»Ich bin erstaunt, wie viele Leute in ihrem Denken eingefroren sind«
Autor Ilija Trojanow sagt: Wir brauchen Utopien, wenn wir als Gesellschaft weiterkommen wollen. Dabei können wir ausgerechnet von den Piraten im 18. Jahrhundert lernen.
8. November 2024
– 10 Minuten
Thomas Dorn
Ich verstehe nicht, warum Leute Angst vor neuen Ideen haben. Ich habe Angst vor den alten.John Cage, US-amerikanischer Komponist und Künstler, Anreger neuer Kunstrichtungen
Ilija Trojanow verweist gern auf dieses Zitat. Der Autor, der sich selbst als Utopist bezeichnet, beklagt, dass es unserer aktuellen Gesellschaft an Visionen für die Zukunft fehle.
Weder politische Parteien noch große Intellektuelle und Expert:innen denken heute in Utopien. Im Gegenteil: Es herrscht fast eine Abneigung gegen Gedankenspiele, die allzu sehr von der Realität abweichen. Schnell landet man bei Vorwürfen der unrealistischen Schönfärberei.
Genau das führt dazu, so Trojanow, dass wir keinen Ausweg sehen aus den Problemen unserer Zeit und stattdessen viele Menschen den Rückwärtsgang einlegen. Also zum Beispiel reaktionäre Parteien wie die AfD wählen.
Er hält deshalb regelmäßig Workshops in Deutschland und Österreich ab, die er »Der utopische Raum« nennt. Und er hat 2023 seinen utopischen Roman veröffentlicht.
Der Autor ist überzeugt:
Wir müssen den Problemen von der zuversichtlichen Seite in den Rücken fallen, anstatt uns immer an existierende Rahmenbedingungen zu halten. So kommen wir zu viel besseren Lösungen.Ilija Trojanow
Doch wie befreien wir uns von den engen Denkmustern und trainieren stattdessen unseren Utopie-Muskel? Warum fällt es uns überhaupt so schwer, an Utopien zu glauben, obwohl so viele bereits realisiert wurden? Ilija Trojanow teilt seine Einsichten.
Julia Tappeiner:
Sie bekennen sich offen als »Utopist«. Was macht einen Utopisten aus?
Ilija Trojanow:
2 Sachen kommen zusammen. Das erste ist ein bestimmter historischer Blick. Dass man die enorme Bedeutung utopischer Visionen für das, was wir Fortschritt nennen, erkannt hat. Dass man einen Blick dafür hat, dass es immer wieder utopische Aufbrüche gab, von den sogenannten Naturvölkern bis hin zu den
Und das Zweite?
Ilija Trojanow:
Das betrifft die Zukunft. Es ist die feste Überzeugung, dass wir heutzutage einem Dogma der Alternativlosigkeit ausgesetzt sind. Und dass wir diese Denkfesseln niederreißen müssen. Dass wir alle grundsätzlichen Konzepte, wie die Gesellschaft organisiert ist, wie der Mensch sich darin bewegt, infrage stellen können und sollten.
Ist es heute besonders schwer, ein Utopist zu sein?
Ilija Trojanow:
Es hat immer wieder intensive Phasen der utopischen Verdichtung gegeben. Gerade vor großen Transformationen,
Und dann gibt es Phasen des völligen utopischen Stillstandes. Und in so einer Phase befinden wir uns heute.
Ich habe das Gefühl, im Moment befinden wir uns in einem abgeschlossenen Raum, die Luft ist stickig und miefig, und viele Leute fühlen sich unwohl. Aber das Naheliegende, einfach mal alle Türen und Fenster aufzureißen und frische Luft reinzulassen – das fällt sehr vielen nicht ein.
Ich würde sogar sagen: Wenn heute jemand das Fenster aufreißt, wird er eher belächelt und als Tagträumer abgestempelt. Uns bei Perspective Daily treiben ja ähnliche Motivationen an. Und noch immer wird Konstruktiver Journalismus von vielen als Schönfärberei bezeichnet.
Ilija Trojanow:
Ich werde zwar nicht belächelt. Aber ich erlebe, dass Utopien meist nicht verstanden werden. Ich bin erstaunt, wie viele Leute dermaßen in ihrem Denken eingefroren sind, dass sie nicht die Flexibilität haben, sich geistig auf Alternativen einzulassen oder sie überhaupt zu kapieren.
Inwiefern werden Utopien missverstanden?
Ilija Trojanow:
Oft wollen die Menschen sofort wissen, wie wir zu der Realisierung der Utopie kommen. Aber utopisches Denken ist keine Blaupause, es ist kein Parteiprogramm. Die Utopie beginnt damit, dass man etwas denkt, was im Moment tatsächlich nicht erreichbar erscheint. Erst mit der Zeit kann sie zunehmend erreichbarer erscheinen.
Diese Vorstellung, man müsse jetzt gleich die Route vorzeichnen, ist eine Folge des utilitaristischen Denkens, das den Kapitalismus ausmacht. Alles muss immer quantifizierbar, messbar, aufzeigbar und beweisbar sein.
Wenn man sich die Monatsmiete kaum leisten kann, bleibt wenig Raum für utopische Fantasien. Liegt das Fehlen an Utopien heute vielleicht daran, dass es vielen Menschen wirtschaftlich gerade schlechter geht?
Ilija Trojanow:
Das höre ich immer wieder und es ist atemberaubender Unfug. Utopisches Denken hängt nicht damit zusammen, wie gut oder schlecht es den Menschen gerade geht. Das zeigt etwa Rebecca Solnit in ihrem Darin werden 8 gut recherchierte Beispiele von Fällen erzählt, in denen Schlimmes passiert ist, etwa oder und die Gesellschaft reagiert darauf nicht mit Chaos und Gewalt, sondern im Gegenteil – in einem atemberaubenden Tempo gibt es ein Aufblühen
Davon merkt man bei uns gerade wenig. Die Menschen wählen vermehrt rechtsradikale Parteien, die alles so belassen wollen, wie es ist.
Ilija Trojanow:
Das Erstarken der Rechten ist ein Beweis dafür, dass es zu wenig Utopien gibt. Woran soll sich jemand, der unzufrieden ist, sonst festhalten?
Ein Großteil unserer Medien ist da sehr unehrlich, denn sie müssten zugestehen, dass diese Leute einen guten Grund haben, unzufrieden zu sein. Keine der etablierten Parteien schlägt aber konstruktive Alternativen oder Lösungen vor. Es geht nur mehr um Abwehr, zum Beispiel von Migranten, oder die ständige apokalyptische Rhetorik, dass die Rentensysteme und das Sozialsystem kollabieren werden.
Manche Utopien wurden so radikal umgesetzt, dass sie sich in ihr Gegenteil verwandelten. Der Kommunismus während der Sowjetunion zum Beispiel. Können utopische Visionen auch gefährlich sein?
Ilija Trojanow:
Nach meiner Definition nicht, da ich die Utopie immer als etwas bezeichne, was nicht die Grundfreiheiten anderer beschneidet, sondern die Menschenrechte würdigt.
Dass wir alle Veganer und Vegetarier werden, ist für mich keine Utopie, weil das Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Fleisch essen, in ihrer Freiheit einschränkt. Eine Utopie wäre vielmehr eine Welt, in der es ein gewisses Maß an Tierrechten gibt.
Was bringt es mir persönlich, wenn ich utopischer denke?
Ilija Trojanow:
Ich betone immer wieder den Lustfaktor: utopisch zu denken, ist wirklich beglückend. Ich kann das jedem nur empfehlen, gerade wenn die Leute grimmig, schlecht gelaunt oder pessimistisch durch den Tag laufen.
Das ist nämlich eine total faszinierende Sache: Wir leben in der reichsten Gesellschaft, die es in diesem Land jemals gab. Und trotzdem, wenn die Umfragen stimmen und unser Eindruck, den wir in S-Bahn- und U-Bahn-Fahrten erhalten,
Wie werden wir diese Denk-Hürden los und trainieren stattdessen unseren Utopie-Muskel?
Ilija Trojanow:
Indem wir uns fragen, wieso das Gegenwärtige in uns Unbehagen hervorruft. Könnte es daran liegen, dass ich mich habe hineinzwängen lassen in ein System, in dem ein Großteil der möglichen humanen Wertigkeiten nicht vorkommt? Also Solidarität, Pflege, gegenseitige Hilfe, soziales Leben …
Und dann wäre man ja ganz schnell wieder beim Utopischen.
In einem nächsten Schritt müsste man jeglichen Utilitarismus einfach fallen lassen und sagen: Lass mich mit geschlossenen Augen völlig frei imaginieren, was mir persönlich gefallen würde. Sich das einfach mal zuzugestehen.
Und in einem dritten Schritt sollte man das an andere Menschen kommunizieren, oder, wenn man die Möglichkeit dazu hat, es publizieren.
Désiree Schneider gibt dir eine konkrete Anleitung, wie du deine eigene Utopie entwirfst:
In Ihrem neuen Roman stecken viele utopische Gedanken.
Ilija Trojanow:
Ich wollte nicht eine bestimmte Utopie bis ins kleinste Detail erzählen, wie es in den meisten utopischen Romanen geschieht – denn das hat für mich fast schon etwas Totalitäres. Ich wollte eine flirrende Unschärfe haben. Mehrere Visionen, die es erlauben, demjenigen oder derjenigen, der oder die den Roman liest, selbst anzudocken und mit seinen oder ihren eigenen Vorstellungen zu schmücken. Ein offenes System der Tagträumerei, sozusagen.
Das Besondere in Ihrem Roman ist, dass Sie nicht nur die Zukunft beschreiben, sondern die Bedeutung unserer Vergangenheit für aktuelle Utopien betonen.
