Bildung trotz Krieg: Wie geheime Schulen in besetzten Gebieten funktionieren
Eine kleine NGO gibt ukrainische Schulkinder in den von Russland besetzten Gebieten und auf der Flucht nicht verloren. Seit 2020 organisiert sie Onlineunterricht und schafft damit einen wertvollen Raum für junge Menschen.
»Die Kinder sind immer so neugierig und machen so gut mit, dass der Extra-Unterricht pure Entspannung ist!« Die junge Frau strahlt mit den frisch gepflanzten Stiefmütterchen und der warmen Maimorgensonne im Charkiwer Schewtschenko-Park um die Wette, wenn sie von ihrem Ehrenamt berichtet.
Die 23-jährige Anastasija Hladkich ist Biologielehrerin an einer Privatschule, zusätzlich unterrichtet sie
All ihr Unterricht findet online statt. Seit dem russischen Überfall im Februar 2022 gibt es überall dort, wo im Schulgebäude und der nächsten Umgebung zuverlässige Bombenschutzräume fehlen, nur noch Distanzunterricht. Wie schon während der Coronapandemie. Viele junge Schulkinder in der Ukraine kennen kaum noch Präsenzschulalltag.
Der frühe Morgenspaziergang im Stadtpark tut Anastasija gut. Charkiw ist praktisch täglich Ziel russischer Raketen, Drohnen und Fliegerbomben. Doch dies ist ein selten stiller Maimorgen. Wenige Tage nach unserem Treffen wird Russland eine neue Offensive gegen die Region Charkiw starten, dabei das grenznahe Wowtschansk in wenigen Wochen zur Hälfte zerstören.
»Ich lebe hier in Charkiw und habe durch den ständigen Beschuss schon gelernt, den Kopf nicht hängen zu lassen«, sagt Anastasija. Sie spricht konzentriert und pointiert. Sie kam vor sieben Jahren aus Donezk, der seit 2014 umkämpften und seitdem russisch besetzten Großstadt im Osten, zum Studium nach Charkiw. »Manchmal merke ich, dass ich mit den Schülern aus den besetzten Gebieten viel gemeinsam habe – sie benutzen bekannte Wörter, ihre Aussprache und Erfahrungswelt ist mir gut bekannt.«
Russische Besatzung gegen ukrainische Bildung
Überprüfbare Berichte darüber, was in den von Russland besetzten Territorien passiert, gibt es wenig. Informationen stammen meist von Menschen, die die Besatzung verlassen konnten. Der andauernde russische Krieg zerstört viele Kommunikationskanäle. Kampfhandlungen und Besatzungspolitik machen Recherche vor Ort unmöglich.
Nach Angaben des ukrainischen Bildungsministeriums sind durch den Krieg bereits 3.435 Bildungseinrichtungen zerstört und 439 beschädigt worden –
62.400 Kinder lernen online weiter an ukrainischen Bildungseinrichtungen, so das ukrainische Bildungsministerium. Und laut ukrainischer Bildungsdatenbank USEDE haben 2023 immerhin 3.675 Jugendliche aus russisch besetzten Gebieten ein Studium an ukrainischen Hochschulen aufgenommen − das sind 1,7% aller Bachelor-Studienanfänger*innen.
Die ukrainische NGO Almenda stellt
Schwerpunkte der russischen Propaganda – auch im Lehrplan der Besatzer – sind Militarisierung und Heroisierung der russischen Armee, was mit der Zeit die ukrainische Identität der Kinder zerstört.
Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Fach Geschichte,
Das bestätigt auch der Bericht von Human Rights Watch vom Juni 2024:
Die ukrainischen Kinder unter der Besatzung werden mit antiukrainischer Propaganda des Kremls indoktriniert. Sie erhalten auch eine militärische Ausbildung als Teil des Lehrplans.
Dieser schreibe Geschichtsbücher vor, die die russische Invasion rechtfertigten und die Ukraine mit ihrer Regierung als ›Neonazi-Staat‹ darstellten, und unterbinde Unterricht in ukrainischer Sprache. Das verletze das in der UN-Kinderrechtskonvention verbriefte »Recht der ukrainischen Kinder auf eine Bildung, die Respekt für die ›eigene kulturelle Identität, Sprache und Werte‹ sowie die ›nationalen Werte‹ des Herkunftslandes des Kindes vermittelt«.
Die sozialpolitischen Themen rund um Kindheit und Ausbildung unter Kriegsbedingungen sind, das betonen auch führende Politiker*innen, Schlüsselfragen der Zukunft der ukrainischen Gesellschaft und Wirtschaft. Ein kleiner Verein hat das schon vor Jahren erkannt.
Das unmöglich Scheinende ermöglichen
Bei gutem Kaffee in einem neuen hippen Buchladen-Café im Zentrum Kyjiws berichten die Mittzwanzigerinnen Olha Kowal und Olena Pawliuk über ihr Herzensprojekt. Gemeinsam mit Anastasija Bjeljajewa gründeten sie 2020 die Schulinitiative Znovu.
Die drei hatten sich beim Schulprojekt Teach for Ukraine kennengelernt, das Lehramtsabsolvent*innen in Kleinstadt- und Dorfschulen schickt, um moderne Methoden in der Schullandschaft zu verbreiten und jungen Lehrer*innen Berufserfahrung zu verschaffen. Beim Abschlusstreffen brachte sie ein gemeinsamer Freund darauf: Sein kleiner Bruder war nach 2014 in Donezk unter prorussischer Besatzung geblieben – und verlor in sechs Jahren praktisch jeden Kontakt zur ukrainischen Sprache, Kultur, Gesellschaft. Wie sollte er ihn auch erhalten, wo doch Schule, Medien, Alltag nun russisch-propagandistisch geprägt waren?
