Der Kampf um die Zukunft hat begonnen. So gewinnen wir ihn
Streiken, kleben, diskutieren. Was bringt das wirklich? Ein Protestforscher bringt Licht ins Dunkel – und erklärt, warum schon eine Umarmung politisch sein kann.
Ob Frauenwahlrecht, Urlaubsanspruch, Mindestlohn oder der Sturz eines autokratischen Regimes: Fast alles, was sich auf der Welt zum Besseren entwickelt hat, passierte nur deshalb, weil irgendwann jemand für oder gegen etwas protestiert hat – und damit andere überzeugte, sich ebenfalls gegen die herrschenden Verhältnisse aufzulehnen.
In jedem Moment können wir damit beginnen, für Veränderung einzutreten. Auch dann, wenn die Lage Zum Beispiel, weil mit Donald Trump ein Mann ins Weiße Haus einzieht, der und Massenabschiebungen plant. Weil auch in Deutschland Klimaschutz und Soziales unter die Räder zu kommen drohen; rechte Rhetorik salonfähig geworden ist.
Es gibt viele Gründe für Protest. Aber wie stellt man es richtig an? Der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq forscht zur »neuen Protestkultur« und analysiert unter anderem, was wir im demokratischen Westen von Protestbewegungen in autoritär geführten Staaten wie Iran oder Sudan lernen können.
Im Interview erklärt er, warum unter bestimmten Bedingungen schon eine Umarmung eine wirksame Protestform sein kann – und was es wirklich bringt, wenn du im Internet mit Fremden diskutierst.
Katharina Wiegmann:
Wann haben Sie zuletzt gegen etwas protestiert?
Tareq Sydiq:
Das war vermutlich bei einer Demo gegen Rechtsextremismus in Berlin. Ich war dort halb beruflich, halb privat.
Wie hat es sich angefühlt?
Tareq Sydiq:
Es war krass, vermutlich sogar der größte Protest, bei dem ich bislang war. Je nach Schätzung haben So eine massive Anzahl von Menschen an einem Ort ist auch ein bisschen überfordernd, aber es war auch sehr interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Leute dort waren.
Die Proteste gegen rechts nachdem über eine geheime Konferenz in Potsdam berichtet wurde. Bei dieser hatten unter anderem Mitglieder der rechtsextremen Identitären Bewegung und AfD-Politiker einen Plan zur Vertreibung von Millionen von Menschen mit Migrationsgeschichte diskutiert.
Bei den anschließenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen schnitt die AfD trotzdem stark ab. Waren die Proteste vergeblich?
Tareq Sydiq:
Ich denke nicht, dass die Demonstrationen zu einer Demobilisierung im AfD-Lager beigetragen haben. Proteste haben eher den Effekt, dass sich unterschiedliche Lager gegenseitig aufschaukeln.
Ich würde trotzdem nicht sagen, dass dieser Protest vergeblich war. Zum einen hat sich verändert, wie über die AfD gesprochen wird: Nun ist eher von Rechtsextremismus als von Rechtspopulismus die Rede. Die Proteste hatten auch einen Mobilisierungseffekt im demokratischen Lager. Das wird zum Beispiel an der Wahlbeteiligung sichtbar, die bei den vergangenen Landtagswahlen Rekordwerte erreicht hat.
Die Schwankungen sind relativ klein, aber wenn eine Partei statt 20% nur 17% der Stimmen erhält, ist das trotzdem ein signifikanter Effekt. Auch wenn die Erwartungshaltung daran, was Protest leisten kann, bei vielen vielleicht eine andere war.
Man sollte also nicht gleich die Hoffnung verlieren, wenn Proteste augenscheinlich erst mal keine Wirkung erzielen?
Tareq Sydiq:
Der langfristige Effekt von Protesten ist oft interessanter. Menschen vernetzen sich bei Protesten. Es entstehen Beziehungen, die sonst nicht entstehen würden. Daraus können politische Bündnisse hervorgehen, die noch Jahre später am Ball bleiben.
Es gibt auch diskursive Effekte, die sich erst mit der Zeit entfalten. Wenn wir die AfD jetzt rechtsextremistisch statt -populistisch nennen, ändert sich nicht unbedingt die Politik. Aber es kann Einfluss darauf haben, wie Debatten geführt werden – und damit indirekt politische Wirkung entfalten.
