Männer, übernehmt endlich Verantwortung!
Femizide, Vergewaltigungen, Sexismus – männliche Gewalt durchzieht unsere Gesellschaft. Doch zu viele Männer denken, das alles habe nichts mit ihnen zu tun.
Der Bosporus ist eine Meerenge in Istanbul, zwischen dem Schwarzen Meer im Norden und dem Marmarameer im Süden. Jährlich passieren sie über 50.000 Schiffe. Pro Tag sind das 130 Schiffe, die sich an Vorschriften halten und Seerecht respektieren. Solche Übereinkünfte helfen uns, die Realität zu ordnen.
Es gibt auch eine Übereinkunft, die einen Fahrplan vorgibt, wie das Recht von Frauen und Mädchen auf ein gewaltfreies Leben gesichert werden soll:
Das alles ist der Öffentlichkeit bekannt. Es wurden internationale Verträge geschlossen, damit Betroffene von Gewalt in Zukunft weniger zu befürchten haben. Damit diese Gewalt nicht mehr passiert. Die Istanbul-Konvention, also das Übereinkommen des
Alle unterzeichnenden Staaten verpflichten sich, offensiv gegen jede Form von Gewalt vorzugehen. Deutschland hat die Istanbul-Konvention im Oktober 2017 ratifiziert. Seit dem Inkrafttreten am 1. Februar 2018 ist die Konvention geltendes Recht in Deutschland, deutsche Gesetze müssen danach ausgelegt werden. Aber in Deutschland passiert noch immer zu wenig: Sei es eine fehlende staatliche Koordinierungsstelle mit ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen, die Umsetzung einer nationalen ressortübergreifendem Strategie mit intersektionaler Perspektive oder der flächendeckende und bedarfsgerechte Ausbau des Hilfesystems für alle von Gewalt betroffenen Frauen und Kinder –
»Wir Männer haben uns an ein Schulterklopfen gewöhnt, das Ignoranz feiert«
Das Problem ist: Gesetze machen keinen ersten Schritt, wenn sie denjenigen unbekannt sind, die sie eigentlich respektieren sollen. Gesetze sind keine schützenden Hände. Gesetze werden von Menschen gemacht, die lesen können – aber manchmal aufhören, es zu tun. Gewalt wird viel zu oft nicht als solche benannt. Stattdessen wird von denen, die das Recht lesen, der Versuch unternommen, »beide Seiten« zu sehen, und darauf verwiesen, dass Streits im Kreis der Familie Privatsache bleiben sollen, obwohl sie schon immer mehr als das waren.
Wir Männer haben uns an ein Schulterklopfen gewöhnt, das die Ignoranz feiert; Gewalt als Kavaliersdelikt abtut, verharmlost, verkleinert und Gerechtigkeit fordert. Aber für was eigentlich?
»Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« – Grundgesetz Artikel 3, Absatz 2
Wir machen den Fehler, zu glauben, dass die bloße Existenz von Gesetzen schon Gleichberechtigung bedeutet. Artikel 3 des Grundgesetzes dient der Politik als De-jure-Orientierung, aber verweigert sich de facto zu oft der Realität.
Da ist ein innerlicher Reflex, der dem Gesetz so sehr vertraut, dass man das eigene Unwohlsein gar nicht erst zum Thema machen möchte. Denn die Täter sind Geliebte, Partner, Eheleute. Von nebenan, im Freundeskreis, in den eigenen 4 Wänden, manchmal auch Unbekannte auf der Straße.
Zurzeit schützen unsere Strukturen eher männliche Täter vor Verurteilung als die Opfer vor mehr Gewalt, wie die Autorinnen und Rechtsanwältinnen
»Wir lenken die Verantwortung wie einen Sonnenstrahl mit einem Spiegel von uns ab«
Viele Kapitel sind längst geschrieben, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. Unzählige Betroffene studierten minutiös Statistiken, verfolgen tausendfach in Zeitungen vermeintliche
Mit welchem Ergebnis? Männliches Raunen angesichts der Schockwellen ist nur für Sekunden zu hören. Es erschüttert nicht nachhaltig. Aus Gewohnheit wird die Konfrontation mit der eigenen Gewaltverstrickung innerlich abgetragen und Verantwortung wie ein bauchplatzierter Sonnenstrahl durch einen Spiegel vom eigenen Selbst abgeleitet. Wir Männer wollen nicht, dass uns die Sonne trifft, denn dann könnten wir krank werden. Manche Krankheiten sind unter uns aber längst pandemisch geworden.
»Es ist unsere Verantwortung, dem Schreien ein Ende zu setzen«
Die Debatten der letzten Wochen zeigen: Das Verständnis über die Allgegenwärtigkeit der Gewalt und ihre Ursprünge ist erschreckend flach. Die Vergewaltigungen von
Jeder Schrei nach Gerechtigkeit verhallt an Betonwänden. Nur diejenigen, die es durch Risse in Fassaden schaffen, erfahren, wenn überhaupt, sachgemäße Bearbeitung. Gesetze bieten aber keine Heilung, und Urteile nicht immer Gerechtigkeit. Es ist unsere Verantwortung, dem Schreien ein Ende zu setzen. Mehr noch: Anzuerkennen, dass wir Schuld daran tragen. Die Notwendigkeit zur Veränderung ist zu groß, als dass wir sie weiter ignorieren können, wie wir es seit Jahrhunderten tun.
