Wie Deutschlands Öffentlichkeit den Krieg in Nahost behandelt, ist ein Skandal
Liebe deutsche Medien: Ich habe lange versucht, euch zu verteidigen. Mit eurer Berichterstattung zu Israel und Gaza geht ihr jetzt zu weit!
Mein Freund und ich streiten selten. Wenn, dann geht es oft um Politik. In letzter Zeit führen wir immer wieder hitzige Debatten zum Nahostkonflikt. Ich empfinde seine Position als einseitig und überspitzt.
Er verurteilt, wie in Deutschland über den Krieg gesprochen wird. Politik und Medien würden der israelischen Regierung nach dem Mund reden. Er spricht von einem »Genozid« an den Palästinenser:innen im Gazastreifen und kritisiert, dass Deutschland darüber schweige, das »Verbrecherregime« gar mit Waffen unterstütze. Vor allem aber empört er sich über die einseitige Berichterstattung deutscher Medien: »Das ist doch Zensur!«, schmettert er mir irgendwann frustriert entgegen.
Ich versuche, mit Argumenten dagegenzuhalten: »Zu einem Krieg gehören immer mehrere Seiten …« und »Die deutsche Zurückhaltung mit Kritik an Israel hat historische Gründe …«. Als konstruktiv arbeitende Journalistin mit dem thematischen Schwerpunkt »Brückenbauen« erscheint es mir als meine Aufgabe, erst mal einzuordnen, statt mich blind zu empören.
Doch je länger der Krieg andauert, desto verdrehter wirkt die öffentliche Debatte in Deutschland. Und mir fällt es zunehmend schwer, die emotional aufgeladene Position meines Freundes sachlich zu kontern.
Das Grauen in Gaza
Die israelische Kriegsführung noch als legitime Selbstverteidigung oder als angemessene Reaktion auf die Bedrohung durch die Hamas gelten zu lassen, scheint fehl am Platz,
- Dieser Krieg gilt als der gefährlichste Konflikt für Journalist:innen, den es je gab.
Dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu und sein Kabinett gerade unverhältnismäßige und grausame militärische Mittel anordnen – daran haben seriöse internationale Organisationen und Expert:innen keine Zweifel.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Karim Ahmad Khan
Deutsche Medien, ihr diskreditiert euch selbst
Doch in vielen deutschen Medien werden roboterhaft-kaltherzig Floskeln und die immer gleichen Sätze reproduziert. Kaum ein Medienbericht schafft es, die horrend hohe Anzahl an getöteten Palästinenser:innen zu nennen, ohne im selben Atemzug an den Hamas-Anschlag am 7. Oktober zu erinnern. Als entschuldigten die schrecklichen Verbrechen dieses Tages jedes zerbombte Flüchtlingslager, jeden zerstörten Krankenhausflügel, jeden abgewiesenen Hilfskonvoi.
Vom grausamen Vorgehen des israelischen Militärs, den vielen zivilen Opfern wird mit fast schon extremer Zurückhaltung berichtet. Statt Kriegsverbrechen klar zu benennen und zu verurteilen, wie es etwa beim völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine der Fall war, verstecken sich viele Journalist:innen hinter Zitaten offizieller israelischer Stellen, die von »notwendigen Kollateralschäden« sprechen, oder
Als
Ein weiteres Beispiel: Am 1. November 2023 bombardierte das israelische Militär das Flüchtlingscamp Dschabalija im Norden des Gazastreifens. Hunderte Zivilist:innen wurden dabei getötet und verletzt.
Die Wochenzeitung Die Zeit wählt einen neutralen Titel und lässt im Teaser nicht aus, dass laut der israelischen Regierung dabei auch ein Hamas-Führer getötet wurde. Das impliziert fast schon: Immerhin ein Erfolg!
Ein bekanntes Sprichwort lautet: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Der Gazastreifen ist für internationale Journalist:innen gesperrt, Zahlen und Fakten können daher nur schwer überprüft werden. Drastische Videos von sterbenden und hungernden Kindern wecken Emotionen und Kriegsparteien machen sich diese zunutze. Auf beiden Seiten.
Doch es gibt genug glaubhafte Quellen, die belegen, dass die verstörenden Bilder keine reine Kriegspropaganda sind. Deutsche Medien dürfen sich daher ruhig trauen, Israels Vorgehen klarer zu kritisieren.
So wie im April 2022, als die russischen Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha öffentlich wurden. Damals klangen die Berichte viel schärfer:
Der Ton der meisten deutschen Medien ist angesichts des Grauens in Gaza also nicht nur unangemessen, sondern auch inkonsequent.
