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Bundestagswahl 2017 

Was wir tun müssen, damit morgen die Schulbank nicht kracht

Bis zum Jahr 2025 gibt es eine Million Schüler mehr als geplant. Mit diesen 8 Hausaufgaben bleibt Deutschland nicht sitzen.

12. September 2017  –  10 Minuten

Ein hässliches Wort geistert derzeit

Das klingt nach etwas Unaufhaltsamem, nach einem Naturereignis und nach etwas, hinter dem man her wischen muss. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine überraschende Prognose: Nach Jahren sinkender Schülerzahlen steigen diese wieder und »spülen« knapp eine Million neuer Schüler in unser Schulsystem – auf die niemand vorbereitet war. Das stellt den Bildungssektor und die Politik vor eine neue, enorme Herausforderung.

Doch unaufhaltsam ist diese nicht und schon gar nicht etwas, das wir über uns ungebremst hereinbrechen lassen sollten. Erste Kommunen und Länder reagieren bereits, »zücken die Sandsäcke« und erproben Lösungen, die Schule machen könnten. Eine davon ist so radikal wie eine Andeutung der Bundeskanzlerin: das ganze Bildungssystem umstellen.

Darum »verschätzt« sich die Politik um 1,1 Millionen Schüler

Bis zu diesem Jahr träumten die Bildungsminister von der »Demografischen Rendite«. Nach Hochrechnungen aus den Jahren 2008 und 2013 sollten die Schülerzahlen in Deutschland in Zukunft – auf Basis der damaligen Daten durchaus eine realistische Einschätzung. Anstatt Stellen abzubauen, wollte man diese Tendenz nutzen. Das gewünschte Ergebnis: kleinere Klassen und viel mehr Zeit für individuelle Förderung – Ohne Investitionen hätte sich die Bildungssituation in Deutschland damit quasi von selbst verbessert. Manche planten sogar schon fest mit den freiwerdenden Ressourcen, etwa für

Dirk Zorn arbeitet für die Bertelsmann-Stiftung mit Scherpunkt Integration und Bildung. – Quelle: Dr. Dirk Zorn
Doch spätestens seit Mitte Juli 2017 dürfte diese Idee vom Tisch sein. Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung unter dem Titel prognostiziert genau das Gegenteil: Einen Anstieg der Schülerzahlen um 4% (umgerechnet 300.000 Schüler) bis zum Jahr 2025 – rund 1,1 Millionen Schüler mehr, als die Kultusministerkonferenz im Jahr 2013 prognostiziert hat.

Wie alarmierend diese Zahlen wirklich sind, erklärt Dirk Zorn. Der Sozialwissenschaftler hat die Bertelsmann-Studie

Woher kommen die Zahlen und wie sicher sind sie?
Dirk Zorn: Wir rechnen mit den Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Frühjahr 2017. Zusätzlich haben wir die aktuellen Geburtenzahlen des Jahres 2016 der ergänzt, da bislang Wie sich aktuell abzeichnet, könnten die offiziellen Geburtenzahlen für das Jahr 2016
Was sind die Gründe für den überraschenden Zuwachs?
Dirk Zorn: Die Geburtenzahlen in Deutschland steigen zum fünften Mal in Folge. Das hat vor allem mit den Töchtern der Baby-Boom-Generation zu tun, Dazu kommt noch die vergleichsweise hohe positive Wanderungsbilanz. Unter den Zugewanderten sind auch Kinder im schulpflichtigen Alter.
Was bedeutet die Studie für Eltern und Lehrer?
Dirk Zorn: Tatsächlich sind bereits dieses Jahr die – das erste Mal seit der Jahrtausendwende. Eltern erleben also teilweise heute schon, dass Klassen wieder größer werden und Unterricht ausfällt. In Zukunft könnten zehntausende Lehrer und Klassenräume fehlen.

