. Denn wir sind der Überzeugung: Jeder Wahlkreis, der von der AfD vertreten wird, ist schlecht vertreten. Der Rest ist den demokratischen Parteien überlassen.
Eine Partei, die wohl ein 2-stelliges Wahlergebnis in Sachsen und Thüringen erwarten kann, fehlt allerdings auf eurem Portal: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Tristan Runge:
Wir haben auf der Seite transparent gemacht, warum für die Empfehlung für die Zweitstimme gewisse Kriterien erfüllt sein müssen. Dazu gehört, dass die jeweiligen Parteien akut von der 5%-Hürde bedroht sein müssen, was beim BSW nicht der Fall ist. Hinzu kommt, dass sich das Bündnis Sahra Wagenknecht lange nicht dazu bekannt hat, die Brandmauer gegen die AfD aufrechterhalten zu wollen. Dies hat uns noch mal zusätzlich darin bestärkt, die Partei nicht aufzuführen, da wir da kein Risiko eingehen wollen.
Du bist selbst in Sachsen aufgewachsen und kennst die Stimmung vor Ort sehr genau. Wie kann es gelingen, der AfD den Nährboden zu entziehen?
Tristan Runge:
Ich bin in Grimma in der Nähe von Leipzig aufgewachsen und zur Schule gegangen. Rechte waren dort schon immer sehr präsent. Um das zu merken, braucht man nur die Straße entlangzugehen. Was noch mal eine ganz neue Dynamik in die Situation vor Ort gebracht hat, waren die Coronaproteste. Am Ende wusste da auch niemand mehr, wofür oder wogegen man eigentlich genau war – Hauptsache, man war dagegen. Offen rechtsextreme Parteien wie die »Freien Sachsen« haben in dieser Zeit noch mal deutlich an Zulauf gewonnen.
In diesem Klima waren meine Mitschüler:innen und ich 16, also in dem Alter, wo man anfängt, sich ein wenig mit Politik zu beschäftigen. In unserer Klasse gab es dann eine Art Polarisierung: Auf der einen Seite diejenigen, die sich abends mit den Rechten zum Trinken getroffen haben und bald auch mit den dazugehörigen blöden Sprüchen und Parolen aufgefallen sind – und diejenigen, die das nicht getan haben.
Wenn man sich dann noch dazu entschließt, sich politisch zu engagieren, und etwas progressiver unterwegs ist, merkt man schnell, wie sehr einem der Hass von unterschiedlichen Seiten entgegenschlägt. Selbst wenn es um etwas vermeintlich Unkontroverses wie unsere Skatebahn im Ort geht, die geschlossen wurde und für deren Erhalt wir uns eingesetzt haben. Ich hatte das Glück, nie selbst das Ziel körperlicher Angriffe zu werden. Aber allein die verbalen Attacken machen schon einiges mit einem 16-Jährigen.
Was motiviert dich trotz dieser Erfahrungen, laut zu bleiben und dich nicht mundtot machen zu lassen?
Tristan Runge:
Primär ist es die Gefahr, mit der wir uns in Gestalt der AfD hier konfrontiert sehen. Und damit sind wir nicht allein. Es hat uns extrem viel Auftrieb gegeben, als wir gesehen haben, wie viele Menschen unser Tool schon kurz nach dem Start genutzt haben. Wir sind gestartet mit dem Gefühl: »Wir machen das mal, und dann schauen wir, ob es irgendwie auf Interesse stößt«. Und nach 3–4 Tagen haben bereits 50.000 Leute die Seite besucht. Mittlerweile sind es über 130.000 abgerufene Wahlempfehlungen. Wenn dann noch Nachrichten aus dem Umfeld, zum Beispiel von der früheren Biologielehrerin, kommen, die das Tool nun nutzen und fleißig weiterempfehlen, gibt das einem schon einen ordentlichen Schub.
In jedem Fall merken wir, dass es für viele Wähler:innen hier ein großes Thema ist, der AfD nicht einfach so das Feld zu überlassen. In Thüringen etwa sind laut Befragungen noch 35% der Wahlberechtigten unentschlossen. Selbst da ist also noch nichts entschieden. Schon jetzt erreichen uns täglich Dutzende Anfragen, wann wir denn das Portal auf Brandenburg erweitern würden.
Wie nimmst du die Stimmung in deinem Umfeld so kurz vor dieser so wichtigen Wahl wahr?
Tristan Runge:
Natürlich haben viele Menschen schlicht und ergreifend Angst vor dem, was da kommen könnte. Hinzu kommen Frust und Resignation angesichts der Wahlumfragen – eine Ratlosigkeit darüber, was man als Einzelne:r tun kann. Aber ich sage es noch einmal: Angesichts dieser Situation ist es aktuell so wichtig, jetzt noch mal durchzupowern und das Schlimmste zu verhindern. Im besten Fall erkaufen wir uns so noch mal 5 Jahre für die Demokratie, in der es dann seitens der Demokrat:innen gilt, in der inhaltlichen politischen Arbeit ranzuklotzen.
Aber wie kann das konkret aussehen?
Tristan Runge:
Meine Erfahrung beweist, wie schwer es die Zivilgesellschaft hier hat, vor allem im ländlichen Raum. In diesem Klima ist es dann natürlich ein absoluter Sündenfall, wenn Gelder für die wenigen verbliebenen sozialen Projekte gestrichen werden. So wie es auch in meiner Heimatstadt Grimma geschehen ist, wo von einem Jahr auf das andere einem emanzipatorischen Jugendprojekt der Stecker gezogen wurde und die Sozialarbeiterin entlassen werden musste.
Überall da, wo die wenigen verbliebenen staatlichen, sozialen und demokratischen Strukturen gestrichen werden, ist es, als würde man Brandbeschleuniger ins Feuer kippen. Wer kann sich dann noch ernsthaft über Frust wundern?
Es ist die Aufgabe von den Kreis- und Landtagen – übrigens überall in der Republik –, diese Strukturen zu erhalten. Wir müssen die Finanzierung für genau solche Projekte sichern, um ganz unten an der Basis wieder eine starke Zivilgesellschaft aufbauen zu können, die sich gegen die Extremist:innen wehren kann.
Du kennst Wahlberechtigte in Sachsen oder Thüringen, die von taktisch-wählen.de erfahren sollen? Dann schicke ihnen doch einfach dieses Interview oder den Link zum Portal!
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit hat wenig Reibungspotenzial: Wer würde schon ernsthaft behaupten, für weniger Gerechtigkeit zu sein? Chris zeigt, wie das konkreter geht. Dafür hat er erst Politik und Geschichte studiert und dann als Berater gearbeitet. Er macht die Bremsklötze ausfindig, die bei der Gesundheitsversorgung, Chancengleichheit und Bildung im Weg liegen – und räumt sie aus dem Weg!