Warum du dich beim Krieg in Nahost nicht für »eine Seite« entscheiden musst
Trotz Polarisierung im Gespräch bleiben: eine Deutsch-Palästinenserin und ein deutscher Jude mit israelischen Wurzeln zeigen, wie es geht.
6. November 2024
– 15 Minuten
Achim Pohl
Was sie tun, grenze an Wahnsinn, sagen Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann.
Seit über einem Jahr reisen die Deutsch-Palästinenserin und der deutsche Jude durchs Land, um mit Schüler:innen und Lehrkräften über Israel und Palästina zu sprechen. Es ist ihre Antwort auf die Gewalt, die seit dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 und der militärischen Reaktion Israels darauf eskaliert ist – und die im deutschen Diskurs eine gefährliche Einseitigkeit und Lagerbildung entblößt hat.
Da sind zum einen deutsche Medien, und es versäumen, oder wo sich insbesondere junge Menschen informieren.
Mittendrin: Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann. »Wir stellen uns mitten in die deutsche Gesellschaft mit all ihren Identitätskrisen und sagen: Prügelt auf uns ein«, sagen sie. Ihre Haltung: Empathie – für alle. Trotz all des Schmerzes, des Leidens ihrer eigenen Familien und des grassierenden Hasses. Sie lassen sich nicht zu Feinden konstruieren und sind überzeugt,
Mit 2.200 Jugendlichen haben Hassoun und Hoffmann bisher an Schulen gesprochen – und online noch viel mehr. Ihre Erfahrungen haben sie gemeinsam mit der Autorin Maike Harel aufgeschrieben. Ihr Buch ist eine Anleitung für alle, die genau das tun und wollen, ohne dabei die Menschlichkeit aller Betroffenen aus den Augen zu verlieren.
Ich habe mit Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann gesprochen und gefragt: Was läuft falsch im deutschen Diskurs? Was können wir von euch lernen, um es besser zu machen?
Lena Bäunker:
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich dieses Gespräch beginnen soll. Als Person, die nicht direkt betroffen ist, frage ich mich, wie ich Ihrem unsagbaren Leid und Schmerz gerecht werden kann – außer mit Mitgefühl. Gibt es vielleicht eine Frage, die Ihnen selten gestellt wird, die Sie aber gerne einmal hören würden?
Jouanna Hassoun:
Wenn Ihr Mitgefühl sowohl palästinensischen als auch jüdischen Menschen gilt, sind Sie schon weiter als viele andere.
Shai Hoffmann:
Sie sprechen ja zu uns als Journalistin. Bei all der Skepsis, fände ich es schön, wenn Medien Betroffene fragen würden: Gibt es etwas, was wir für euch tun können?
Was können wir denn für Sie tun?
Jouanna Hassoun:
Reflektierte Beiträge schreiben, beide Seiten betrachten, differenzieren. Das wäre mein Wunsch. Ich lese immer noch deutsche Nachrichten, aber kriege jedes Mal Bauchschmerzen. Es gibt natürlich Ausnahmen und Journalist:innen, die gute Arbeit machen. Allerdings fällt es mir schwer, deutsche Beiträge zu lesen, weil ich jedes Mal erwarte, dass es wieder nur um Terrorismus, Milizen und Hamas-Anhänger:innen geht und Wenn Zivilist:innen genannt werden, sind sie oft nur eine Randnotiz. Das tut weh.
Shai Hoffmann:
Medien müssen den Menschen dabei helfen, zu erkennen, dass Palästinenser:innen nicht mit der Hamas gleichzusetzen sind. Und sie müssen die Heterogenität innerhalb jüdischer Identitäten sichtbar machen.
Sie sprechen seit über einem Jahr an Schulen und in den Medien über die Situation in Palästina, Israel und, neuerdings, auch im Libanon. Gibt es noch Momente, in denen Sie selbst einfach keine Worte finden?
Jouanna Hassoun:
Wir fragen uns täglich, wie wir bestimmte Dinge sagen können oder wollen. Das ist schwer, doch wir wissen, dass wir dranbleiben müssen. Wir müssen miteinander sprechen. Wir müssen den Menschen eine Anlaufstelle bieten, die die Menschlichkeit in den Fokus rückt und radikalen Stimmen etwas entgegensetzt.
Shai Hoffmann:
Ganz ehrlich, mit Blick auf unsere Heimaten, wie kann man da nicht sprachlos sein? All die Gewalt und die absolutistischen Bestrebungen der Hamas, der Hisbollah, des Iran, und der israelischen Regierung sind so angsteinflößend. Was nutzen da unsere Worte? Und gleichzeitig: Was bleibt uns anderes übrig? Das Einzige, was wir haben, sind unsere Worte. Aber es ist schwierig, ständig die richtigen Worte zu finden für das, was da passiert.
Gerade im deutschen Diskurs erscheint mir das schwierig. Jüd:innen werden hier schnell für das Verhalten Israels verantwortlich gemacht und Palästinenser:innen werden pauschal als antisemitisch gebrandmarkt. Warum tun Sie sich das an?
Jouanna Hassoun:
Weil wir keine andere Wahl haben. Wir brauchen andere Erzählungen, mehr Mitgefühl, mehr Akzeptanz für das Leid des anderen, die Anerkennung von palästinensischem und von jüdischem Leben. Wenn ich es nicht mehr machen würde, würde ich vermutlich in Depression verfallen. Es ist das Einzige, was mir noch Hoffnung gibt.
Shai Hoffmann:
Wir müssen uns auch die Frage stellen: Was wäre die Alternative? Wenn wir nicht in die Schulen gehen oder hier mit Ihnen sitzen würden, dann würden es konservative, reaktionäre jüdische oder palästinensische Stimmen tun, die keine Brücken bauen wollen, die nur das Leid der eigenen Seite sehen. Lieber versuchen wir, den Diskursraum mitzugestalten und dafür zu werben, dass Menschenrechte universell sind und nicht partikular.
Wie reagieren Menschen auf Ihre Arbeit?
Shai Hoffmann:
Der befürchtete große Shitstorm blieb bisher aus. Was überwiegt und was Mut macht, sind die positiven Rückmeldungen. Aber natürlich gibt es Menschen, für die wir nicht radikal genug sind – in die eine oder andere Richtung.
Jouanna Hassoun:
Vor allem Schüler:innen denken das. Ich sei keine echte Palästinenserin und Shai kein echter Jude, sonst würden wir uns ja nicht so für die andere Seite aussprechen, sagen sie. Aber nachdem sie uns kennengelernt haben, öffnen sie sich und teilen ihre Gefühle mit uns, was nicht selbstverständlich ist.
Shai Hoffmann:
Die Lehrkräfte sind in der Regel sehr dankbar dafür, dass wir Räume öffnen, um über dieses Thema zu sprechen. Sie selbst haben oft Angst davor. Oder sie haben es versucht und es ging brachial schief, weil sie nur das eine Leid gesehen haben oder das Thema mit einem Schuldkomplex angegangen sind.
Was müsste sich ändern, damit der Dialog über Nahost an Schulen leichter wird?
Shai Hoffmann:
Ein wesentliches Problem ist, dass der Nahostkonflikt und die Geschichte der Jüd:innen nach dem Zweiten Weltkrieg bisher keine obligatorischen Unterrichtsinhalte sind. Das muss sich ändern.
Es gibt viel Kritik an der deutschen Medienberichterstattung zu Israel und Palästina. Was läuft Ihrer Meinung nach schief?
Shai Hoffmann:
Wir waren gerade auf der Buchmesse und haben erfahren, dass es in der Belletristik keinen einzigen deutschsprachigen, palästinensischen Autoren oder Autorin gibt. Warum sind Palästinenser:innen in der deutschen Medienlandschaft so unsichtbar? Der Diskurs ist so vergiftet und einschüchternd, dass Palästinenser:innen von vornherein sagen: »Ich bin doch nicht lebensmüde. Ich gefährde doch nicht meine ganze Existenz für einen Auftritt bei Markus Lanz und sitze da zusammen mit Volker Beck oder Ahmed Mansour und lasse mich fertig machen.«
Jouanna Hassoun:
Man ist tatsächlich lebensmüde, wenn man sich als Palästinenser oder Palästinenserin outet. Uns wird sofort unsere Menschlichkeit abgeschrieben. Was wir erreicht haben, ob wir Ärzt:innen oder Anwält:innen sind, dass wir Menschen mit Gefühlen und Schmerz sind, spielt keine Rolle. Es geht nur um die Hamas und die Politik. Unsichtbar waren wir aber auch schon vor dem 7. Oktober: Aufgrund der Staatenlosigkeit werden wir oft gar nicht erst benannt. Ich selbst bin im Libanon geboren und musste lange dafür kämpfen, dass man mich als Palästinenserin vorstellt, nicht als Libanesin.
Es geht also um die Unterrepräsentanz, Stigmatisierung und mangelnde Empathie gegenüber palästinensischen Menschen.
Shai Hoffmann:
Ich würde auch die Stigmatisierung von jüdischen progressiven Stimmen einschließen. Denn auch progressive jüdische Menschen werden diskreditiert, ausgeladen und gecancelt.
Im Buch sprechen Sie von »deutschen Befindlichkeiten«, die diesen öffentlichen Diskurs prägen. Welche Befindlichkeiten sind das?
Jouanna Hassoun:
Wir meinen damit vor allem den Antisemitismus-Diskurs. Der ist in Deutschland komplett verdreht. Wenn Menschen in Deutschland Kritik an der israelischen Regierung ausüben, wird ihnen direkt Antisemitismus vorgeworfen. Es wird gar nicht richtig unterschieden: Selbst in Israel gehen Hunderttausende Menschen gegen ihre Regierung auf die Straße, aber in Deutschland sind wir nicht bereit, sie zu kritisieren. Da sage ich: Finde den Fehler! Es gibt sogar Leute, die jüdischen Menschen erklären wollen, was Antisemitismus ist. Oder die behaupten, Antisemitismus sei importiert – nach dem Motto: »Wir haben eine gute Erinnerungskultur und aus unseren Fehlern gelernt. Wir sind keine Antisemiten mehr. Das sind jetzt die anderen.«
Ob am Abendbrottisch, in den sozialen Medien oder im Europaparlament – Konflikte sind allgegenwärtig. Oft enden sie in Frustration, Beleidigungen oder sogar Gewalt. Lena fragt sich: Geht das nicht auch anders? Um herauszufinden, wie wir konstruktiver miteinander kommunizieren, gesündere Beziehungen aufbauen und so zu einer friedlicheren Gesellschaft beitragen können, hat sie interkulturelle und politische Kommunikation studiert. Derzeit absolviert sie eine Weiterbildung zur Konfliktmediatorin.