»Kein einziger Vers im Koran rechtfertigt die Überlegenheit der Männer über die Frauen«
Frauenbewegungen im »Westen« sehen oft nicht, dass auch bekennende Muslimas für Gleichberechtigung eintreten. Nur argumentieren islamische Feministinnen nicht mit westlichen Werten. Sondern auch mit dem Koran.
Das Café Paul Prestigia im Universitätsviertel von Rabat ist bekannt für seine Baguettes und feinen Patisserien. Asma Lamrabet hatte dieses französische Ambiente für unser Treffen vorgeschlagen. Fast alle Tische sind besetzt; Männer sitzen plaudernd vor einem Espresso, Frauen starren auf ihre Handys, Studentinnen unterhalten sich kichernd. Ich halte Ausschau nach einer Frau mit Kopftuch, habe mir die Bilder von Asma Lamrabet aus dem Internet eingeprägt. Doch als sie kommt, erkenne ich sie zunächst nicht. Mit ihrer großen Sonnenbrille, schwarzem Pullover und Seidentuch um den Hals verströmt sie eine zurückhaltende, selbstbewusste Eleganz. Ihre schwarzen Haare sind lose um den Kopf geschlungen. Kein Kopftuch.
Das überrascht mich, denn auf vielen Bildern war sie mit dem Tuch zu sehen; schließlich sieht sie sich als islamische Feministin. Später erklärt sie mir, sie trage das Kopftuch nun nicht mehr, weil es ihr nicht mehr passend erscheine. Ob eine Frau das Kopftuch trägt oder nicht, sei ihre freie Entscheidung. Die Medizinerin und Autorin, 1961 in Rabat geboren, gehört zu den führenden Vordenkerinnen eines liberalen, reformorientierten und feministischen Islam für ganz Nordafrika. Mit ihrem Mann, einem Diplomaten, hat sie in Spanien, Mexiko und Chile gelebt und immer wieder als Ärztin, teilweise auch ehrenamtlich, gearbeitet und ihre übrige Zeit statt für Cocktailpartys zum Schreiben ihrer Bücher verwendet.
In ihren auf Arabisch, Französisch und teilweise auch Englisch erschienenen Büchern (deutsche Übersetzungen gibt es bisher leider nicht) beschreibt sie, wie sie die koranischen Texte und die islamische Tradition von patriarchalen Interpretationen befreien will. Nach ihrer Auffassung gibt es keinen einzigen Vers, der die Überlegenheit der Männer über die Frauen rechtfertigen würde.
Erst die Interpretation durch männliche Gelehrte in den Jahrhunderten nach der Offenbarung des Koran habe aus den egalitären heiligen Texten frauenfeindliche Aussagen gemacht. Oder aber männliche Gelehrte hätten in ihrer Rechtsprechung (arabisch: »fiqh«) frauenfeindliche Regeln und Normen aufgestellt, für die es gar kein Fundament im Koran gibt.
Muslima und Feministin zu sein, ist für sie kein Widerspruch. Beides zu verbinden, darin sieht sie ihre Mission. »Wir müssen vermitteln, dass Gleichberechtigung nichts Abstraktes ist, sondern zu unserem islamischen Bezugssystem gehört.« Arabische Frauen bräuchten ihre eigene Emanzipation, ihren eigenen Weg der Befreiung, ohne westliche Bevormundung, auch ohne die Bevormundung durch westliche Feministinnen. Diese hätten doch keine Ahnung von den Problemen arabischer Frauen und so stellt sie auch die Dominanz eines westlichen Modells von Feminismus als einzigem Weg zur Frauenemanzipation infrage.