Im Parlament wurde jetzt ein Ich weiß nicht, ob das möglich gewesen wäre ohne diese Proteste, die signifikanten Teilen etablierter Parteien deutlich gemacht haben: Wir müssen jetzt handeln!
Warum waren die Bauern zuletzt mit ihren Protesten erfolgreicher als die Klimaschutzbewegungen vor ihnen?
Tareq Sydiq:
Fridays for Future hat die öffentliche Stimmung massiv beeinflusst. In den Anfangsjahren der Bewegung gab es eine sehr viel stärkere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Klimaschutz und auch die Grünen hatten 2019 die höchsten Zustimmungswerte. Aber ein bisschen ist es ein Henne-Ei-Problem: Hat Fridays for Future funktioniert, weil sich viele Menschen für den Klimawandel interessiert haben, oder haben sich wegen Fridays for Future viele Menschen für den Klimawandel interessiert? So oder so hatten sie Einfluss auf die Debatte und waren in dieser Hinsicht wirksam. »Medien berichten, wenn Proteste groß, neu oder ungewöhnlich sind«
Die Bauernproteste hatten dagegen einen starken unmittelbaren Effekt, indem sie erreicht haben, dass Subventionskürzungen zu einem guten Teil zurückgenommen wurden. Das lag zum einen daran, dass hier eine Gruppe protestiert hat, die man nicht unbedingt mit Protest assoziiert. Es war also etwas Neues. So etwas stößt medial auf Interesse und entfaltet dann eine ganz andere Dynamik.
Gleichzeitig hatten die Bauern mit der FDP eine Gesprächspartnerin in der Regierung, die sich für ihre Belange stark gemacht hat und auch unter Druck stand, weil ein Teil der Unterstützerbasis dieser Partei innerhalb der Bauernschaft organisiert ist.
»Man unterschätzt, wie sehr es manchmal um die Bewältigung von Trauer geht«
Sie haben die Rolle von Medien angesprochen: Inwieweit entscheidet ihre Berichterstattung über den Erfolg oder Misserfolg von Protestbewegungen? Welche Verantwortung geht damit einher?
Tareq Sydiq:
Ungefilterte Berichterstattung ist nie möglich. Es gibt wahnsinnig viele Proteste, ich muss also auswählen, über welche ich berichte. Die Kriterien dieser Auswahl sind nicht immer transparent, folgen aber einer gewissen Logik. Einmal über den Anspruch, sachlich über ein wichtiges Thema zu informieren, aber auch über eine Marktlogik, denn Medienschaffende müssen ihr Produkt verkaufen.
Ich würde daraus weniger eine Verantwortung für Medien ableiten, sondern das eher als taktische Herausforderung für soziale Bewegungen sehen: Mein Protest muss wahrgenommen werden. Wenn er im ländlichen Raum stattfindet, wenn es keine Presseerklärung, keine Öffentlichkeitsarbeit gibt, wird eher nicht darüber berichtet. Medien berichten, wenn Proteste groß, neu oder ungewöhnlich sind. Danach kann ich meinen Protest ausrichten und das zu meinem Vorteil nutzen.
Was bringt es, wenn Menschen in Deutschland gegen etwas protestieren, das in anderen Ländern geschieht – beispielsweise gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine oder für ein Ende der israelischen Bombardements in Gaza?
Tareq Sydiq:
Für die Situation im Ausland bringt es erst mal nicht so viel, da sind die Proteste, die vor Ort stattfinden, entscheidend. Oft richtet sich der Protest ja gegen lokale Institutionen und Machthaber.
Ich kann aber natürlich Druck auf meine eigene Regierung im Umgang mit einer Regierung im Ausland ausüben. Und ich kann Dingen Ausdruck verleihen, die vor Ort wegen politischer Repressionen vielleicht nicht möglich sind. Wenn ich solche im Ausland verbotenen Inhalte auf meiner Demonstration hier verbreite, berichten teilweise Auslandsmedien darüber, und so findet das Ganze rückgekoppelt Eingang in die lokale Berichterstattung.
Und: Wo ein Krieg stattfindet, gibt es massive Gewalt. Man unterschätzt oft, wie sehr es bei Protesten innerhalb der Diaspora um die Bewältigung von Empörung und Trauer geht. Menschen brauchen einen Raum für diese Gefühle und den kann auch Protest liefern, das kann man immer mal wieder beobachten – zum Beispiel im Fall Iran.