»Das hat uns die Augen geöffnet: Da lebten und arbeiteten wir die ganze Zeit als Lehrerinnen, aber dachten nicht mal daran, dass die Jugendlichen dort ihre ukrainische Bildung verlieren!«, erzählt Olena. Und Olha: »Ich komme aus Luhansk, das damals auch umkämpft und besetzt wurde. Ich weiß, dass es da noch immer viele proukrainische Menschen gibt.«
»Für viele von uns ist die russische Besatzung auch eine persönliche Geschichte«, sagt Olena.
Also planten die drei: Wie kann man sicheren Onlineunterricht für junge Menschen in besetzten Regionen machen? Was brauchen sie? Wie erreicht man sie? Und alles, ohne sie zu gefährden? Denn für Sympathie oder Kontakte zu ukrainischen Institutionen oder proukrainischen Gruppen, das zeigen zahlreiche Zeug*innenberichte, drohen unter russischer Besatzung willkürliche Verfolgung, Inhaftierung, Verschleppung, Folter bis Mord.
Human Rights Watch berichtet von einem Schüler im besetzten Melitopol (Oblast Saporischschja), der von russischen Sicherheitskräften mit einer Tüte über dem Kopf in ein abgelegenes Gebiet gefahren und dort sich selbst überlassen wurde, weil er in der Schule ukrainisch gesprochen hatte. Die Besatzungsbehörden drohen Eltern mit Geldstrafen, Verlust des Sorgerechts und Inhaftierung, wenn sie ihre Kinder nicht an russischen Schulen anmeldeten oder wenn sie online ukrainische Schulen besuchten.
Jede Sorglosigkeit mit persönlichen Daten kann ein Risiko sein.
Sicherheit geht immer vor
Ein halbes Jahr dauerte die Znovu-Vorbereitung. Gemeinsam mit einer IT-Sicherheitsfirma, die auch für ukrainische Ministerien arbeitet, erstellten sie ein Konzept. Sie wählten einen Serverdienst, der kaum mit Bildungsprogrammen in Verbindung gebracht wird und in Russland nicht blockiert ist. Testeten Verschlüsselungstechniken.
Für jede Stunde gibt es einen neuen Zugangslink. In den Onlineräumen werden nur Vornamen oder Nicknames genutzt. Gespräche über konkrete Orte, Kriegslage und Politik sind ausgeschlossen. Schüler*innen aus besetzten Gebieten nehmen oft ohne Kamera teil – um den Ort nicht zu verraten oder weil das Internet zu schwach ist.
Am Programm dürfen nur Schüler*innen teilnehmen, deren Eltern informiert und einverstanden sind. »Das müssen wir machen«, betont Olha, »Minderjährige können die Sicherheitslage und Risiken noch nicht selbst einschätzen. Bildung ist wichtig, aber Sicherheit ist am wichtigsten.«
Außerdem vernetzte sich Znovu mit den wenigen aktiven NGOs im Osten der Ukraine und sammelte Kontakte zu Lehrer*innen und Schüler*innen. Im ersten Schuljahr 2020/21 unterrichteten die Organisatorinnen noch selbst mit: Olha – Englisch, Olena – Mathe und Anastasija – Ukrainisch. Insgesamt waren sie neun Lehrkräfte für acht Fächer und 12 Schüler*innen, zehn aus den besetzten Gebieten im Osten. Die Lernenden konnten sich bis zu vier Fächer aussuchen, in denen sie sich dann im Examen prüfen lassen wollen. »Die meisten machen drei Fächer«, so die Organisatorinnen, »manche auch fünf.«
»Das erste war ein Probejahr – damals kannten wir noch viele persönliche Geschichten«, erinnert sich Olena. Viele Absolvent*innen schlossen sich später Znovu an. Seitdem hat sich die Zahl der Teilnehmenden verzwanzigfacht: Für das Schuljahr 2023/24 gab es mehr als 800 Anmeldungen, letztlich konnten 250 Schüler*innen von 88 Lehrer*innen unterrichtet werden. Die Lehrenden müssen Erfahrung mitbringen, viele haben auch selbst russische Okkupation und/oder Flucht erlebt. Sie bekommen bei Znovu vorbereitende Schulungen in digitaler Sicherheit und Psychologie.
Aktuell laufen die Anmeldungen für das neue Schuljahr ab Herbst 2024. Nach der Anmeldung gibt es einen Test zum Wissensstand, dann wird nach erklärter Motivation und regionalen Prioritäten ausgewählt: besetzte Gebiete, befreite Regionen, Frontgebiet, Binnengeflüchtete, ins Ausland Geflohene.
Vom Ostkrieg zum großen Krieg
Obwohl Znovu schon vor 2022 ukrainischen Unterricht für Jugendliche in den russisch besetzten Gebieten anbot, hat der große Krieg ihre Arbeit stark verändert.
Zwischen 2014 und 2022 gab es noch durchlässige Front-Übergänge: Menschen – vor allem junge, ältere und Frauen – konnten für Behördengänge oder Familienbesuche hin und her reisen – wenn auch mit Checkpoints und Pseudogrenzkontrollen. Immerhin konnten Jugendliche aus besetzten Gebieten zu ukrainischen Abiturprüfungen oder Uni-Aufnahme-Examen fahren. Znovu bot ihnen dafür die Prüfungsvorbereitung nach ukrainischem Lehrplan.
Titelbild: Tetiana Kostyk - copyright