Arabische Frauen brauchen ihre eigene Emanzipation, ohne die Bevormundung durch westliche Feministinnen
Asma Lamrabet kämpft an vielen Fronten. Sie steht zwischen konservativen Gelehrten, die wollen, dass sich Frauen unterordnen, und westlichen Feministinnen, die ihr als bekennender Muslima skeptisch gegenüberstehen. Mit ihrem Verständnis von Feminismus knüpft sie an den antikolonialen Kampf der arabischen Gesellschaften gegen westliche Dominanz an. »Wenn ich in Frankreich lebte, wäre mein Feminismus ein anderer«, sagt sie bei unserem Gespräch im Café Paul Prestigia. »Aber ich bin Marokkanerin und Muslimin, das ist mein Hintergrund. Westliche Feministinnen dürfen nicht in unserem Namen sprechen und uns ein Modell aufzwingen, das nicht das unsere ist. Schließlich kennen wir unsere Probleme besser als ihr.«
Dabei wirkt Lamrabet gar nicht wie eine zornige Rebellin, aus dem Alter ist sie heraus, sondern eher wie jemand, die hartnäckig und mit langem Atem für ihre Ziele streitet. Sie kennt den Gegenwind, der heftig sein kann. Denn neben viel Zuspruch, vor allem aus der jungen Generation, eckt Lamrabet mit ihrer frauenfreundlichen Lesart des Koran bei konservativen Gelehrten und Salafisten enorm an.
Im Jahr 2018 bekam sie das massiv zu spüren. Konservative Kreise zwangen sie, ihr Amt als Direktorin des Centre d’Etudes Féminines en Islam (Zentrum für islamische Frauenstudien) an der Rabita al Mohamadya des Oulémas, einer Art Thinktank für einen modernen Islam unter der Schirmherrschaft von König Mohammed VI., aufzugeben. Das war, nachdem sie öffentlich zusammen mit anderen engagierten Marokkanerinnen und Marokkanern eine Reform des frauenfeindlichen Erbrechts verlangt hatte.
Nach diesem massiven Konflikt mit den Konservativen und persönlichen Anschuldigungen, so erzählt sie, während wir unseren Kaffee trinken, sei sie froh gewesen, dass ihr Mann nach Südafrika versetzt wurde und sie mitgehen und Abstand zu der aufgeheizten Debatte finden konnte. Doch nach einer Weile kam sie wieder. Sie hielt Lesungen und Vorträge in Marokko.
Kommen ihre Thesen an im Land, möchte ich von ihr wissen, oder sind sie nicht zu akademisch? »Vielleicht ist es nur eine Minderheit, die sich für meine Arbeit interessiert«, antwortet sie. »Aber im Vergleich zu vor 20 Jahren gibt es heute ungleich mehr Aufmerksamkeit.« Damals habe niemand den islamischen Feministinnen zugehört. In der arabischen Welt fehle es an Meinungsfreiheit, um die Debatten offen zu führen, meint sie. Daher gibt es nur wenige radikale islamische Feministinnen wie sie in der Region selbst; die meisten Vertreterinnen dieser Spielart des Feminismus leben in den USA und Großbritannien oder in Südostasien.
Dennoch sieht Lamrabet heute ein großes Interesse an Universitäten und generell bei jungen Menschen am feministischen Islam. Viele junge Menschen wollten ihren Glauben mit einem modernen Leben vereinbaren, sagt sie. Sie verstünden nicht, warum die offiziellen religiösen Institutionen in Marokko keine Antworten auf ihre Fragen hätten. Der offizielle Islam in Marokko sei immer noch in einem traditionellen Verständnis des Koran verhaftet. »Leider«, meint Lamrabet, »sind diese traditionellen Kreise in Marokko sehr einflussreich.«
Religion und Emanzipation – geht das?
Nicht alle arabischen Frauen haben etwas mit Religion am Hut. Im Gegenteil, auch im Nahen Osten gibt es Atheistinnen und Frauen, die Religion einfach gleichgültig gegenüberstehen. Öffentlich äußern können sich diese Stimmen nicht oder nur eingeschränkt. Doch Frauen, die religiös sind, wollen die heiligen Texte so lesen, dass sie dadurch nicht kleingemacht, sondern ermutigt und gesehen werden.
