Eine Radreise durch ein Land in Aufruhr
Am Samstag hat Georgien ein neues Parlament gewählt. Offiziell hat die russlandfreundliche Regierungspartei die Wahl knapp gewonnen, doch es regt sich Widerstand. Die Opposition spricht von Betrug. Unser Autor war vor Ort.
Normalerweise herrscht auf der Rustaveli Avenue in der georgischen Hauptstadt Tbilisi das reinste Verkehrschaos: Eine 6-spurige Schnellstraße inmitten der Stadt. Ampeln oder Zebrastreifen? Fehlanzeige. Die einzige Chance, die Straße heil zu überqueren, ist die Unterführung. Ein lebensfeindlicher Ort für alle, die nicht im Auto sitzen.
Doch an diesem lauen Oktoberabend, 2 Tage nach der Parlamentswahl, ist die Straße wie leergefegt von Autos. Heute gehört der Asphalt den Demonstrant:innen. Zu Zehntausenden strömen sie, mit Georgien-, Ukraine- und EU-Flagge ausgestattet, vor das Parlament. Sie folgen dem Ruf der Präsidentin Salome Surabischwili, die selbst nicht der Regierungspartei angehört und am Vorabend erklärt hatte, dass die Stimmen der Georgier:innen gestohlen worden seien.
Hier, vor Georgiens höchstem Haus, wollen sie protestieren. Gegen eine Wahl, die aus ihrer Sicht manipuliert wurde. Gegen Russlands wachsenden Einfluss. Und für ein freies, selbstbestimmtes Georgien, dessen Zukunft, und darüber ist man sich hier einig, in einer Annäherung an Europa liegt.
Als Surabischwili unter Geleitschutz auf die Bühne geführt wird, brandet tosender Applaus auf. Sie hat sich in den letzten Jahren zu einer starken Kritikerin des Regierungskurses und einer leidenschaftlichen Befürworterin der Annäherung des Landes an die EU entwickelt.
Mittlerweile unterstützt sie offen die proeuropäische Opposition. Georgien sei »Opfer der hybriden Kriegsführung Russlands« geworden, beginnt sie ihre Rede. Ironisch nennt sie die Wahl eine »Russische Spezialoperation«, eine Anspielung darauf, wie Russland seinen Krieg in der Ukraine nennt.
Bei dieser Wahl geht es um die grundlegende Ausrichtung Georgiens mit allem, was damit einhergeht: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, eine offene Gesellschaft – und am Ende auch um Freiheit, so zumindest erzählen es mir die Menschen, als ich mich – 2 Tage nachdem die Georgier:innen ihren Wahlzettel in die Urne geschmissen haben – unter die Demonstrant:innen mische.
Georgien: Liebe auf den ersten Blick
Vor 9 Jahren bin ich gemeinsam mit einem Freund und mit nichts weiter als einem Rucksack und einem Zelt im Gepäck das erste Mal nach Georgien gereist. 2 Monate sind wir quer durch ein Land getrampt, das gerade einmal so groß ist wie Bayern und in etwa so viele Einwohner:innen zählt wie Berlin. Wir wanderten in den ehrfurchtgebietenden Bergen des Kaukasus, machten Bekanntschaft mit wunderbar gastfreundlichen Menschen, wurden zu dem einen oder anderen Weingelage eingeladen und entdeckten die vorzügliche georgische Küche.
Seit dieser Reise habe ich Georgien fest in mein Herz geschlossen und verfolge mit Interesse und Sorge, wie das Land um seinen Platz zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und Autokratie kämpft. Denn die Tragik Georgiens ist, dass die Menschen hier schon mal weiter waren als heute. 2003 kam
Doch es kam anders. 2008 verzettelte sich Georgien
Unter diesen Vorzeichen finden Ende Oktober die Parlamentswahlen statt. Ein Ereignis, das ich
Die nächsten 300 Kilometer geht es durch das georgische Hochland, eine Gegend, in der es bereits eiskalt ist und der erste Schnee fällt. Einsame Dörfer sprenkeln die karge Landschaft und werden durch den zähen Rauch der Kamine in dichten Nebel gehüllt. Die Blicke der wenigen Menschen, die hier in einfachen Verhältnissen wohnen, sind freundlich und skeptisch zugleich. Nicht viele Radreisende verirren sich hierher.
Titelbild: Ingwar Perowanowitsch - copyright