Überall fehlen Fachkräfte?! So schlimm ist es wirklich
Was die Zahlen sagen – und wie ein Familienunternehmen in einer umkämpften Branche Abhilfe schafft.
Wer durch die Innenstädte spaziert, hat es mitbekommen: Schon seit Längerem hängen in vielen Schaufenstern Stellenangebote aus. Verkaufspersonal in Bekleidungsgeschäften oder in Bäckereien wird gesucht. Das Lieblingscafé schließt vielleicht inzwischen schon früher am Tag, manche Restaurants haben ihre Speisekarten verkleinert.
In den Medien gibt es die Erklärung dazu: »Fachkräftemangel«.
Aber wo fängt Fachkräftemangel an und wie verbreitet ist er? Sind alle Branchen und Regionen betroffen? Welche Lösungen gibt es? Und wie passt das alles mit der schwachen wirtschaftlichen Lage zusammen, in der sich das Land gerade befindet? Ich wollte es genauer wissen und dem Phänomen auf den Grund gehen.
Diesem Restaurant fehlt es nicht an Angestellten
Die Suche beginnt in Münster. Wilma von Westphalen bemerkt, dass viele in ihrer Branche zu kämpfen haben, und ist darüber besorgt. Etliche müssten wegen des Personalmangels das Menü abspecken, doch dann passe irgendwann der Umsatz nicht mehr. »Es fühlt sich für mich an, als sei es der Anfang vom Ende, wenn man sein Angebot einschränken muss«, sagt die Gastronomin. Sie betreibt in Münster unter anderem das Restaurant »Großer Kiepenkerl« und kämpft mit denselben Problemen wie alle, findet aber auch immer wieder Lösungen.
Von außen wirbt der Kiepenkerl mit Tradition um Kundschaft: rote Backsteinziegel, große Bogenfenster, Bleiverglasung in mehreren Farben. Auf der Terrasse verabschieden Gäste die letzten warmen Sonnenstrahlen bei großen Bieren und deftigen Speisen. Dass der Kiepenkerl mit der Zeit geht, zeigt aber nicht nur der Blick auf die Speisekarte: Hier gibt es Jägerschnitzel und Hackbraten aus Fleisch, aber eben auch vegetarische und vegane Varianten der Klassiker. Hochwertiges Essen, das seinen Preis hat: Das Hauptgericht gibt es für knapp unter 20 Euro und aufwärts.
6 Wochen Urlaub, betriebliche Altersvorsorge, flexible Arbeitszeitmodelle, Vergütung über Tarif, flache Hierarchien – das klingt nach Arbeitnehmer:innenparadies. Der scheinbar einzige Haken: Arbeiten muss man dann doch noch.
Die Inhaberin hat auch mit diesem Rezept Erfolg: Während alle von Fachkräftemangel reden, spricht Wilma von Westphalen inzwischen von einem Einstellungsstopp. Und das, obwohl Fachpersonal in der Gastronomie nicht gerade leicht zu finden ist. Köch:innen werden praktisch überall gesucht, bundesweit bezeichnet die Arbeitsagentur den Beruf als Engpassberuf, in Nordrhein-Westfalen steht er unter Beobachtung, sozusagen auf der Vorwarnstufe.
Fachkräftemangel, Arbeitskräftemangel – oder gar beides?
Fachkräftemangel bezeichnet den Zustand einer Volkswirtschaft, in dem eine bedeutende Anzahl von Arbeitsplätzen nicht durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit bestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten besetzt werden kann, weil auf dem Arbeitsmarkt keine ausreichende Anzahl entsprechend qualifizierter Fachkräfte zur Verfügung steht.
Also: Sind wir jetzt voll angekommen im Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel?
In Nürnberg können wir mehr erfahren: Jedes Quartal veröffentlicht das
Seitdem gab es eine Delle in der Coronapandemie, als nur 844.000 Stellen offen waren, Ende 2022 dann ein Allzeithoch von fast 2 Millionen. Anschließend sank die Zahl wieder. Diese Auf- und Abwärtsbewegungen hängen vor allem davon ab, wie gut die Wirtschaft läuft. In der Pandemie haben weniger Unternehmen Stellen ausgeschrieben. Derzeit läuft es wirtschaftlich ebenfalls nicht rund, das Stellenangebot sinkt also. Das steckt hinter der Nachricht des ifo-Instituts, dass sich die Lage leicht entspannt hat.
Das sagen die Zahlen aus – und so schlimm ist es wirklich
Wie viele der freien Stellen davon sind jetzt für Fachkräfte und wie dringend müssen sie besetzt werden? Rund 75% davon waren Ende 2023 für Fachkräfte mit Ausbildung oder weiter Spezialisierte, etwa mit Uniabschluss,
Interessant sind die Gründe, warum Stellen nicht besetzt werden können. 31,4% der Unternehmen gaben an, es gebe schlicht zu wenig Bewerber:innen, 24,6% führten nicht ausreichende Qualifikationen an. Das sind 2 klassische Gründe, die zur Definition des Fachkräftemangels laut Bundesagentur für Arbeit passen.
