Dein Wissen hat Grenzen: Was du davon hast, wenn du das zugibst
»Ich habe mich geirrt« oder »Ich weiß es nicht«: Sätze wie diese kosten Überwindung – und machen dich stärker!
Ob ich schon das neue Buch gelesen hätte, fragte mich vor Kurzem eine Bekannte. Von dieser bekannten feministischen Autorin, die ich doch bestimmt kennen würde. Schon während ich nickte, schämte ich mich. In Wahrheit war mir der Name der Autorin nämlich so fremd wie das japanische Schriftsystem. Nichts hatte ich je von ihr gelesen. Doch zugeben konnte ich mein Unwissen nicht.
»Noch nie gehört«, »Davon habe ich keine Ahnung« oder »Ich weiß es nicht«. Wie viel Überwindung Sätze wie diese kosten können, haben sicher viele schon erlebt.
Wie uns intellektuelle Bescheidenheit persönlich und als Gesellschaft weiterbringt, was wir uns dabei von Zukunftsforscher:innen abschauen können und warum wir viel lieber recht haben, erfährst du in diesem Text.
Denken wie Wissenschaftler:innen: Was, wenn ich falsch liege?
Eine meiner Lieblingspodcaster:innen heißt Marie Beecham. In
So berichtet sie in
Beecham praktiziert das, was in Psychologie und Philosophie als »intellektuelle Bescheidenheit« oder »intellektuelle Demut« bekannt ist. Sie erkennt an, dass sie falsch liegen und nicht alles wissen kann. Sie ist bereit, sich neuen Sichtweisen zu öffnen und Standpunkte zu revidieren. Diese Demut hat nichts mit mangelndem Selbstvertrauen zu tun, sondern vielmehr mit der Erkenntnis, dass alle Menschen fehlbar sind.
In seinem Buch
Intellektuell bescheidene Menschen sind sympathischer und offener
Nun fühlt es sich aber meistens ganz gut an, recht zu haben. Was also ist der Gewinn, wenn wir mehr intellektuelle Bescheidenheit erlernen?
Ich denke an einen Freund, der diese Haltung verinnerlicht hat. Politisch sind wir unterschiedlicher Meinung – da ist Streit eigentlich vorprogrammiert. Doch wenn wir über politische Themen sprechen, nimmt er sich oft einige Tage Zeit, um darüber nachzudenken – und meldet sich dann mit einer sorgfältig abgewogenen Antwort. Seine Haltung entschleunigt und gibt mir die Möglichkeit, ebenfalls in Ruhe eine Position zu entwickeln. Unser nächstes Gespräch kann ich dann oft kaum erwarten.
Studien zeigen, dass Menschen, die intellektuelle Bescheidenheit an den Tag legen, sympathischer wirken und dass andere eher Lust haben, sich mit ihnen zu unterhalten – selbst wenn sie ihre politischen Meinungen nicht teilen. So waren in einem Experiment der Philipps-Universität Marburg COVID-19-Impfgegner:innen eher bereit, sich mit Befürworter:innen zu unterhalten (und andersherum), wenn das Gegenüber sagte:
Zudem sind intellektuell bescheidene Teilnehmer:innen selbst offener für Gespräche mit Andersdenkenden. Sie hegen ihnen gegenüber positivere Gefühle, sind
Intellektuelle Bescheidenheit kann also dazu beitragen, dass wir uns gegenseitig weniger »triggern« und Fronten nicht so schnell verhärten.
Wie intellektuell bescheiden jemand ist, hängt übrigens auch vom Thema ab. So halte ich mich bei einer Diskussion um den Krieg im Sudan wahrscheinlich eher zurück und stelle viele Fragen, weil mir bewusst ist, dass ich keine Expertin bin. Geht es hingegen um Klimaschutzmaßnahmen, denke ich eher, dass ich Bescheid weiß – und zeige weniger Demut. Das liegt nicht unbedingt nur daran, dass ich mehr Expertise im Bereich Klima habe, es hängt auch davon ab, wie sehr ich das Thema mit meiner Identität verknüpfe.
In unserer Gesellschaft gelten Zweifel als Zeichen der Schwäche
Ganz ehrlich: Wann hast du das letzte Mal deine Meinung über etwas geändert, was dir wirklich am Herzen liegt, und das dann auch offen zugegeben?
Wer die Kunst der positiven Selbstdarstellung meistert, hat oft mehr Chancen auf Erfolg – egal ob in der Schule oder im Beruf.
Dabei sind Psycholog:innen der Meinung,
Unser Selbstbild soll nicht wanken
Doch unsere Psyche macht es uns oft schwer, intellektuell bescheiden zu sein. »Wir wollen unser Selbstbild stark und stabil halten«, erklärt Larissa Knöchelmann, Postdoc an der Philipps-Universität Marburg. Dazu gehöre das Gefühl, mit sich im Reinen zu sein und ein positives Selbstbild zu bewahren. Sich einzugestehen, etwas nicht zu wissen oder sich geirrt zu haben, könne die eigene Unvollkommenheit offenbaren und
Zu unserem Selbstbild gehört auch, welchen Gruppen wir uns zugehörig fühlen. Ich identifiziere mich als Feministin. Meine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe signalisiere ich unter anderem durch die Lebensentscheidungen, die ich treffe, die Sprache, die ich verwende – und die Bücher, die ich lese.