In der Schulpraxis bedeutet das Unterrichtsausfall, Container statt Klassenräume und Ersatzunterricht. Die aktuell steigenden Zahlen haben primär mit der starken Zuwanderung zu tun. In den kommenden Jahren steigen die Schülerzahlen aber vor allem aufgrund der Geburtenzahlen.

Schülerzahlentwicklung

Quelle: Bertelsmann Stiftung

Die Bertelsmann Stiftung appelliert mit ihrer Studie an die Kultusministerkonferenz, ihre Prognosen aus dem Jahr 2013 zu aktualisieren. Denn wirklich verrechnet hat sich niemand. Warum die Kultusministerkonferenz soweit am Ziel vorbei ist, lag an einer Entwicklung gegen den Trend, die niemand hätte vorhersehen können.

Generalsekretär Udo Michallik verteidigte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Das alles sei »nichts Neues« und einzelne Länder hätten längst Maßnahmen eingeleitet. Angesprochen auf mögliche zusätzliche finanzielle Mittel von rund wollte Michallik aber lieber noch einmal

Doch dafür läuft die Zeit davon. Bereits nächstes Jahr kommen die ersten Schüler der geburtenstärkeren Jahrgänge

Das Jahr 2025 klingt weit weg. Doch neue Lehrer müssen auch erst einmal ausgebildet werden. Der ›träge Tanker‹ Schulsystem lässt sich nicht von heute auf morgen einfach umsteuern. Dazu kommt: Aktuell gehen viele Lehrer in Pension oder stehen kurz davor.Dirk Zorn, Bertelsmann Stiftung

Zur »Schülerschwemme« könnte also noch eine »Lehrerdürre« kommen und den Effekt weiter verstärken. Denn das aktuelle Lehrerangebot reicht gerade so aus, den heutigen Status quo zu erhalten. Dass sich zusätzlich mehr Ganztagsschulen wünschen und Willkommensklassen für Geflüchtete ausgebaut werden müssen, ist da Auch nicht der zusätzliche Lehrerbedarf, wenn Bundesländer zum 9-jährigen Abitur (G9) zurückkehren.

Schulen mit Flüchtlingskindern

Anteil an Kindern in NRW, die eine Schule mit Flüchtlingskindern besuchen in Prozent.

Quelle: JAKO-O Bildungsstudie regional

Schulen mit Aktivitäten zur Unterstützung von Flüchtlingskindern

An so vielen Schulen in NRW, an denen auch Flüchtlingskinder unterrichtet werden, gibt es zusätzliche Aktivitäten zur Unterstützung. Angaben in Prozent.

Quelle: JAKO-O Bildungsstudie regional

Diese Lösungen zeigen heute schon, was kurzfristig hilft

Eine Lösung für den Schülerzuwachs liegt auf der Hand: Mehr Lehrer ausbilden und einstellen. Luft nach oben gibt es dabei mehr als genug: So sind aktuell in Mecklenburg-Vorpommern fast die Hälfte der möglichen Doch die Lehrerausbildung in Deutschland braucht 7 Jahre – die von der Bertelsmann-Studie errechneten Veränderungen treffen vorher ein. Was da helfen könnte, sind eine kluge Vorausplanung und kurzfristige Notlösungen. Diese Ansätze könnten Schule machen:

  • Schulbau-Offensiven: Berlin reagiert bereits heute mit einer Bildungsoffensive, vor allem beim Bau neuer Unterrichtsräume – insgesamt 51 67 Dazu wagt der Berliner Senat einen einzigartigen Schritt: Alle angemeldeten Projekte werden nun ohne Streichungen finanziert und können sofort mit der Planung beginnen. Steckbriefe jeder einzelnen Schule sollen Das sorgt schnellstmöglich für eine deutlich bessere Raumsituation, behebt aber noch nicht den Lehrermangel. Doch sind die Gebäude erst da, kommen auch die Lehrer, notfalls aus dem Ausland. Es ist ja nicht so, als wären die Schulen bisher top ausgestattet gewesen. Da herrscht überall – von modernen Unterrichtsmitteln ganz zu schweigen. Hier funktioniert nicht einmal der Drucker.Iris F., Lehrerin an einer Berliner Grundschule
  • Quereinsteiger und Rentner: Wo keine Lehrer vorhanden sind, müssen Quereinsteiger her. Doch wann diese das erste Mal Kinder unterrichten, ist In NRW sind aktuell auch Personen ohne abgeschlossenes Hochschulstudium zugelassen. Ihre Ausbildung dauert insgesamt 24 Monate Das ist attraktiv und wird während der Ausbildung auch gut bezahlt. Doch ein Blick nach Berlin offenbart die Schwierigkeiten: Dort machen Quereinsteiger mittlerweile Doch ihnen – nicht umsonst scheitern 10-15% Quereinsteiger am Beruf. Hier könnte eine andere Maßnahme aus NRW helfen: Das Land wirbt gezielt um Rentner, um diese für einige Jahre Die Idee ist gut: Gerade Pensionäre könnten mit ihrer Erfahrung Quereinsteigern helfen. Ich muss mich täglich um die Quereinsteiger an unserer Schule kümmern. Die sind meist Experten auf ihrem Gebiet, haben aber vom Umgang mit Kindern keine Ahnung. Sie werden ins kalte Wasser geworfen.Paula K., Lehrerin in Berlin
  • Sperr-Maßnahmen: Das Bayerische Kultusministerium kämpft mit harten Bandagen gegen den Lehrermangel und lehnt ab sofort Anträge zum Vorruhestand, Das mag eine sinnvolle Notmaßnahme sein, um überhaupt Unterricht zu gewährleisten, doch nachhaltig ist sie nicht. Denn sie trägt die Krise auf dem Rücken derer aus, die das System noch stabil halten. Ich könnte mir auch vorstellen, einfach nicht mehr als Lehrerin zu arbeiten. Bereits heute gehe ich täglich auf dem Zahnfleisch. Dazu erkranken immer mehr meiner Kollegen an Burnout und fallen für Monate aus.Paula K., Lehrerin in Berlin

Doch nur mit Pensionären, überarbeiteten Lehrern, die auf ihren Vorruhestand verzichten müssen, und einer steigenden lässt sich kein guter Unterricht bestreiten. Darunter droht etwas zu leiden, das sich nur schwer messen lässt: die Unterrichtsqualität.

»Fehlende Schul- oder Berufsausbildungsabschlüsse führen zu schlechten Chancen am Arbeitsmarkt.« – Regierungsbericht »Gut leben in Deutschland«

Um zusätzliche Lehrer kommt niemand herum – genauso wenig wie um höhere Investitionen in die Bildung. Das wissen auch die Bundesländer und schaffen finanzielle Anreize für den Beruf: So erhöhte Berlin etwa Bremerhaven bezahlt seit dem vergangenem Jahr die Fahrtkosten für Bewerbungsgespräche und bis zu – auch diese Maßnahmen könnten bundesweit Schule machen.

»Gleiche Chancen beim Zugang zu Bildung, gut ausgestattete Schulen, moderne Lerninhalte sowie Möglichkeiten, lebenslang zu lernen – das empfanden Bürger als Grundlage für Lebensqualität.« – aus dem Regierungsbericht »Gut leben in Deutschland« – Quelle: Pixabay

Der Anlass ist da: Bauen wir die Bildung nachhaltig um!

Diese Aussichten senden trotz erster Lösungsansätze eine bittere Botschaft an viele Lehrkräfte. Denn auch ohne steigende Schülerzahlen hadern sie mit gestiegenen Zusatzbelastungen des Berufes: Individuelle Förderung, personalisiertes Lernen, Medienerziehung, Inklusion und der Umbau der Schule zur Ganztagsschule fordern Lehrern so einiges ab.