Warum bringt der Großteil der deutschen Öffentlichkeit den palästinensischen Kindern nicht dasselbe Mitgefühl entgegen wie ukrainischen Zivilist:innen? Warum findet die Mehrheit der Journalist:innen nicht ähnlich scharfe Worte für die Bombardements von Dörfern und Infrastruktur, die hohe Anzahl ziviler Opfer, die Blockade von Hilfsgütern, die zur Aushungerung der palästinensischen Bevölkerung führt?
Es fehlt an Empathie – auch bei vielen politischen Akteuren
Der politische Umgang in Deutschland mit dem Konflikt ist an mangelnder Empathie gegenüber der palästinensischen Seite ebenso kaum zu übertreffen.
Statt Mitgefühl mit der palästinensischen und arabischen Community zu bekunden, von denen viele um Freund:innen und Verwandte trauern, werden Proteste oft pauschal als antisemitisch diskreditiert.
Schlimmer noch: Kundgebungen werden verboten.
Zuletzt etwa in Dortmund.
Es ist natürlich wichtig, den steigenden Antisemitismus in Deutschland anzuprangern. Gewalt darf nicht toleriert werden. Doch jegliche Kritik an Israel oder Solidaritätsbekundungen mit Palästina pauschal zu diskreditieren, ist eine perverse Verdrehung der Realität.
Wie du Kritik an Israel von Antisemitismus unterscheiden kannst, erklärt dir der Professor für jüdische Geschichte Joshua Shanes:
Was passieren könnte, wenn Deutschland so weitermacht
Ich diskutiere immer mal wieder mit Außenstehenden über den Krieg in Nahost und Deutschlands Positionierung. Ob es nun mein Partner ist, die ungarische Kollegin aus dem Yogakurs oder die Gastgeberin meines Airbnb in Zypern: Viele Menschen sind enttäuscht oder zornig.
Sie können nicht verstehen, warum die Bundesrepublik ihre Augen gegenüber den Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen verschließt.
Sie sind deshalb zum Schluss gekommen: Deutschlands Einsatz für Demokratie und Menschenrechte gilt nur, wenn es weiße, christlich geprägte Gesellschaften betrifft.
Die Kritik, dass deutsche Medien über den Nahostkonflikt zu einseitig berichten, beschränkt sich nicht nur auf private Gespräche, sondern wird öffentlich von mehreren Seiten aufgeworfen.
Das NDR-Medienmagazin »ZAPP« hat in einer Umfrage erfahren,
Auch international häuft sich die Kritik.
Deutschland verspielt sich so das Recht, moralische Urteile über andere Länder und deren Verhalten zu fällen. Es verliert seine internationale Glaubwürdigkeit, und damit das wichtigste Instrument für seine Außenpolitik: die vielfach zitierte
Auch innenpolitisch hat Deutschlands Verhalten Folgen, die noch nicht abzusehen sind:
In den Medien begegnen ihnen Forderungen nach mehr Abschiebungen statt nach mehr Sicherheit für alle Menschen. Dieser Schmerz, gerade auch bei einer jüngeren Generation, kann enorme Sprengkraft entfalten, wenn er nicht gehört wird.
Liebe Medien, ihr könnt das doch besser
Ich kann verstehen, dass in Deutschland aufgewachsene Journalist:innen davor zurückschrecken, Genozid und Israel in einem Atemzug zu nennen. Ich weiß, dass Berichterstattung in einem so komplexen Krieg eine heikle Angelegenheit ist. Und ich bin überzeugt, dass ein Großteil der deutschen Journalist:innen versucht, so ausgewogen wie möglich über das zu schreiben, was passiert. Doch gerade weil deutsche Journalist:innen bei diesem Thema alles andere als unvoreingenommen sein können, ist es an der Zeit,
Manchmal gelingt das auch. So wie
Dennoch wünsche ich mir von meinen Kolleg:innen mehr.
Ich wünsche mir, dass die Unverhältnismäßigkeit, mit der Israel gerade auf den schrecklichen und völkerrechtswidrigen Anschlag der Hamas reagiert, klar benannt wird. Ich wünsche mir, dass Solidaritätsbekundungen mit Palästina nicht pauschal als antisemitisch abgetan und Verbote von Protesten kritisch hinterfragt werden. Ich wünsche mir, dass auch in Deutschland – so wie es gerade in Frankreich oder Großbritannien passiert – eine öffentliche Debatte darüber möglich wird, ob, angesichts der schweren Vorwürfe gegen Israel, Waffenlieferungen an diese Regierung überhaupt noch moralisch vertretbar sind.
Titelbild: Tristan Sosteric | Yoav Aziz - CC0 1.0