Als ich dann die Autorin nicht kannte, von der mir meine Bekannte erzählte, fühlte sich meine Ahnungslosigkeit plötzlich bedrohlich an. In meinem Kopf ging es nicht nur um das Buch, sondern um die Frage: Bin ich feministisch genug, wenn ich diese Autorin nicht kenne? Gehöre ich dann noch dazu?
»Zweifel zuzugeben, geht eigentlich nur dann, wenn ich mich sicher fühle und nicht befürchte, dass die anderen mich vor die Tür schicken, wenn ich etwas Falsches sage.« – Larissa Knöchelmann, Postdoc an der Philipps-Universität Marburg
Wenn wir uns derart bedroht fühlen, wird unsere Amygdala aktiviert – das Angstzentrum unseres Gehirns, das direkt an der Rationalität vorbeirauscht und
Gleiches gilt für Momente, in denen wir auf Informationen stoßen, die unseren Überzeugungen widersprechen. Hört ein FDPler, dass die freie Marktwirtschaft ungerecht sei, oder ein zutiefst christlicher Mensch, dass es Gott nicht gebe, fühlen sich beide in ihrem Kern schnell angegriffen und versuchen ganz intuitiv, ihre Gruppe zu verteidigen. Da fällt es schwer, sich anderen Perspektiven zu öffnen.
Freude am Irren entwickeln
Trotz allem: Intellektuelle Bescheidenheit lässt sich erlernen. Nur wie?
Um das herauszufinden, hat Adam Grant Menschen interviewt, die Zweifeln zu ihrem Beruf gemacht haben: Zukunftsforscher:innen. In zahlreichen Gesprächen stellte Grant fest, dass sie ihre Überzeugungen sogar gerne infrage stellen. Sie haben Freude am Irren. Wenn der eigene Job fordert, künftige Entwicklungen möglichst präzise vorherzusagen, ist ein stures Festhalten an einer Annahme eher kontraproduktiv.
So sagt die US-amerikanische Zukunftsforscherin Kjirste Morrell: »Ich sehe keinen Vorteil darin, mich noch länger zu irren. Es ist viel besser, wenn ich meine Ansichten schneller ändere.« Ihr Kollege Jean-Pierre Beugoms drückt es so aus: »Falschzuliegen ist kein Grund, deprimiert zu sein. Sag: ›Hey, ich habe etwas herausgefunden.‹«
Die eigene Ahnungslosigkeit zu akzeptieren, ist manchmal schon schwer genug – aber sich auch noch darüber freuen?
Eine
Mitglieder der Werte-Gruppe zeigten in anschließenden Debatten ein höheres Maß an intellektueller Bescheidenheit. Sie waren eher bereit, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen und offener für die Perspektiven anderer zu sein als die Getränke-Gruppe. Wieso? Weil sie sich durch die Selbstreflexion bewusst gemacht hatten, was ihnen wichtig ist. Das steigert das Selbstwertgefühl und macht weniger »angreifbar«.
»In Protesten oder Kämpfen gegen Ungerechtigkeit braucht es auch starke Überzeugungen«
Um intellektuelle Bescheidenheit geläufiger zu machen, brauche es neue Vorbilder, sagt Larissa Knöchelmann. Stelle dir vor, Markus Söder würde in einer Talkshow – wohl dem Ort maximaler Nichtbescheidenheit – zu einer Grünen-Politikerin sagen: »Interessantes Argument, das wusste ich noch nicht, erzählen Sie mir mehr!«
In einem politischen Klima, in dem jeder Irrtum dem politischen »Gegner« als gefundenes Fressen dient, ist das schwer vorstellbar. »Doch wenn Menschen das im Fernsehen sehen würden, wäre es für sie im Alltag vielleicht auch leichter, es selbst anzuwenden«, sagt Knöchelmann.
Aber Moment mal: Ist es wirklich ratsam, immer bescheiden zu sein? Gibt es nicht auch Momente, in denen es wichtig ist, eine starke Meinung zu vertreten? Eben weil die Söders dieser Welt so schrecklich von sich überzeugt sind? In einer Welt, in der einige Stimmen noch immer unterdrückt werden, in der von Frauen,
»Ich würde nicht behaupten, dass es gut ist, wenn wir alle maximal intellektuell bescheiden sind«, räumt Larissa Knöchelmann ein. So brauche es in Kämpfen gegen Ungerechtigkeit starke Überzeugungen und Wut, damit Menschen auf die Straße gingen und etwas bewirkten. Die Frauenbewegung im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts wäre sicher nicht so erfolgreich gewesen, hätten alle Frauen dagesessen und gesagt: Wir wissen einiges, aber so richtig wissen wir es auch nicht. »Manchmal ist es wichtig, fordernd aufzutreten und für die eigene Meinung einzustehen, obwohl man weiß, dass man nicht alles weiß.«
Für mich sind Menschenrechte eine rote Linie, über die ich nicht diskutieren möchte.
Doch anderswo nehme ich mir vor, mein Nichtwissen und meine Irrtümer mehr wie Zukunftsforscher:innen zu sehen: als Chance, mein Denken weiterzuentwickeln. So schreibe ich meiner Bekannten ein paar Tage nach unserem Treffen eine Nachricht und gestehe, dass ich die Autorin, von der sie erzählt hatte, nicht kenne. Begeistert über mein Interesse bietet sie an, mir das Buch zu leihen. Und ich freue mich – denn ich habe etwas Neues gelernt.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily