13 Gründe, warum wir über Suizid reden müssen
4 von 5 Deutschen haben im Laufe ihres Lebens Suizidgedanken. Trotzdem redet fast keiner darüber. Wie Film und Literatur helfen können, ein Tabu zu brechen.
Nahaufnahme auf das Spiegelbild eines jungen Mädchens. Ihre Augen füllen sich langsam mit Tränen. Im Hintergrund plätschert das Wasser in die Badewanne. In ihrer Hand hält das Mädchen eine Packung Rasierklingen, aus der sie mit zittrigen Fingern eine Klinge entnimmt und damit in die Wanne steigt. In brutaler Detailtreue hält die Kamera in den nächsten 2 Minuten den Suizid des Mädchens fest. Und als Zuschauer bin ich gezwungen, eine Entscheidung zu treffen:
- Ich könnte wegschauen und die Augen vor der brutalen Realität verschließen.
- Ich sehe ohnmächtig dabei zu, wie ein junger Mensch sein Leben selbst beendet, und werde dabei mit Bildern und Geräuschen konfrontiert, die mich den Schmerz des Mädchens auf unheimliche Weise nachfühlen lassen.
Jede Faser meines Körpers treibt mich in jenem Augenblick in die Flucht. Ich will meine Augen fest zusammenpressen und laut vor mich hin summen. Ein Teil von mir fühlt sich sogar schuldig dafür, dem Mädchen beim Sterben zuzusehen. Ich spüre, dass ich damit ein tief verankertes Tabu breche. 2 Filmminuten später liegt das Mädchen regungslos in der Badewanne und ich bin geschockt: »Sowas darf man nicht zeigen!« Die schärfste Zensur wäre hier noch zu wenig, finde ich und mit dieser Forderung stehe ich bei Weitem nicht allein da.
Die beschriebene Szene, in der sich die fiktive Figur Hannah Baker am Ende der ersten Staffel von »13 Reasons Why« (deutscher Titel: »Tote Mädchen lügen nicht«) das Leben nimmt, löste weltweit einen Sturm der Entrüstung aus. In Deutschland fordert zum Beispiel der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) das Verbot der Serie.
Die Serie thematisiert in 13 Folgen den Selbstmord einer Jugendlichen. Wie auch die Fachverbände der Kinder- und Jugend- sowie auch Erwachsenenpsychiater, so sehen auch Kinder- und Jugendärzte in der Serie eine große Gefahr, insbesondere für psychisch kranke und labile junge Menschen.
Suizid: Ein globales Phänomen
Als ich mich entschloss, diese Serie zu schauen, wusste ich schon, dass die Szene große Wellen schlägt. Der Sturm war bereits aufgezogen. Das war der Grund, weshalb mich die Serie überhaupt interessierte. Als 26-Jähriger gehöre ich eigentlich nicht mehr zur Zielgruppe. Da ich mich aber als Schriftsteller schon seit einigen Jahren mit dem Thema Suizid in der Literatur beschäftigte, wollte ich hier die Perspektive des normalen Konsumenten einnehmen und untersuchen, was die Serie in mir auslösen würde.
Mein Selbstversuch hat mir einmal mehr gezeigt, wie tief verankert das Kommunikationstabu zum Thema Suizid in uns ist. Dabei sind Suizide ein globales Problem. Gemäß einer
Diese Zahlen repräsentieren nur einen kleinen Teil des Problems. Denn einerseits geht die WHO davon aus, dass auf jeden Suizid etwa 10–15 Suizidversuche kommen. Andererseits werden viele Suizide als Unfälle missinterpretiert. Warum also hängen nicht überall Plakate, die uns über Suizid aufklären? Wo bleiben die Chatbots, mit denen wir 24/7 über unsere psychischen Probleme schreiben können, und warum wird gleich ein Verbot gefordert, wenn sich eine Serie erdreistet, einen Suizid zu zeigen?
Paradoxerweise ist eine der größten Herausforderungen der Weltgesundheit auch eines der ältesten Tabus. Nicht nur die Handlung selbst ist ein Tabu, sondern auch die Kommunikation darüber. Bei 13- oder 14-jährigen Jugendlichen gehören Suizidgedanken mit
Laut
Suizid: Die Entstehung eines Tabus
Suizid ist keineswegs ein Thema, das sich auf unsere Zeit beschränkt. Jedoch wird in den verschiedenen Epochen
Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen
Einem Suizidenten wurden im Mittelalter unter anderem die Eigentumsrechte aberkannt. Überlebte die Person, konnte sie dadurch vor dem persönlichen Ruin stehen. Überlebte sie nicht, wurde ihre Familie geächtet und ebenfalls enteignet. Der Suizident wurde folglich so behandelt wie ein Mörder. Außerdem durfte der Leichnam nicht auf geweihtem Boden beerdigt werden. Eine Praxis, die die katholische Kirche bis in die Neuzeit weiterführte. Und in England mussten sich Suizidenten bis ins Jahr 1961 zusätzlich noch vor einer
Die Angst vor Verfolgung und Ächtung führte über mehrere Jahrhunderte dazu, dass über Suizid nicht gesprochen wurde. Und obwohl sich heute die gesetzliche Situation geändert hat und wir wissen, dass durch Gespräche Leben gerettet werden können, bleibt es ein Tabu.
»Lasst uns ein Tabu brechen!«
Ein Tabu wird aufgrund einer gesellschaftlichen Konvention unterbewusst weitergegeben. Bei Tabus gibt es verschiedene Stufen. Wenn nicht bloß die Tat, sondern auch das Sprechen über diese ein Tabu darstellt, sprechen wir von einem Kommunikationstabu,
Wenn wir über das Suizidtabu sprechen, müssen wir zwischen 2 Stufen unterscheiden: dem Tat-Tabu zur Suizidhandlung selbst und dem Tabu, über Suizid zu sprechen. Während das Tat-Tabu nach wie vor einer
Ein erster Schritt zum Tabubruch muss also sein, dass wir das Tabu überhaupt erst erkennen. Wir müssen mit ihm konfrontiert werden, um in einem zweiten Schritt für das Totgeschwiegene einen sprachlichen Ausdruck zu finden. Da dies ein langwieriger Prozess ist, hilft gerade die Literatur und der Film dabei, immer wieder das Kommunikationstabu zu brechen. Denn nur durch die wiederholte öffentliche Verletzung eines Tabus wird dieses langsam abgebaut.
»Aber was, wenn sie es nachmachen?«
Klingt simpel, wir können das Problem des Tabus bekämpfen, indem wir Suizid in der Literatur häufiger thematisieren, mehr Serien mit entsprechendem Inhalt produzieren und die Medien öfter über Suizide berichten lassen. Problem gelöst!
Nicht ganz. Beim Brechen des Suizidtabus gilt es eine zentrale Gefahr zu beachten: die Gefahr vor Nachahmungstaten.
Mit mehr als
Medial präsentierte Suizide ziehen häufig Nachahmungstaten nach sich: der sogenannte Werther-Effekt. Deshalb gibt es internationale Richtlinien, wie über Suizide berichtet wird. Die Netflix-Serie missachtet diese Richtlinien. Sie zeigt den Suizid drastisch und detailliert. Jugendliche, die sich mit der Idee der Selbsttötung beschäftigen, werden durch die Serie möglicherweise in Richtung Tat beeinflusst. Zumal sie auch zeigt, wie ein Suizid gelingen kann.
Hauptgrund für die Debatte ist also der »Werther-Effekt«. Der Begriff bezieht sich auf Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werther«, in dem sich die Hauptfigur das Leben nimmt. Kurz nach dem Erscheinen im Jahr 1774 konnte eine Häufung von Suiziden beobachtet werden. Genau 200 Jahre später, im Jahr 1974, prägte David P. Phillips in einer
Das Gegenstück dazu ist der »Papageno-Effekt«, benannt nach der Figur Papagenos aus Mozarts Oper »Die Zauberflöte«. Ihm gelingt es mit fremder Hilfe, seine eigene suizidale Krise zu bewältigen. Es ist
Wenn wir über Suizid sprechen, sollten wir also eher auf den Papageno-Effekt hinzielen als auf den Werther-Effekt. Denn wenn wir es falsch angehen, führt das Brechen des Tabus zu mehr Suiziden.