In allen Kulturen haben religiöse Autoritäten die heiligen Texte benutzt, um patriarchale Strukturen zu rechtfertigen, die untergeordnete Rolle von Frauen und die männliche Überlegenheit zu sakralisieren. Frauen auf der ganzen Welt können davon ein Lied singen, egal ob sie Christinnen, Jüdinnen, Musliminnen oder Buddhistinnen sind. Aber gleichzeitig gibt es in allen Bekenntnissen Frauen, die aus ihrem jeweiligen Glauben den Anspruch auf Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit ableiten. Wenn Gott alle Menschen ohne Unterschied liebt, wie es Christentum, Judentum und Islam lehren, dann haben Frauen und Männer gleiche Rechte und eine gleiche Würde, davon sind sie überzeugt.
Im Westen können viele das nicht verstehen. Ein emanzipatorisches Projekt und Religion, das geht für viele in Europa nicht zusammen. Dabei haben die individuellen Freiheitsrechte Europas auch Wurzeln in der Bibel, die dem Menschen als Ebenbild Gottes Würde zuschreibt, Frauen und Männern ohne Unterschied. Gerade in der ersten Phase der europäischen und US-amerikanischen Frauenbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts haben viele Frauen aus der biblischen Botschaft die Ermächtigung für den Kampf um Gleichberechtigung gezogen. Ein christlicher und ein jüdischer Feminismus sind entstanden, Bewegungen, die gar nicht einmal wesentlich älter sind als der islamische Feminismus.
Teilweise greifen die islamischen Feministinnen auf Ansätze bei Jüdinnen und Christinnen zurück. Diese hatten Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren begonnen, von den Frauenbewegungen inspiriert, feministische Ansätze in der Theologie zu entwerfen. Die christlich-feministischen Theologinnen begannen, für ein Ende der Benachteiligung von Frauen, etwa beim Zugang zu Ämtern, zu streiten.
Feministische Theologinnen stellen Textpassagen in Bibel oder Koran, die Frauen kleinmachen und zum Schweigen verurteilen wollen, in den Kontext ihrer Entstehungszeit und entlarven sie als kulturell geprägte Ergebnisse männlichen Dominanzstrebens – das gilt für christliche wie islamische Theologinnen gleichermaßen. Islamische Feministinnen wollen genau das, was ihre christlichen und jüdischen Schwestern antreibt, auch wenn sie nicht in allen Punkten übereinstimmen: Sie wollen gläubige Muslimas und Feministinnen sein. Sie wollen einen nichtdiskriminierenden, egalitären Zugang zum Islam. Sie argumentieren dazu auf der Basis des Koran, nicht wie säkulare Feministinnen auf der Basis
Die Anfänge des islamischen Feminismus
Der feministische Islam entstand in zeitlichem Zusammenhang mit dem Aufstieg des politischen Islam im Nahen Osten
Doch wenn man politischen Islam versteht als
Die Ennahda-Partei (in der viele Frauen aktiv sind, etwa als Abgeordnete im Parlament) hat unter ihrem Chef Rachid Ghannouchi die pluralistische Demokratie befürwortet und darauf verzichtet, die Scharia zur Grundlage der Gesetzgebung zu machen, ähnlich wie auch die PJD in Marokko. Zumindest diese beiden Parteien gehen in Richtung einer Art islamischer CDU, konservativ und an religiösen Werten orientiert, aber nicht per se undemokratisch. Beide Parteien haben in den letzten Jahren bei den Wahlen allerdings deutlich an Zustimmung eingebüßt, weil sie es nicht geschafft haben, soziale und wirtschaftliche Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.
Der feministische Islam ist teilweise in Konkurrenz, teilweise in Übereinstimmung zum politischen Islam entstanden.
Als Bewegung ist der islamische Feminismus in den 1990er-Jahren entstanden, auch wenn seine geistigen Wurzeln weiter in die Vergangenheit zurückreichen. Gleich zu Beginn der arabischen Frauenbewegungen gab es auch Stimmen, die bewusst den religiösen Bereich für Frauen zurückerobern wollten.