Das Transferfenster ist durchgehend geöffnet
Es fehlt die Transferleistung. Von stummen und lauten Schreien zum kollektiven Aufschrei, der von allen Bergen auf die Flüsse Europas bis nach Istanbul führt und wieder zurück. In die Münder von Männern, die aus Angst, ihre Männlichkeit zu verlieren, Schweigen zur Gewohnheit haben verkommen lassen, sich hinter einem Beharren auf der Unschuldsvermutung verstecken. Um seine Stimme zu erheben, bedarf es keines Studiums, doch für Gerechtigkeit braucht es Lesekompetenz.
Wir müssen lesen, welche Art von Machtverhältnissen Menschen schreien lässt. Warum Frauenhäuser flächendeckend unterfinanziert sind. Wir müssen lesen, wie Abhängigkeiten in einem System entstehen, welches das Problem nur bei Männern verortet, die nicht Lukas oder Markus heißen, obwohl es #allmen betrifft.
Sie verharren mit Überzeugung in ihrem eigenen Weltbild, statt ihr Verständnis bis nach Istanbul zu verlängern. Denn das würde bedeuten, dass wir politisch eine Zeitenwende einläuten: gegen
Istanbul liegt am Meer, alle Winde des Schwarzen Meers treiben auf die Straßen und Häuserfassaden. Sie könnten neues Leben schenken, auch wenn keine Luft frei von Schadstoffen ist. Es wird Zeit, dass unser Nahraum die gleiche Aufmerksamkeit erfährt wie patriarchale Gewalt außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas.
Schreie schlummern unter kalten Betonstraßen, auf Werbeplakaten und Bildschirmen. Aus diesen schlüpfen in jeder Sekunde Männer hervor, die in Worten und Taten über die Stränge schlagen. Andrew Tates, Luke Mockridges, Jerome Boatengs und
Was jetzt?
Niemand kann sagen, Männer hätten keine Gelegenheit gehabt, zu lesen. Wenn wir uns endlich darum bemühen, das Gelesene zu verstehen, verbinden wir die losen Einzelfälle zu einer Struktur, die uns den Spiegel vorhält.
Ich selbst bin auf der Suche nach Antworten, nach Veränderung, nach Lesekompetenz. Meine Schwestern würden sagen: Das ist noch längst nicht genug. Sie hätten recht.
Sie hätten auch recht damit, dass Kritik als geschriebenes Wort selten Wirkung zeigt. Es müssen Wege her. Bücher sollen von den Büschen und Bäumen in die Flussbetten fallen, von ihrem Ursprung im Schwarzwald bis ins Schwarze Meer, bis die Meereswinde die Lichter Istanbuls an sich binden.
Es braucht Männer, die Solidarität in sich für andere finden, sich als Teil der Lösung verstehen, auch wenn es schwerfällt. Es reicht kein solidarisches Sharepic auf Instagram, auch wenn es ein Anfang ist. Es braucht vielmehr eine (digitale) Revolution, um das Problem von und durch Männlichkeit in alle Köpfe zu bekommen.
Gleichzeitig müssen wir Männern Mut machen, auch wenn es Überwindung kostet: Wir nehmen eure Bedürfnisse und Unsicherheiten ernst. Denn sonst laufen sie scharenweise in die Arme von Andrew Tate, der uns nichts anderes verspricht als eine Männlichkeit, die sich nicht nur an Gewalt gewöhnt, sondern sie zur Kernkompetenz erklärt.
Wir brauchen feministische Antworten auf Orientierungslosigkeit, progressive Politik, die Rollenbilder aufbricht und nicht zementiert. Als demokratische Gesellschaft können wir es uns nicht leisten, junge Männer durch pädagogische Arbeit nicht zu erreichen. Männerpsychologe Markus Theunert sagt richtigerweise: »Je mehr Bildung, Perspektiven und Ressourcen Männer haben, um sich in der Transformation der Geschlechterverhältnisse zu behaupten, umso besser sind sie gewappnet gegen männlichkeitsideologische Verführung.«
Die Zeitenwende in uns selbst einläuten
Gewalt zieht sich durch alle Strukturen, graue und weiße Fassaden, Hinterzimmer, Wartebereiche, Glasfasern und Bergwelten. Wie wäre es, wenn wir die Wut über männliche Gewalt als Aufforderung verstehen: das System, in dem wir aufwachsen, aufzubrechen – und die Zeitenwende in uns selbst einzuläuten?
Ein Schritt ist die Solidarität mit feministischen Forderungen: die konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention. Das würde die Umsetzung eines #Gewalthilfegesetzes bedeuten, die
Gewalt ist nicht nur körperlich, Gewalt ist auch das kollektive Augenverschließen. In Wirtschaft, Kultur, Politik, unserer gesamten Realität.
Die Istanbul-Konvention erinnert uns daran, dass Gewalt passiert, Frauen in Unsicherheit leben und Männern misstrauen. Und solange das so ist, müssen wir Männer an uns arbeiten. Die Revolution ist da, sie muss kommen. Die Alternative sind brennende Häuser, verbrannte Erden, Seelen aus Schutt und Asche. Und Männer, die an ihrer Männlichkeit zugrunde gehen.
Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily