Nach diesem Interview verstehst du die Wirtschaftskrise – und wie wir da wieder rauskommen
Ökonom Tom Krebs kritisiert in seinem neuen Buch Teile seines eigenen Berufsstands. Diese hätten die aktuelle Wirtschaftskrise mitausgelöst und die AfD gestärkt. Was dahintersteckt und wie es jetzt weitergehen kann.
Der deutschen Wirtschaft geht es nicht gut. Aufträge vieler Unternehmen gehen zurück, vor allem die Industrie und die Baubranche leiden, Investitionen bleiben aus. Und obendrein schneidet die rechtsextreme AfD in Wahlen immer besser ab. Das hätte verhindert werden können, sagt Ökonom Tom Krebs von der Universität Mannheim. Er berät die Politik in volkswirtschaftlichen Fragen, ist wissenschaftliches Mitglied in der Mindestlohnkommission auf der Arbeitnehmerseite.
Er sagt: Falsche Analysen von Wirtschaftsexpert:innen in der Energiekrise hätten die Bundesregierung auf einen wirtschaftlichen Holzweg gebracht. Eine viel zu frühe Entwarnung nach der habe Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) geholfen, seinen Sparkurs durchzudrücken. So gab es seit 2023 keine großen Investitionspakte, zum Preis einer umso größeren Verunsicherung in der Bevölkerung und bei Unternehmen. Im Interview spricht Krebs über sein Buch »Fehldiagnose. Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten«, in dem er auch Vorschläge macht, wie wir aus der Krise herausfinden können.
Du bist nicht ganz fit in Wirtschaftsfragen und dir ist nicht ganz klar, was die ganzen Wirtschaftsbegriffe wie »marktliberal« oder »Reallohn« bedeuten? Kein Problem, ich erkläre dir die wichtigsten Begriffe und Grundlagen die ich im Text verteilt habe.
Benjamin Fuchs:
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Deutschland in einer Dauerkrise steckt. Was meinen Sie damit und woran zeigt sich, dass sie dauerhaft ist?
Tom Krebs:
Wir hatten zuerst die Coronakrise. Konsens noch zu Beginn des Jahres 2022 war, dass es eine starke wirtschaftliche Erholung geben würde – wie in den USA. Dann kam der nächste Schock mit dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise. Das Ergebnis: Seit 5 Jahren hatten wir kein wirtschaftliches Wachstum und zusätzlich die höchsten der Nachkriegsgeschichte. Die führe ich hauptsächlich auf die Energiekrise zurück, nicht auf die Coronakrise. Und im Hintergrund arbeitet die Klimakrise, die von uns eine fundamentale Transformation der Wirtschaft erfordert. Die Energiekrise hat diesen Prozess in einem gewissen Sinne beschleunigt, zum Beispiel sind die CO2-Emissionen zurückgegangen. Allerdings wollen wir neben den Klimazielen auch den Wohlstand erhalten und vielleicht sogar steigern. Das zweite Ziel kommt uns jetzt abhanden.
Wenn die Coronakrise nicht Ursache der Probleme ist: Wo ist der Bundesregierung die Politik entglitten, um eine wirtschaftliche Erholung wie etwa in den USA zu erreichen?
Tom Krebs:
Heute reden wir alle über eine große Wirtschaftskrise, die marktliberale Ökonomen auf Doch bis 2023 haben diese Ökonomen noch gesagt: »Wir haben die Energiekrise überstanden und jetzt geht’s los.« Das Gegenteil ist passiert: Wir mussten ständig unsere Wirtschaftsprognosen nach unten anpassen. Und jetzt schiebt man es auf die Demografie, die Bürokratie usw. Das sind aber nicht die wesentlichen Faktoren. Wir spüren immer noch die Spätfolgen der Energiekrise. Das ist keine theoretische Diskussion nur für Ökonomen. Es geht darum, aus unseren Fehlern zu lernen, damit wir jetzt etwas besser machen können. Ich muss aber feststellen: In der Ökonomenzunft und auch in der Politik ist die Kritikfähigkeit begrenzt. Zumindest in der Öffentlichkeit. Hinter verschlossenen Türen sieht es schon besser aus.
Marktliberal? Was heißt denn das? Klicke hier für mehr Informationen
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Tom Krebs spricht immer wieder von »marktliberalen Ökonomen« und grenzt seine eigene Position davon ab. Es gibt innerhalb der Ökonomie unterschiedliche Denkschulen, die beeinflussen, wie Ökonom:innen die Wirtschaft interpretieren und auf Probleme reagieren. Stark vereinfacht gesagt, sehen Mainstream-Ökonom:innen die Wirtschaft als eine Ansammlung von Individuen, die auf Märkten miteinander in Kontakt treten. Preissetzung und die Verteilung von Ressourcen oder Arbeitskraft finden in Märkten strikt nach Angebot und Nachfrage statt. Marktliberale Ökonom:innen gehen davon aus, dass sich diese Märkte selbst regulieren, also von Natur aus zu einem bestimmten Gleichgewicht tendieren. Nur in äußersten Notfällen soll der Staat eingreifen.
Ökonomen wie Tom Krebs sind der Ansicht, dass es öfter zu Krisensituationen kommt, in denen der Staat in den Markt eingreifen sollte. Weil dieser sonst nicht mehr funktioniert und die sozialen und wirtschaftlichen Kosten zu hoch werden. Das nennt sich Marktversagen. In Krisensituationen sehen Ökonomen wie Krebs deutlich eher Gründe für große Investitionspakete, die Unternehmen und Menschen Zuversicht geben, dass wieder bessere Zeiten kommen oder sie eine Transformationsphase wirklich stemmen können. Diese Tendenz ist typisch für Keynesianismus, benannt nach dem Ökonomen John Maynard Keynes.
Weil es unterschiedliche Denkschulen gibt, kommen Ökonom:innen zu unterschiedlichen Einschätzungen wirtschaftlicher Situationen und notwendiger Reaktionen. Kompliziert wird es, weil Ökonom:innen nicht zwingend die reine Lehre einer Richtung vertreten. Zum Beispiel gibt es marktliberale Ökonom:innen, die Teile der Lehre Keynes’ übernommen haben, aber die Schwelle zum Eingriff durch den Staat höher ansetzen als Keynesianer:innen.
Sie sagen, dass wirtschaftliche Fehldiagnosen die Politik auf einen falschen Pfad gebracht haben. Was meinen Sie damit?
Tom Krebs:
Zentral sind für mich 2 Fehlanalysen. Die erste war, dass viele Ökonomen mit einem ganz speziellen Blick auf die Energiekrise geschaut haben. Ich nenne ihn den marktfundamentalistischen Blick. Sie hatten eine Theorie im Hinterkopf, in der sich Menschen und Unternehmen relativ schnell und schmerzlos an hohe Energiepreise anpassen können. möchten alles schnell und radikal machen. Der Gedanke dahinter: Denn dann orientieren sich alle schnell um – weg vom Gas, hin zu Strom und Wasserstoff. Das ist in der idealen, fiktiven Modellwelt alles sehr einfach. Ich nenne sie eine Märchenwelt. Denn den Umstieg schafft man nur mit hohen Kosten. Wer eine Gasheizung hat, muss viel Geld investieren, um sich eine Wärmepumpe zu kaufen und dann mit Strom zu heizen. Das gleiche gilt für den Umstieg von Verbrennern auf E-Autos. Das ist für viele einfach unmöglich.
Wie sieht das bei Unternehmen aus?
Tom Krebs:
Diese Ökonomen haben in ihren Modellen und Berechnungen angenommen, dass Unternehmen einfach vom Gaskessel zu einem strombasierten Heizkessel wechseln. Auch hier sind hohe Investitionen nötig und der Zeitfaktor ist auch wichtig. Für diese Ökonomen konnten die Anpassungsprozesse innerhalb von einigen Monaten geschehen. Das sehe ich als die erste große Fehldiagnose. Sie hat dazu geführt, dass sie im Frühjahr 2022 ein Sofortembargo für russisches Gas empfohlen haben, weil angeblich die wirtschaftlichen Kosten moderat gewesen seien. Sie glaubten, dass sich Menschen schnell anpassen würden und wir das Gas auch von woanders her importieren könnten. Es sollte eine Schocktherapie geben.
Nun hat die Regierung aber nicht auf die Empfehlung dieser Ökonomen gehört. Die Politik folgt den marktliberalen Empfehlungen also nicht immer. Stattdessen hat die Regierung erst mal selbst Gas eingekauft und 2 Energieunternehmen verstaatlicht. Sie hat also genau das Gegenteil von dem gemacht, was marktradikale Ökonomen gesagt haben. Damit hat sie erfolgreich Energiemanagement betrieben – und deswegen hatten wir keinen Gasmangel.
»Mit einer anderen Wirtschaftspolitik hätten wir weniger Zustimmung zur AfD«
Was ist dann die zweite, problematischere Fehldiagnose?
Tom Krebs:
2023 haben dieselben Ökonomen gesagt: »Na schaut mal, wir haben es doch alles gut überstanden, es gibt keinen wirtschaftlichen Einbruch.« Diese Erzählung ist sehr schnell von der Regierung übernommen worden. Nicht nur von der FDP, auch im Kanzleramt.
Damit man als Herren der Lage glänzen kann, die alles im Griff haben?
Tom Krebs:
Genau. Die Ökonomen, die vorher die Regierung stark kritisiert hatten, wurden dann immer wieder ins Kanzleramt eingeladen, weil ab dem Frühjahr 2023 die Message gerne gehört wurde. Die Politik hat dann zwar gesagt, sie habe das alles selbst geregelt, und die Ökonomen sagten, der Markt sei es gewesen. Doch das ist ein Widerspruch, der in aufgeheizten öffentlichen Diskussionen häufig untergeht – und das weiß die Politik.
Ökonom:innen wie und ich hielten es für sehr gefährlich, zu sagen: »Wir haben es überstanden.« Vor allem für die SPD und die Grünen, nicht für die FDP. Zum einen, weil die Regierung an der Lebensrealität der Menschen, die mit hohen Kaufkraftverlusten zu kämpfen hatten, mit solchen Aussagen vorbei agierte. Zum anderen, weil Bundesfinanzminister Christian Lindner dann sagen konnte: Es gab also kein wirkliches Investitionsprogramm der Bundesregierung im Jahr 2023 zusätzlich zu dem, was schon im Koalitionsvertrag geplant war, weil Christian Lindner mit seiner die gesamte Politik der Ampelregierung bestimmen konnte.
Ich habe damals, zusammen mit einigen anderen Ökonom:innen, ein großes Investitionspaket und eine Verlängerung einer verbesserten Energiepreisbremse über 2023 hinaus gefordert, aber die Mehrzahl der Ökonomen und die Bundesregierung waren dagegen, weil die Krise ja angeblich vorbei war. Mit einer anderen Wirtschaftspolitik hätten wir 2023 schon wieder Wirtschaftswachstum und weniger Zustimmung zur AfD gehabt. Diese Rezession und die damit verbundene Verunsicherung in der Bevölkerung waren vermeidbar.
Der Punkt in der Argumentation ist, dass es 2022/23 auch keine offenkundige Wirtschaftskrise gab, denn das Wirtschaftswachstum war nicht extrem ins Negative gekippt. Wo lag dann das Problem?
Tom Krebs:
Auf den ersten Blick scheint es zu stimmen, das ist nicht sehr stark eingebrochen. Diese einfache Sichtweise greift aber zu kurz. Wir haben 2022 die höchsten Reallohnverluste der Nachkriegsgeschichte erlebt und 2023 wurden diese nicht durch Lohnerhöhungen aufgefangen. Die meisten Leute sind abhängig beschäftigt. Für sie zählt, was sie sich für die Löhne und Gehälter kaufen können. Und unter diesem Aspekt war es die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Während der Finanzkrise hatten wir fast keine Reallohnverluste. Genau das haben die marktliberalen Ökonomen aber in der öffentlichen Debatte gemacht.
Wir müssen uns auch fragen: Was hätten Unternehmen ohne die Energiekrise geschafft? Vor der Energiekrise 2022 haben alle ein jährliches Wirtschaftswachstum von 4% erwartet. Das war Konsens, das sind nicht meine eigenen Vorhersagen. Das sind die Vorhersagen der Bundesregierung und der Wirtschaftsinstitute. Die Energiekrise hat also kurzfristig zu einem Verlust der gesamtwirtschaftlichen Produktion von 4% geführt. Das ist vergleichbar mit der Finanzkrise. Und dann sind da die Spätfolgen. Ich zeige in dem Buch, dass wir diese Spätfolgen der Krise heute immer noch sehen. Ein Grund dafür sind die große Unsicherheit und hohen Energiekosten, die dazu führten, dass Unternehmen nicht mehr investiert haben.
Anders als in den USA ( Anmerkung der Redaktion) hat die Bundesregierung kein Investitionsprogramm aufgelegt. Und deswegen hatten wir nicht nur kurzfristig 2023 eine schwierige wirtschaftliche Situation, sondern haben sie jetzt immer noch. Die Menschen und Unternehmen sind jetzt stärker verunsichert als vor der Energiekrise. Aber diese Verunsicherung gibt es in den Modellen der marktliberalen Ökonomen nicht.
Der Reallohnindex zeigt an, wie sich der Wert des Gehalts, das Arbeitnehmende erhalten, verändert. Ist die Inflationsrate hoch, fällt der Wert des Gehalts auf dem Konto, weil man sich von dem Geld weniger Waren und Dienstleistungen kaufen kann. Im Diagramm siehst du die Entwicklung der vergangenen Jahre in Prozent.
Das heißt: Wenn der Markt nicht so funktioniert, wie er soll, sind Sie dazu bereit, einzugreifen und Korrekturen durchzuführen?
Tom Krebs:
Ja, aber das würden fast alle Ökonomen machen. Das Problem war diesmal, dass die Mehrzahl die Kriseneffekte unterschätzten und frühzeitig die Energiekrise für beendet erklärten. Das wiederum kann darauf zurückgeführt werden, dass diese Ökonomen die Welt aus einer marktliberalen Perspektive sehen. Ich glaube, die marktliberale Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft ist weit weg von der ökonomischen und gesellschaftlichen Realität.
Also plädiere ich auch für einen ökonomischen Realismus als Gegenpunkt zu dieser Märchenwelt der Marktliberalen. Wenn ich die Krise nicht sehe, weil ich an die heilenden Kräfte des Marktes glaube, dann kann ich auch keine vernünftige Krisenpolitik machen. Deswegen ist mir die Diagnose so wichtig.
Das Nichterkennen der Krise, keine echten und das waren die 3 großen Themen, bei denen ich der Meinung bin, es gab ökonomische Fehlanalysen, die auf diesem einfachen Modell der Wirtschaft basierten. Und diese ökonomischen Fehlanalysen haben zu politischen Fehlentscheidungen geführt – mit schwerwiegenden Konsequenzen für uns alle.
Warum wäre so etwas wie der milliardenschwere Inflation Reduction Act in den USA auch für die deutsche Industrie gut gewesen?
Tom Krebs:
Die Frage ist, wie wir eine Wirtschaft transformieren, wenn wir klimaneutral werden müssen. Hier gibt es 2 Ansätze. Der einfache ökonomische Ansatz, über den ich mich auch schon vor der Krise geärgert habe und den fast alle Ökonomen vertreten, lautet: CO2-Preis plus Entlastung durch Klimageld. Der Staat greift ein, aber nur indem er klimaschädliches Verhalten teurer macht. Alles andere lässt man so. Alles andere überlässt man dem Markt, Menschen und Unternehmen müssen sich anpassen.
Genau diese Theorie wurde meiner Meinung nach während der Energiekrise getestet. Denn die Energiekrise war ja eigentlich ein riesiger CO2-Preisschock. Fossile Energie und Erdgas wurden sehr viel teurer. Das hat also ähnlich funktioniert wie ein hoher CO2-Preis, der noch mal auf den bereits existierenden CO2-Preis aufgeschlagen wurde. Auch diese Klimaökonomen stellen sich vor, dass die Anpassung schnell und schmerzlos vorangeht. Genau das ist aber nicht passiert.
Das ist der eine Ansatz, was ist der andere?
Tom Krebs:
Jetzt komme ich wieder zur Industriepolitik. Wir wollen, dass die Industrie hierbleibt, weil sie produktiv ist und gut bezahlte Jobs schafft. Aber wir wollen einen Wandel hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft. Die Stahlindustrie muss also nachhaltigeren Stahl produzieren; die Feuerverzinkungsbranche, die diesen Stahl veredelt, muss strombasiert arbeiten statt fossil.
Es gibt sehr viele Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftigen Strom- und Wasserstoffpreise. Der Staat hat die Aufgabe, diese Unsicherheit zu reduzieren. Nicht nur indem er die Energieinfrastruktur ausbaut, sondern auch mit einer Strompreisbremse. Und weil die Investitionskosten anfänglich sehr hoch sind und weil wir in dieser Transformationsphase stecken, muss Industriepolitik speziell diese grünen Investitionen fördern.
Der Inflation Reduction Act ist übrigens eine riesige Subventionsmaschine. Aber sie subventioniert nicht wild in irgendwelche Richtungen und sagt, der Markt solle es regeln, sondern in Richtung grüner Investitionen. Und es steht gegen das marktliberale FDP-Dogma, dass der Staat eben nicht Steuerkürzungen für alle beschließt, sondern Steuererleichterungen, gebunden an eine gewisse Investitionsart.
»Mehr Kontrollverlust gibt es meiner Meinung nach nicht«
Eine These von Ihnen ist, dass die Politik, die durch diese Ökonom:innen beeinflusst wird, die AfD stärkt und die soziale Spaltung in Deutschland vorantreibt. Ist das nicht etwas viel Verantwortung für die Ökonom:innen?
Tom Krebs:
Disclaimer: Ich sage nicht, dass ökonomische Unsicherheit und ökonomische Faktoren allein den Aufstieg der AfD erklären. Es gibt sicherlich andere Faktoren, die sehr wichtig sind. Ökonomische Faktoren, insbesondere wirtschaftliche Unsicherheit, sind aber ein wesentlicher Grund für Zustimmungsgewinne von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien. Da hat man bei der Brexit-Diskussion in England und auch bei der Situation um Trump empirische Evidenz gesammelt. Ich habe das auf Deutschland übertragen, auf die Erfahrungen der letzten 2 Jahre.
Mit welchem Ergebnis?
Tom Krebs:
Ganz zu Beginn der Energiekrise lagen die Zustimmungswerte der AfD ungefähr bei 10%. Die ersten Monate der Krise, also im Frühjahr 2022, hat die Bundesregierung eigentlich sehr gut gehandelt, wie ich das schon erwähnt habe. Wir haben erfolgreiches Energiemanagement betrieben und hatten sofort ein Entlastungspaket im März 2022. Und dann sehen wir: Im Sommer und Herbst 2022 gewinnt die AfD sehr stark an Zustimmung, von 10% auf 15%. Das hatte viel mit der Unsicherheit und der Diskussion zu tun, was im anstehenden Winter passieren soll. Bis September hatten sich die Gaspreise an der Börse mehr als verzehnfacht.
Viele hatten damals Angst vor der Heizrechnung …
Tom Krebs:
Und in den ganzen Sommermonaten hat die Bundesregierung immer gesagt: »Wir machen nichts mehr.« Es war hauptsächlich die FDP mit ihrem marktliberalen Credo, die gesagt hat: »Wir haben doch ein Entlastungspaket und brauchen keinen Eingriff in die Preise.« Das war ideologisch. Sie haben in der Phase der großen Verunsicherung nicht gesagt: »Keine Angst, die Energiepreise sind sicher, die Differenz übernehmen wir. Wir werden es nicht zulassen, dass jemand mehr als X% mehr bezahlen muss.« Mehr Kontrollverlust gibt es meiner Meinung nach nicht. Das war der erste große Anstieg der AfD.
Der zweite große Anstieg der AfD war im Jahr 2023, als wir eigentlich ein großes Investitionspaket gebraucht hätten, noch mal Sicherheit bei den Energiekosten. Es gab nichts für die wirtschaftliche Erholung und wir hatten noch ein Heizungsgesetz,
»Es braucht ein großes Investitionspaket«
Wie kann diese Verunsicherung jetzt nach dem gefühlten Kontrollverlust überwunden werden?
Tom Krebs:
Weil es um einen Verlust von ökonomischer Sicherheit geht, müssen wir beim Ökonomischen ansetzen. Es braucht einen Wirtschaftsaufschwung in die richtige Richtung. Wir wollen immer noch Klimaneutralität, deswegen ergibt es nicht viel Sinn, die Energiewende wieder umzudrehen. Wir sollten jetzt das tun, was wir 2023 schon hätten tun sollen. Es braucht ein großvolumiges Investitionspaket mit Investitionsprämien, möglichst unbürokratisch, insbesondere auch für den Mittelstand.
Wir fördern große Projekte bei Thyssenkrupp. Aber für den Mittelstand, der transformieren möchte und eine neue Produktionsanlage hinstellen muss, gibt es nicht viel. Außerdem brauchen wir Sicherheit bei den Energiepreisen. Wir müssen Strompreise und Wasserstoffpreise deckeln. Aber das reicht nicht. Es braucht massive Investitionen in die Stromnetze, die für den Transport gebraucht werden. Natürlich muss der Ausbau der erneuerbaren Energien weitergehen, wo wir ganz gut im Plan sind, aber immer die Gefahr besteht, dass die Regierung eine Rolle rückwärts macht.
Sie sprechen auch von einem »Fair New Deal«. Was beinhaltet der?
Tom Krebs:
Von dem zusätzlichen wirtschaftlichen Wachstum durch das Investitionspaket sollen die Beschäftigten direkt etwas abbekommen. Nicht indirekt durch Transferzahlungen oder Umverteilung, sondern direkt. Das heißt, man muss sicherstellen, dass auch die Löhne entsprechend wachsen. Das ist kein Naturgesetz. Es stimmt eben nicht, dass die Löhne automatisch wachsen, wenn die Wirtschaft wächst. Wir haben das 20 Jahre gesehen. Auch das ist wieder so ein Märchen der Mainstream-Ökonomen.
Der Arbeitsmarkt ist eben kein Markt für Äpfel und Birnen, sondern es ist ein Markt, wo geschaffen wird. Und über die Verteilung des Mehrwerts muss man verhandeln. Gewerkschaften sind da sehr wichtig und wir brauchen Es sollte Zuschüsse für Unternehmen geben, die Tariflöhne zahlen. Wenn der Staat Aufträge vergibt, dann muss auch ein Kriterium sein, ob die Unternehmen gute Löhne zahlen.
Bei den sicherlich sehr hohen Kosten kommen wir aber schnell bei der extrem ideologisch aufgeladenen Diskussion um eine Reform der an.
Tom Krebs:
Ja und nein. Bei der Schuldenbremse hat sich schon seit einigen Jahren in der Diskussion etwas bewegt. Es gibt viele Ökonomen, die progressiv in Bezug auf die Schuldenbremse sind und sie reformieren wollen. Doch viele dieser Ökonomen sind Marktfundamentalisten, die Industriepolitik grundsätzlich ablehnen und auch kein Problem mit der Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur haben. Aber das passt nicht zusammen. Die Reform der Schuldenbremse ist notwendig, damit wir finanzielle Spielräume für die gezielte Förderung privater Investitionen und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur schaffen. In diesem Sinne ist der Marktfundamentalismus vieler Ökonomen ein größeres Problem als die Schuldenbremse.
Wir brauchen eine Reform der Schuldenbremse, um zusätzliche kreditfinanzierte Investitionen zu ermöglichen. Das kann durch ein grundgesetzlich verankertes Sondervermögen für kommunale Infrastrukturinvestitionen geschehen. Aber ich würde immer noch zusätzlich eine Investitionsregel einführen, damit wir dauerhaft Spielraum haben. Nicht nur wieder einen Fonds, bei dem wir in 5 Jahren sehen, dass es doch nicht reicht. Aber ich möchte vorher auch eine grundsätzliche Diskussion, warum wir eigentlich diese neue Finanzierung brauchen und wofür.
Bist du jetzt richtig warmgelaufen und hast Lust auf mehr? Hier findest du ein Interview mit Maurice Höfgen zur Teuerung durch den Energiepreisschock und warum die Zinserhöhungen der EZB allein nicht sinnvoll waren:
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!