Denn nach den Anfangsjahrhunderten im Islam waren Frauen als Gelehrte zunehmend verdrängt worden. Im 19. Jahrhundert zum Beispiel wurde ihnen verwehrt, überhaupt den Koran zu studieren. Das sei nichts für Frauen – ein eklatanter Bruch mit der Anfangszeit des Islam. Ägyptens Frauenrechtsikone Hoda Shaarawi schreibt in ihren Memoiren Harem Years, wie sehr sie darunter gelitten hat, den Koran nicht lesen zu können. Dazu hätte sie Hocharabisch, die Schriftsprache, die sich deutlich vom gesprochenen Arabisch unterscheidet, lernen müssen, was man ihr als Mädchen verwehrte.
Bereits in den 1930er-Jahren unterrichtete Zainab al Ghazali als erste weibliche Predigerin Ägyptens, als sogenannte Da’iya, Frauen an Kairos berühmter Ibn-Tulun-Moschee darin, gute Predigten zu halten – allerdings nur für Frauen. Auch sie war eine Pionierin in einer Männerdomäne, obwohl sie die konservative Auffassung vertrat, die Rolle der Frauen liege vor allem im Haus und in der Familie. Für sich selbst allerdings nahm Zainab al Ghazali eine öffentliche Rolle in Anspruch. Dieser Widerspruch findet sich gerade bei islamisch oder islamistisch orientierten Frauen häufig. Sie plädieren dafür, dass sich Frauen vor allem in der Familie und bei der Erziehung der Kinder verwirklichen sollen, und führen selbst ein Leben in der Öffentlichkeit.
Eine der ersten arabischen Frauen, die den Koran aus Frauensicht gelesen haben, war die Libanesin Nazira Zain al-Din. In ihrem Buch al sufur wa al hijab (deutsch: Verschleiern und Entschleiern), 1928
Pionierarbeit hat auch die Ägypterin Aisha Abd al-Rahman, bekannt geworden unter ihrem Künstlernamen Bint al-Shati (Tochter des (Nil-)Ufers), geleistet – obwohl sie sich gar nicht einmal als Feministin sah und auch nichts mit der organisierten Frauenbewegung zu tun hatte. Doch die 1913 in Damiette im Niltal geborene und 1998 in Kairo gestorbene Autorin hat sich intensiv mit dem Koran und der islamischen Tradition beschäftigt. In rund 40 Büchern, Romanen, Erzählungen und Literaturkritiken sowie Hunderten von Zeitungsartikeln hat sie einer Koranexegese aus weiblicher Sicht den Weg geebnet.
Diese Frauen leisteten wichtige Vorarbeit, obwohl sie sich nicht dezidiert als Feministinnen verstanden.
Für den progressiven islamischen Feminismus der 1990er-Jahre muss aber vor allem ein Name genannt werden: Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi hat sich ihr ganzes akademisches Leben lang mit Fragen an der Schnittstelle zwischen Islam, Moderne und Frauenrechten befasst. Für eine ganze Generation wurde sie zu einer intellektuellen Ikone. Ihr verdankt auch Asma Lamrabet wichtige Impulse; die beiden Frauen kannten sich.
1940 in der
Als Strömung in den 1990er-Jahren erstarkt, ist der islamische Feminismus auch eine Reaktion darauf, dass Frauenrechtlerinnen Antworten auf die Versuche von
Ijtihad – die eigene Interpretation
Islamischer Feminismus hat im Wesentlichen drei zentrale Aspekte: Zunächst einmal geht es um eine neue Lesart des Koran jenseits frauenfeindlicher Interpretationen, wie sie männliche Gelehrte über Jahrhunderte vorgenommen haben. Die islamischen Feministinnen wollen die männliche Brille abnehmen, die heiligen Texte von sexistischem Verständnis befreien und aus weiblicher Sicht lesen und verstehen. Dazu bedienen sich die Frauen des Ijtihad, der eigenen Interpretation von Texten, ganz in der Tradition der islamischen Reformtheologen aus dem 19. Jahrhundert. Sie stellen die Texte aus dem Koran in den historischen Kontext ihrer Entstehung, um zu verstehen, was sie damals bedeuteten und was sie für die heutige Zeit bedeuten könnten, was in ihnen zeitlich gebunden ist und wo ihr zeitlos gültiger Kern liegt.