Ilija Trojanow:
In den meisten utopischen Romanen, die ich gelesen habe, kommen immer Protagonisten vor, die von unserer aktuellen Welt in eine utopische Zukunft reisen. Ich wollte das auf den Kopf stellen, und habe mir überlegt, wie es wäre, wenn – in meinem Fall – die Heldin aus der utopischen Welt in eine Welt reist, die es früher gegeben hat.
Die Protagonistin reist dann zum Beispiel zu den russischen Revolutionären oder zu Piratinnen in die Karibik. Letztere bezeichnen Sie als Utopisten. Warum?
Ilija Trojanow:
Die Utopie der Piraten beginnt damit, dass sie sich dem damaligen System verweigert haben. Im Roman sind wir ungefähr im Jahr 1720. Die Industrialisierung, die damals gerade beginnt, hat die Bauernschaft kaputt gemacht und die Menschen gezwungen, industrielle Jobs anzunehmen. Es gab damals nichts, was nur annähernd den Menschenrechten entsprochen hätte. Dagegen haben die Piraten rebelliert. Das waren Radikale, Aussteiger.
Stattdessen haben sie eine egalitäre Kleingesellschaft etabliert. Der Kapitän wurde zum Beispiel gewählt, für die Dauer eines Beutezugs.
Wenn sie wieder an Land waren, haben sie sich zurückgelehnt, das Leben genossen und alles erst mal aufgegessen und versoffen. Erst wenn nichts mehr da war, haben sie sich wieder auf die Suche gemacht. Das ist eine Utopie des Müßiggangs, die auch bei den Jägern und Sammlern verwirklicht war. Die haben ungefähr 20 Stunden in der Woche gearbeitet. Vermögensanhäufung gab es nicht.
Sie gehen sogar einen Schritt weiter und sagen, Piraten seien die Begründer der Allgemeinen Krankenversicherung.
Ilija Trojanow:
Weil es Dokumente gibt, die bezeugen, dass jedes Mitglied einer Crew einen eigenen Anteil in eine Kiste zahlte und aus der Kiste medizinische Notausgaben bestritten wurden.
Es gab sogar – und das schockiert die Leute am meisten – die gleichgeschlechtliche Ehe. Interessant ist, dass sie als fiktive Figuren bis heute eher negativ betrachtet werden. Diese historischen Fakten werden in keinem einzigen Hollywoodfilm dargestellt.
Dabei trägt ein Großteil der Menschen dieses Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der Selbstbestimmtheit auch heute in sich. Daher kommt unsere Faszination für die Piraten oder auch für eine Figur wie Robin Hood. Jeder, der sagt,
In einem Ihrer Workshops haben Sie gesagt: »Das Problem von Utopien ist: Sie werden unsichtbar, sobald sie verwirklicht werden.« Ist das ein Grund, warum wir selten an sie glauben?
Ilija Trojanow:
Ja, Utopien sind Opfer ihres Erfolgs. Mein Lieblingsbeispiel ist das Wahlrecht für Frauen. Das stellt heute niemand mehr infrage, nicht mal die AfD oder Donald Trump. Und trotzdem: Es gab eine Zeit, da war das völlig utopisch.
Gibt es weitere Beispiele realisierter und vergessener Utopien?
Ilija Trojanow:
Ein schönes Beispiel einer kleinen Utopie: Ich habe vor langer Zeit in Paris gelebt. Die Stadt war verkehrsmäßig ein Horror. Neulich war ich wieder dort.
Es ist irre, was eine einzige Bürgermeisterin erreichen konnte. Aber in ein paar Jahren wird man vergessen haben, wie radikal diese Stadtpolitik zu Beginn erschien.
Das Beispiel von Paris gehört zu jenen Utopien, die recht schnell – im Lauf eines Jahrzehnts – verwirklicht wurden. Andere brauchen hingegen Jahrhunderte oder verschwinden ganz. Was ist ausschlaggebend dafür, dass eine Utopie zur Realität wird?
Ilija Trojanow:
Das ist die Frage, die keiner beantworten kann. Die Marxisten haben mit pseudowissenschaftlichen Modellen versucht, vorherzusagen, wann der Klassenkampf einen Kipppunkt erreicht und dann der rationale Fortschritt der Geschichte fortwirkt. Aber wie wir wissen, ist das ziemlicher Unfug.
Oft ist es so, dass der Wandel plötzlich hervorbricht und uns selbst überrascht.
So war es bei der
Ilija Trojanow:
Genau, das ist schon wirklich irre, die Zeitdokumente zu lesen. Selbst Lenin meinte in einem Brief an seine Genossen, er werde es ja nicht mehr erleben, aber sie müssten weiter dafür kämpfen, dass wenigstens ihre Kinder eines Tages die Revolution miterlebten. Und plötzlich war sie da, noch im selben Jahr.
Das finde ich tröstlich und es gibt mir Zuversicht, dass auch in apathischen Zeiten wie diesen sich die Lage ganz schnell ändern kann.
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.