Was hilft? Was schadet?
Verschiedene Suizid-Präventionsstellen haben basierend auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen Leitfäden publiziert, wie die
Faktoren, die die Gefahr für Suizidhandlungen erhöhen:
- Wenn die Handlung des Suizidenten als bewundernswert, heroisch oder akzeptabel dargestellt wird.
- Wenn Angaben über die soziale Beziehung, emotionale Verfassung, Charakter und Leistungsfähigkeit gemacht werden. (»Schüler erhängt sich wegen schlechter Noten«)
- Wenn Details und Ablauf der Suizidmethode dargestellt werden.
- Spekulationen über Ursachen und Romantisierung des Suizides. (»Sie sind nun auf ewig vereint«)
Faktoren, die einen Nachahmungseffekt verringern können:
- Deutliches Aufzeigen von Alternativen: Wie hätte der Betroffene Hilfe finden können? Welche Anlaufstellen gibt es?
- Berichte, in denen die Bewältigung von Krisensituationen aufgezeigt werden, zum Beispiel Berichte über Menschen, die eine suizidale Krise überstanden haben.
- Aufzeigen, dass Depression jeden treffen kann und diese oft in Verbindung mit suizidalem Verhalten auftritt und behandelbar ist.
- Informationen über mögliche Warnsignale.
Diese Richtlinien wurden explizit für Medienschaffende erstellt. Es stellt sich die Frage, ob für die Kunst die gleichen Richtlinien gelten und ob Suizid als Thema gemieden werden sollte. Thomas Brunner, Leiter der Pro-Juventute-Beratungsdienstleistungen, verneint: »Ich bin sicher, dass es ein falscher Impuls wäre, wenn man Suizid als Gegenstand der Kunst verbieten würde.« Dennoch ist er zwiegespalten. Wenn nämlich Suizid in der Kunst glorifiziert würde, hätte das einen negativen Einfluss. »Dort finde ich, dass Künstler in einer gewissen Verantwortung stehen, und ich würde mir wünschen, dass diese Verantwortung offener diskutiert würde.«
Schriftstellern rät Brunner, dass sie Suizide nicht als reine Impulshandlungen darstellen sollen. »In einer solchen Darstellung gibt es kaum Platz, um die Zusammenhänge und Hintergründe zu thematisieren. Wichtig ist, dass aufgezeigt wird, dass es andere Wege gegeben hätte.«
Eine mögliche Lösung, um das Tabu zu durchbrechen, gleichzeitig aber keinen Werther-Effekt auszulösen, wäre das gemeinsame Lesen oder Anschauen und die anschließende Diskussion in der Gruppe. Es komme allerdings darauf an, wie die Diskussion in der Gruppe geführt werde, sagt Brunner: »Es gibt das Phänomen, dass in einzelnen Communities oder Foren diese Themen dermaßen glorifiziert werden, dass am Ende sogar Anleitungen kursieren. Das kann gefährliche Ausmaße annehmen.« Das Wichtigste sei bei allen Diskussionen die Gegenposition. »Suizidgedanken zu haben ist etwas
Viele Betroffene erleben ihre eigene Suizidalität als eine Art Kommunikationsstörung. Sie versuchten sich Hilfe zu holen, wurden aber nicht gehört. Die meisten begehen einen Suizidversuch aus Verzweiflung, weil sie überzeugt sind, dass sie mit der akuten Situation nicht umgehen können. Sie wünschen sich nicht den Tod, sondern sind einfach nicht in der Lage, die aktuelle Situation als lebenswerten Zustand zu sehen.
Verbote helfen nicht. Wir müssen darüber reden!
Die Serie »13 Reasons Why« hat sicher einige
Unter dem Titel »13 Reasons Why not« werden Aktionen durchgeführt, wie die an der Oxford High School im US-Bundesstaat
Durch Aktionen wie »13 Reasons Why not« kann es uns gelingen, das Kommunikationstabu mit der Zeit zu durchbrechen und so ein besseres Verständnis für die Betroffenen zu erlangen. So müssen wir uns irgendwann keine brutalen Szenen mehr anschauen, nur um zu erkennen, dass wir über Suizid und seine Hintergründe reden müssen.
Titelbild: Netflix - copyright