So wurdest auch du als Kind diskriminiert (ohne es zu merken)
Viele Eltern denken, sie wüssten besser, was ihre Kinder brauchen. Sie entscheiden, wann die Kleinen ins Bett gehen, wie viel sie essen und womit sie spielen. Doch das ist »Adultismus«.
»Nichts passiert!« Diesen Satz haben viele von uns schon einmal gehört oder selbst gesagt, wenn ein Kind hingefallen ist. Mit diesen Worten wollen wir es beruhigen. Vielleicht haben wir auch keine Lust auf das Geweine und wollen uns nicht mit den Gefühlen des Kindes auseinandersetzen. Aber genau diese sprechen wir ihm ab, wenn wir den Sturz als »nicht schlimm« bezeichnen. Denn wirklich wissen, ob sich das Kind wehgetan oder erschrocken hat, können wir nicht. Wir stecken nicht in seiner Haut. Trotzdem glauben wir, es besser zu wissen.
»Adultismus« heißt diese Form der Diskriminierung. Sie entsteht durch die ungleiche Machtverteilung zwischen Erwachsenen und Kindern. Davon erzählt mir Christina Wehleit, der das Thema als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sehr am Herzen liegt. »Allein aufgrund ihres Alters denken Erwachsene häufig, sie wüssten vieles besser als Kinder und Jugendliche und könnten sich daher über deren Bedürfnisse hinwegsetzen.«
Wehleit ist selbst 3-fache Mutter und beobachtet das oben beschriebene Beispiel häufig auf Spielplätzen. Aber auch in ihrer Arbeit stößt sie immer wieder auf Adultismus. Denn viele Kinder kämen nicht freiwillig in ihre Praxis, manche wüssten gar nicht, was dort stattfinden werde. »Das wurde einfach über ihren Kopf hinweg entschieden«, sagt Wehleit.
Wie andere Diskriminierungsformen fängt Adultismus schon bei der Sprache an. Die Beleidigung »Du bist kindisch« etwa wertet Kinder laut Wehleit ab. Aber auch im Kindergarten würden Kinder oft ungefragt angefasst oder irgendwo hingetragen werden. »Es wird für sie entschieden, wann sie auf Toilette gehen und wann sie essen dürfen«, sagt Wehleit. In der Schule gehe es genauso weiter: »Dort gibt es Lernpläne, die sehr stringent sind und nicht die individuellen Interessen der Kinder berücksichtigen.«
Deshalb schadet Adultismus Kindern
Ich hatte vor meiner Recherche noch nie von Adultismus gehört. Da ich selbst keine Mutter bin, kann ich keine persönlichen Anekdoten beitragen. Also habe ich die Eltern aus unserem Perspective-Daily-Team mit dieser Diskriminierungsform konfrontiert:
Zuerst habe ich mich innerlich gesträubt, weil es sich anfühlte, als gäbe es eine neue Bewegung, die einem erzählt, was man alles falsch macht.
Im ersten Moment habe ich mich, ehrlich gesagt, gefragt, ob es wirklich noch einen neuen -ismus-Begriff braucht und ob dadurch nicht wieder künstlich Empörung aufgebauscht wird.
Solche Reaktionen kennt Christina Wehleit gut. »Das Bild, dass wir Kindern gegenüber ein Machtwort sprechen müssen, hat sich tief in uns eingebrannt. Es wird von Generation zu Generation so weitergegeben und in unserer Kultur vorgelebt. Wir glauben, dass Kinder diese Bevormundung brauchen«, sagt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Dabei seien Strafen häufig Teil der Erziehungsmethoden – manchmal aus Hilflosigkeit, manchmal, weil Eltern keine Alternative sehen, weil sie es vielleicht aus ihrer Kindheit selbst so kennen.
Doch Strafen sind laut Wehleit nicht sinnvoll. Stattdessen rät sie: »Wir sollten uns immer wieder fragen: Würde ich so auch mit einer erwachsenen Person umgehen?«
Das erklärt die Psychotherapeutin an folgendem Beispiel: Du machst einen Fehler bei der Arbeit. Dein Chef bestraft dich daraufhin mit Überstunden. Was würdest du tun? Wahrscheinlich würdest du diesen Job nicht lange behalten. Kinder jedoch können nicht einfach »kündigen«. »Dadurch fühlen sich Kinder hilf- und wertlos und so, als würden sie weniger zählen als Erwachsene«, erklärt Wehleit.
Würden Kinder nicht ernst genommen, könnten sie auch keinen Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen entwickeln und ihr Innenleben ernst nehmen. »Doch diese sind extrem wichtig, weil sie Hinweise darauf geben, was ich gerade brauche und wie es mir geht«, sagt Wehleit.
Sie arbeitet oft mit jungen Menschen, die diese negativen Glaubenssätze verinnerlicht haben. Das kann laut der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin gefährlich werden. Zum Beispiel dann, wenn übergriffiges Verhalten nicht als solches wahrgenommen wird oder wenn sie im Erwachsenenalter nicht allein klarkommen.
Manchmal spreche ich in Anwesenheit meines Kindes über es in der dritten Person. Zum Beispiel über anstrengende Tage. Mir fällt dabei oft selbst der negative Ton auf.
Ich merke manchmal, dass ich meine Tochter zu stark zu Dingen überreden möchte, die sie eigentlich nicht will. An einem schönen Tag raus an die frische Luft zu gehen oder zur Essenszeit etwas Gesundes zu essen.