Daneben geht es ihnen um die Dekonstruktion der islamischen Rechtsprechung, fiqh, die über Jahrhunderte ausschließlich von Männern vorgenommen wurde. Im fiqh sind jene Bestimmungen zu Scheidung, Sorgerecht und männlicher Vormundschaft entstanden, die Frauen bis heute zu Bürgerinnen zweiter Klasse machen, für deren Reformierung bzw. Abschaffung die Frauenrechtlerinnen in der Region bis heute so hartnäckig kämpfen. »Dabei steht weder im Koran noch in der Sunna, der Tradition des Propheten Mohammed, etwas zu diesen Themen«, kontert Asma Lamrabet.
Sie bringt ein Beispiel: »Der ›wali‹ (Vormund), also die Vorstellung, dass Frauen einen Ehemann oder Bruder brauchen, der wichtige Angelegenheiten für sie regelt, ist eine reine Produktion des fiqh, der islamischen Rechtsprechung.« Mit dem Koran habe das nichts zu tun. »Solche Bestimmungen darf es nicht weiter geben«, meint Lamrabet. Viele Menschen glaubten, es würde sich bei solchen frauenfeindlichen Regeln um göttliche Anweisungen handeln, »aber das stimmt einfach nicht«. Inzwischen wurde die Bestimmung, dass Frauen einen wali brauchen, in einigen arabischen Ländern, zum Beispiel
Nicht zuletzt wollen islamische Feministinnen auch die weiblichen Gelehrten wiederentdecken, die in der Frühzeit des Islam zum Teil wichtige Aufgaben und Funktionen hatten, danach aber aus der religiösen Sphäre weitgehend verdrängt wurden.
Wie viel Gleichheit, wie viel Differenz?
Auch wenn diese drei Aspekte alle islamischen Feministinnen mehr oder weniger umtreiben, so ist doch die Bewegung alles andere als einheitlich. Unter diesem, auch umstrittenen Label gibt es ein ganzes Spektrum unterschiedlichster Stimmen von eher konservativen bis zu radikalen liberalen Ansätzen.
Für konservative islamische Feministinnen steht nach wie vor die Familie im Mittelpunkt, damit sind sie deutlich stärker der Tradition verpflichtet als etwa Asma Lamrabet. Auch sie wollen Frauen stärken, gehen aber von »unterschiedlichen, sich gegenseitig ergänzenden Geschlechterrollen« aus, sagt die ägyptische, in Deutschland lebende Politikwissenschaftlerin Hoda Salah.
Was heißt das? Konservative islamische Feministinnen lehnen Genderkonzepte ab, für sie hat Geschlecht ein biologisches Fundament. Sie gehen davon aus, dass sich Männer und Frauen in ihrer Verschiedenheit ergänzen und sie deshalb auch verschiedene Rollen einnehmen sollten. Diese Vorstellung ist auch europäischen Frauenbewegungen nicht vollkommen fremd, einmal davon abgesehen, dass auch bei uns konservative Kreise von wesensmäßigen Unterschieden zwischen Mann und Frau ausgehen.