Fast jede Woche wird noch eine Schippe an Anforderungen für uns Lehrer draufgelegt. Da kommt man kaum dazu, Unterricht vorzubereiten oder sich um schwächere Schüler zu kümmern.Melanie K., Physiklehrerin aus NRW

Eine grundlegendere Lösung deutete ausgerechnet Angela Merkel an. bei dem erklärte sie in ihrer Abschlussrede: »Die Bildung muss umgestellt werden.« Warum also die Kanzlerin nicht beim Wort nehmen? Die kommenden Herausforderungen bieten den nötigen Anlass, einige Stolperfallen im Bildungssystem zu beheben, die wir seit Jahren mitschleppen:

  • aufweichen: Dass bis heute Lehramtsausbildungen zwischen Bundesländern teilweise verhindert den Umzug von Lehrern in Gebiete mit hohem Bedarf. Ein echter bundesweiter Arbeitsmarkt für Lehrkräfte existiert nicht – dass nicht verbeamten, verschlimmert die Situation dort. Auch fehlt eine Stellenbörse mit Transparenz darüber, wo Lehrkräfte in welchem Fach gesucht werden. Doch bereits heute kooperieren Bundesländer bei der Lehrersuche: Sachsen wirbt etwa um Lehrkräfte in Bayern – allerdings bisher nur um solche, die in Bayern ausgebildet wurden,
  • Ausbildung vereinfachen: Aktuell müssen Lehrer in der Ausbildung ein vollwertiges Fachstudium absolvieren. Ob dieses Wissen aber für Lehrer bis zur Sekundarstufe I nötig ist, bleibt fraglich – sie sollen schließlich Grundlagen vermitteln. Die zusätzliche Belastung führt zu Abbruchraten von
  • Prüfungstermine ändern: In vielen Bundesländern überschneiden sich die Prüfungstermine im Referendariat mit den Bewerbungsfristen für Schulen. Damit landen Lehrer nach der Ausbildung in einem unnötigen Leerlauf von bis zu einem Jahr. Hier würde eine Ausdehnung der Bewerbungsverfahren auf das ganze Jahr helfen – damit hat etwa Brandenburg bereits gute Erfahrungen gemacht.
  • Bezahlung angleichen: Noch immer gilt: Was für Lehrer am Monatsanfang auf dem Gehaltszettel steht, richtet sich nach der Schulform. Gymnasiallehrer verdienen am meisten, Grundschullehrer am wenigsten. Da ist der Mangel an Bewerbern für die Grundschule in Ländern wie Niedersachsen kein Wunder. Lehrergewerkschaften
  • Umschulungen erleichtern: Aktuell herrscht nicht bei allen Fächerkombinationen Mangel – so sind in NRW Doch sie sind ausgebildete Pädagogen, die an Grundschulen einspringen könnten, um dort den Schülerzuwachs abzufedern.

Diese Herausforderungen für das Bildungssystem könnten bedeuten, dass diese Dinge endlich angegangen werden. Auch Dirk Zorn vom der Bertelsmann Stiftung fordert ein »Neudenken« beim Thema Bildung:

Wir müssen unseren Blick auf diese Herausforderungen erweitern […] Das heißt auch anzufangen, die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems in Angriff zu nehmen.Dirk Zorn, Bertelsmann Stiftung

Der Soziologe regt ein grundsätzliches Nachdenken über das an, was wir als »gutes Schulsystem« ansehen. Hier klaffen Vorstellung und Wirklichkeit auseinander. Ein Lehrer kümmert sich um eine Klasse – dieses Bild ist längst nicht mehr zeitgemäß. Gerade durch Zuwanderung und Inklusion arbeiten Lehrer heute schon mit Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Logopäden und auch Psychologen zusammen.

Hier könnte die Politik investieren und Stellen schaffen, die die Lehrer entlasten. Diese könnten sich dann wieder voll auf das konzentrieren, wofür sie da sind: unterrichten.

Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe »Deine Wahl 2017«. Du willst mehr zum Thema lesen? Klicke hier!

Mit Illustrationen von Janina Kämper für Perspective Daily

von Dirk Walbrühl 
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.
Themen: Bildung   Politik