Aber: 18,5% der Unternehmen bemängelten zu hohe Gehaltsvorstellungen von Bewerber:innen, 15,3% gaben an, Bewerber:innen seien nicht bereit, die Arbeitsbedingungen zu erfüllen. Man könnte auch sagen: Die angebotenen Arbeitsbedingungen sind zu schlecht und/oder das Gehalt zu niedrig. Das klingt eher nach einem hausgemachten Problem, weniger nach generell fehlenden Menschen. Es geht bei etwa 1/3 der offenen Stellen also letztlich ganz klassisch um Angebot und Nachfrage, um Arbeitsbedingungen, um den viel zitierten Markt.
Okay, aber gibt es denn jetzt »den großen Fachkräftemangel« oder nicht?
Fakt ist: Es gibt Mangel, er ist aber nicht in allen Branchen und auch nicht in allen Regionen gleich. Alle Branchen und Regionen können wir hier nicht besprechen, aber ein paar Beispiele aus der neuesten Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit helfen vielleicht schon weiter.
Schauen wir uns die Entwicklung der vergangenen Jahre nach Qualifikationsanforderungen an, zeigt sich ein Trend nach oben, mit Dellen bei wirtschaftlichen Einbrüchen, so wie jetzt gerade. Der größte Teil der Engpässe befindet sich im Bereich der Fachkräfte, darunter fallen Berufe mit einer 2–3-jährigen Ausbildungszeit. Zur Gruppe der Spezialist:innen gehören Berufe, die Planungs- und Kontrolltätigkeiten oder Führungsaufgaben in Großunternehmen umfassen. In der Regel braucht man dafür ein abgeschlossenes Studium. Expert:innen bekleiden hochkomplexe
Hier einige ausgewählte Beispiele für Engpassberufe. Bei Fachkräften fehlen:
- Personal in Pflege und Gesundheit,
- Handwerker:innen,
- Berufskraftfahrer:innen,
- Gastronomiefachkräfte.
Bei Spezialist:innen fehlen etwa:
- Erzieher:innen,
- Kräfte in Pflege und Therapie,
- Personal in technischen Berufen, wie im IT-Bereich oder der Bauplanung.
Bei den Expert:innen fehlen unter anderen:
- Ärzt:innen,
- Pharmazeut:innen,
- Personal in IT und Elektrotechnik.
Generell werden Menschen, die die Energiewende mit ihren Händen Realität werden lassen, fast überall gesucht. Viele Bereiche würde man intuitiv in Pandemiesprech als »systemrelevant« bezeichnen. Doch es gibt auch regionale Unterschiede. Einige Berufe werden an manchen Orten stärker gesucht als an anderen. Auch bei bundesweiten Engpassberufen gibt es regionale Ausnahmen. Bei den Ärzt:innen sieht die Deutschlandkarte gemischt aus. In Berlin/Brandenburg gibt es keinen Mangel, in Schleswig-Holstein, NRW, Hessen und Sachsen steht der Berufszweig auf der Kippe zum Mangel und in den restlichen Bundesländern gibt es einen klaren Mangel.
Ganz ähnlich sieht die Karte auf dem Bau und im Handwerk (Hochbau) aus.
Das Ja und Nein füllt sich also langsam mit Leben. Es gibt in etwa 1/3 der Berufe einen Fachkräftemangel. Bei einigen bundesweit, bei anderen mit regionalen Unterschieden. Kleine Unternehmen haben es offenbar besonders schwer, die Lücken zu füllen. Die Stellenerhebung zeigt: Es gibt auch einen beträchtlichen Bereich, in dem Unternehmen durch höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen selbst Abhilfe schaffen können.
Alexander Kubis vom IAB arbeitet zur Frage des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels, er betreut auch die schon erwähnte Stellenerhebung. Er sagt dazu:
Wir hatten in meinen Augen nie einen sogenannten Arbeitskräftemangel. Im Helferbereich haben wir nach wie vor über 20% Arbeitslosigkeit. Was wir haben, sind aber zunehmende Fachkräfteengpässe, verbreitet in vielen Bereichen.
Was er sagt, klingt ernst, aber schon weit weniger alarmistisch, als es uns die Schlagzeilen oft entgegenbrüllen.
Das dicke Ende kommt erst noch
Jetzt kommt die Demografie ins Spiel. Laut Alexander Kubis gibt es 2 Arten von offenen Arbeitsstellen, einmal solche, die entstehen, wenn die Wirtschaft brummt, und solche, die irgendwann neu besetzt werden müssen, weil zum Beispiel Menschen in Rente gehen, was seltener passiert. »Das sind teils sehr wichtige Stellen und die sind weniger konjunkturabhängig«, sagt Kubis.
Jährlich kommen weniger junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt, als alte Menschen ihn verlassen. Eine neue Untersuchung des unternehmensnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) kommt zu dem Ergebnis: 2040 sollen 85 Millionen Menschen in Deutschland leben,
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