Die islamische Vorstellung von komplementären Geschlechterbeziehungen ist am ehesten mit der Haltung von sogenannten Differenzfeministinnen vergleichbar, die in Europa in den 1970er- und 1980er-Jahren stark waren. Es war die Zeit der Frauenbuchläden, lila Latzhosen und strickenden Frauen in Hörsälen. Frauen wollten sich nicht an das Männliche anpassen, sondern vielmehr die Freiheit erkämpfen, ihr eigenes Leben zu leben. Sie betonten die Verschiedenheit der Geschlechter, wollten Frauen in ihrem Anderssein bestärken und forderten eine weibliche Perspektive in allen gesellschaftlichen Bereichen. Weil Frauen Leben gebären, blicken sie anders auf die Welt als Männer, so argumentieren die Verfechterinnen des Differenzfeminismus wie die beiden Französinnen Luce Irigaray und Hélène Cixous.
Das Problem des Differenzfeminismus liegt darin, dass er auch anschlussfähig für konservative Lesarten sein kann, wonach Frauen mit Verweis auf ihre »andere Natur« bestimmte Möglichkeiten in der Gesellschaft verwehrt werden. Daher wurde er von Feministinnen stark kritisiert.
Weil Frauen Leben gebären, blicken sie anders auf die Welt als Männer, so argumentieren die Verfechterinnen des heute vielfach kritisierten Differenzfeminismus
Die richtige Balance zwischen Gleichheit und Differenz bleibt allerdings ein viel diskutiertes Kernthema für alle Frauenbewegungen. Auch im Laufe der europäischen Frauenbewegungen tauchte immer wieder die Schwierigkeit auf, für gleiche Rechte wie die Männer zu streiten und gleichzeitig doch »nicht Mann sein zu wollen«, wie Genderforscherin Ute Gerhard es ausdrückt.
Heute spielt der Differenzfeminismus in Deutschland kaum noch eine Rolle. Er wurde weitgehend abgelöst von
Im islamischen Feminismus sind es die konservativen Strömungen, die dem politischen Islam nahestehen, die auf der Komplementarität der Geschlechter beharren – und auch hier bei allem Einsatz für Frauen in der Gefahr stehen, von Konservativen instrumentalisiert zu werden und wichtigen Fragen auszuweichen.
So handelt es sich beim islamischen Feminismus um eine sehr breite Bewegung, die seit den 1990er-Jahren in der arabischen Welt Fuß gefasst hat. Nicht alle islamischen Feministinnen unterstützen Freiheitsrechte wie ein egalitäres Erbrecht oder Reproduktionsrechte wie sexuelle Selbstbestimmung, so wie es Asma Lamrabet tut.
So weit, so kompliziert. Aber in vielen Frauengruppen, in Lesezirkeln und an Universitäten werden Texte und Gedanken über feministische Koranexegese ausgetauscht. Manchmal treffen sich Frauen einfach, um sich bei der Koranlektüre über ihren Alltag, ihre Nöte und Sorgen auszutauschen, und ziehen daraus Stärkung für ihr Leben.
Eine Frau als Imam?
So wie christliche und jüdische Frauen dafür gekämpft haben, religiöse Ämter übernehmen zu dürfen, wollen auch islamische Frauen Führungsämter übernehmen. Heute erscheint es uns als selbstverständlich, dass es etwa evangelische Pfarrerinnen gibt, doch das Recht auf Ordination haben sich evangelische Frauen hart erkämpfen müssen. Erst im Jahr 1959 wurde die erste Pfarrerin in Deutschland ordiniert und noch bis 1997 gab es Ausnahmen, zum Beispiel in der Bayerischen Landeskirche. Auch jüdische Frauen mussten lange dafür kämpfen, Rabbinerinnen sein zu dürfen, im orthodoxen Judentum gibt es immer noch Gemeinden, die sie ablehnen. Katholikinnen kämpfen immer noch dafür, Priesterinnen sein zu dürfen – und ihr Kampf wird, wie es aussieht, auch noch eine ganze Weile dauern.
So wollen auch islamische Frauen in ihrer Glaubensgemeinschaft mitbestimmen, wie der Glaube gelebt wird. Das allerdings gestaltet sich ähnlich zäh wie in der katholischen Kirche. Öffentliche Debatten zu diesem Thema gibt es in der arabischen Welt kaum.