So legst du adultistische Verhaltensmuster ab
Um die seelische Gesundheit unserer Kinder zu schützen, sollten wir ihnen vermitteln, dass sie wichtig sind und ihre Stimme zählt. Als Übung empfiehlt Christina Wehleit einen Perspektivwechsel – so wie bei dem Beispiel mit dem strafenden Chef. »Erziehungsberechtigte können sich immer wieder fragen: Wie würde es mir gehen, wenn ich in den Fußstapfen des Kindes wäre? Dabei kann es auch hilfreich sein, zu versuchen, sich in die eigene Kindheit zurückzuversetzen. Wie habe ich mich früher gefühlt, wenn jemand so mit mir umgegangen ist? Und dann kann ich mich bewusst dafür entscheiden, nicht auf bestimmte Machtstrukturen zurückzugreifen, sondern nach neuen Wegen zu suchen.«
Laut der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sollten Kinder zum Beispiel in die Tagesplanung miteinbezogen werden. So könnten die Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigt werden. Dabei müsse natürlich der Entwicklungsstand des Kindes beachtet werden. Denn zwischen Säuglingen und Teenagern sei die Spanne groß. Trotzdem sollten Eltern versuchen, Kindern zuzuhören, und offen für ihre Perspektiven sein – egal wie alt sie sind.
Doch manche Entscheidungen sind nun einmal nötig, um Kinder zu schützen – auch wenn diese das gerne anders gehabt hätten. In solchen Fällen rät Wehleit Eltern aber, die Gefühle des Kindes, etwa Frust oder Trauer, ernst zu nehmen und es darin zu begleiten. »Es ist auch wichtig, ihm darzustellen, warum wir zu der Entscheidung gekommen sind«, fügt Wehleit hinzu. Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin ist überzeugt: Wenn Kinder merken, dass wir sie ernst nehmen, sind sie hochkooperativ.
Um die eigenen Adultismus-Fallen zu erkennen und dieses Verhalten zu ändern, können folgende Reflexionsfragen helfen:
- Welche Regeln gelten für Kinder, die für Erwachsene nicht gelten? Und warum?
- Dient mein Verhalten wirklich dem Schutz des Kindes oder ist es so vor allem einfacher und bequemer für mich?
- Stehen Sanktionen wirklich im Zusammenhang mit einem Problem oder sollen sie vor allem eine Strafe für unerwünschtes Verhalten sein?
- Welche Möglichkeiten gibt es für Kinder und Jugendliche, die Regeln zu Hause, im
Auch die Bedürfnisse der Eltern sind wichtig
Ich versuche, adultistisches Verhalten zu vermeiden, aber bei einigen Regeln ist es ein Stück weit Bequemlichkeit. Etwa bei der Zubettgehzeit.
Bevor wir einen Ausflug machen, schicke ich meine Tochter auf Toilette, auch wenn sie nicht möchte. Um den Alltag zu bewältigen, ist manchmal einfach Vernunft gefragt, und Kinder sind oft nicht vernünftig – zumindest aus Sicht der Erwachsenen.
Wir haben Regeln für die Flimmerzeit, also TV, iPad etc. Unsere jüngere Tochter darf 30 Minuten am Wochentag und eine Stunde am Wochenende. Allerdings gibt es eine Ausnahme, die unserer Bequemlichkeit dient. Am Wochenende, bevor wir aufstehen, zählen wir die Zeit noch nicht. Das erhält den Familienfrieden, weil alle dann ausgeschlafen sind.
Die Bedürfnisse der Erwachsenen seien wichtig, räumt Wehleit ein. Doch solle berücksichtigt werden, dass dabei nicht jemand diskriminiert werde. Ehrlichkeit sei dabei essenziell: »Wir Eltern können auch mal sagen: Ich brauche jetzt etwas Ruhe. Und dann gemeinsam mit dem Kind eine Lösung finden.« So könnten Eltern dem Kind Vorschläge machen, sodass es dann selbst entscheide, was es davon in der Erholungszeit der Eltern tun möge: ein Hörbuch anmachen, eine Serie schauen oder ein Buch lesen. Auch wenn das viele Menschen nicht glaubten, Wehleit weiß: Die Bedürfnisse beider Parteien könnten nebeneinander stattfinden.
Einen Erziehungsstil auf Augenhöhe sieht die Psychotherapeutin als Chance, eine vertraute Beziehung zwischen Eltern und Kind aufzubauen. Das sei auch weniger kompliziert, als viele befürchteten, denn »das Kind machtvoll ins Bett zu schicken, führt automatisch zu einem Konflikt, und das kostet viel mehr Energie«.
Gleichzeitig betont Wehleit, dass man nicht jeden Wunsch des Kindes erfüllen müsse. Auch dürfe man nicht erwarten, dass sie sich wie kleine Erwachsene verhielten. Still zu sitzen oder sich an Konversationen zu beteiligen, liege nicht in ihrem Naturell. »Kinder brauchen an manchen Stellen etwas anderes als wir Erwachsene. Das heißt aber nicht, dass sie nicht kompetent sind«, sagt Wehleit.
Sie ist davon überzeugt, dass der Schlüssel darin liege, die Bedürfnisse des Kindes und unser Wissen über die Welt in einem konstruktiven Austausch zusammenzubringen.
Titelbild: Harris Ananiadis - CC0 1.0