Es gibt zwar weibliche Predigerinnen in den Moscheen, zum Beispiel ausgebildet an der al-Azhar-Universität in Kairo, doch sie dürfen ausschließlich für Frauen predigen und nicht vor gemischten Gruppen. In Marokko gibt es die Mourchidate, Frauen, die Sozialarbeit in den Moscheen leisten, aber keine Imaminnen sind. Sie übernehmen wichtige Aufgaben etwa bei der Alphabetisierung, vertreten jedoch meist einen konservativen Islam, was auch daran liegt, dass sie vom marokkanischen Staat bezahlt werden.
Die Gründe hierfür liegen wohl weniger in der Theologie als in Machtfragen. Für Asma Lamrabet ist die Sachlage eindeutig: »Keine einzige Stelle im Koran verbietet weibliche Imame, deshalb hat das religiöse Establishment keine ernst zu nehmende Antwort auf diese Frage«, sagt sie bei unserem Treffen im Café Paul Prestigia. »Im Gegenteil, der Koran liefert Argumente für weibliche Imame und nicht gegen sie. Letztlich sind es keine theologischen Gründe, die weibliche Imame verbieten, sondern die Mentalität steht dem entgegen.«
Islamisch versus säkular
Islamische und säkulare Frauenrechtlerinnen standen sich lange Zeit feindlich gegenüber. Manche bestreiten grundsätzlich, dass eine religiöse Argumentation feministisch sein könne. Vor allem in den Jahren, als der politische Islam besonders einflussreich und bedrohlich war, wie zum Beispiel nach der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum Präsidenten in Ägypten im Jahr 2012 oder während der Regierung der islamisch-konservativen Ennahda-Partei in Tunesien, waren die Fronten zwischen beiden Seiten extrem verhärtet. Inzwischen hat sich die Situation etwas entspannt, denn der politische Islam ist in großen Teilen Nordafrikas auf dem Rückzug.
Es ist wichtig, festzuhalten, dass nicht nur Frauenrechtlerinnen, die ein liberales, für westliche Ohren vertraut klingendes Narrativ vertreten, Frauen stärken. Sondern auch jene, die vielleicht in einer Frauengruppe den Koran lesen und für ihren Alltag, für ihre spezifische Situation daraus Stärkung und Ermutigung ziehen, ohne patriarchale Normen offensiv zu hinterfragen, weil das in ihrem gesellschaftlichen Kontext noch nicht möglich ist. »Beide wollen doch das Gleiche«, meint die marokkanische Soziologin Fatima Sadiqi von der Universität Fes, die ich dazu interviewen konnte, »nämlich, dass es Frauen gut geht«.
Seit 2011 sei das Bewusstsein dafür gewachsen, dass man im Grunde an einem Strang ziehe. »Islamische und säkulare Stimmen versuchen heute verstärkt, eine gemeinsame Basis zu finden, wobei Bürgerrechte im Mittelpunkt stehen«, sagt Sadiqi.
Nicht nur Frauenrechtlerinnen, die ein liberales-westliches Narrativ vertreten, stärken Frauen. Sondern auch jene, die in einer Frauengruppe den Koran lesen und daraus Stärkung ziehen
Darüber hinaus haben islamisch orientierte Frauenrechtlerinnen einen großen Vorteil: Sie können nicht so leicht als »Agentinnen des Westens« denunziert werden. Bei den säkularen Frauenrechtlerinnen sei die Einsicht gewachsen, dass »man Religion nicht einfach abstellen kann, sie gehört zum Leben dazu«.
Das heißt nicht, dass sie in allen Fragen übereinstimmen. »Aber es gibt weniger Feindschaft zwischen ihnen und mehr Pragmatismus: Lasst uns gemeinsam die Probleme angehen. Wir werden reifer. Es gibt weniger Emotionen, weniger Ideologie und das ist gut.«
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