In Ihrem Buch stehen mit Iran und Sudan 2 Protestbewegungen im Mittelpunkt, die gescheitert sind, zumindest auf den ersten Blick. Was können wir trotzdem von ihnen lernen?
Tareq Sydiq:
Bei den ist sehr interessant, wie viel die Protestierenden selbst von vorherigen Bewegungen gelernt haben, zum Beispiel vom Arabischen Frühling. Nicht frühzeitig abzubrechen und zu sagen, wir haben doch jetzt den Rücktritt erwirkt, sondern nachhaltig Druck aufrechterhalten, vorausahnend, dass eine Revolution über einen längeren Zeitraum erfolgt.
Dann die Netzwerkarbeit im Vorfeld, aber auch während der Proteste. Teilweise waren das noch Gemeinschaften aus Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre, die im Moment der Krise zusammengekommen sind und trotz aller politischen Differenzen gemeinsam an einem Ziel, nämlich dem Untergang der Autokratie gearbeitet haben. Diese Graswurzelarbeit kann man sich abschauen.
Es gibt ein ganzes Repertoire an Protestformen, von dem man sich inspirieren lassen kann.
Bitte nennen Sie einige Beispiele!
Tareq Sydiq:
Als im Sudan Zeitungen zensiert werden sollten, hat man sich sehr schnell mit internationalen Journalisten koordiniert, damit die Inhalte dann eben nicht über die lokale Presse, sondern über internationale Medien gestreut werden konnten, weil dieser Kommunikationsweg erfolgversprechender war.
Im Iran waren Umarmungen eine Protestform: »Eine Umarmung für eine gemarterte Seele«, war, so meine ich, die Formulierung. Dahinter steckte der Gedanke: Die Volksseele ist verletzt und wir heilen das jetzt, indem wir den Schmerz sichtbar machen. Das hätte in Deutschland nicht denselben Effekt, weil die Trauer nicht dieselbe ist. Aber die Art, darüber nachzudenken – wie kann man einem Empfinden, einem Gefühl, das hierzulande viele bewegt, Ausdruck verleihen –, auch davon kann man sich etwas abschauen.
In Ihrem Buch über neue Protestbewegungen begegnen uns mit K-Pop-Fans und Taylor Swift einige unerwartete Akteure.
Tareq Sydiq:
K-Pop-Fans haben sich 2020 im Kontext der Black-Lives-Matter-Proteste politisiert. Sie haben rassistische Hashtags gekapert und People of Color unterstützt; zum Beispiel auch, indem sie polizeiliche Meldesysteme überlastet haben, die dann nicht mehr funktionierten.
Der Rückgriff auf Popkultur schafft außerdem eine Anschlussfähigkeit in die Breite. In Hongkong gab es unter Demonstrierenden den Slogan »Seid Wasser!«, der aus Martial-Arts-Filmen bekannt war. Man hat ein intuitives Verständnis davon, worum es geht.
Und noch ein Beispiel: Im arabischen Raum ist der Dabke als Tanz sehr verbreitet. Wenn ich einen regimekritischen Slogan auf eine Dabke-Melodie lege, ist es sehr einfach für die Menschen, das nachzusingen, weil sie den Rhythmus schon kennen.
Was es wirklich bringt, wenn du in sozialen Medien mit Fremden diskutierst – oder ein Gemälde mit Suppe bewirfst
Ich habe eine kleine Liste von unterschiedlichen Protestformen vorbereitet, die ich gern mit Ihnen auf die jeweilige Wirksamkeit abklopfen würde …
Tareq Sydiq:
Ok!
In den sozialen Medien auf einen rassistischen Kommentar antworten.
Tareq Sydiq:
Wirksamkeit: 10/10, jedenfalls dann, wenn der Kommentar nicht von einem Bot oder einer Aktionsgruppe kommt. Falls es sich um eine echte Person handelt, hat eine Antwort einen Effekt, weil sie herausfordert und Grenzen setzt, die reflektiert werden können. Sie hat außerdem Signalwirkung, denn wenn rassistische Kommentare widerspruchsfrei stehen bleiben, denken andere: Aha, das ist die dominante Position. Durch die Gegenrede wird sichtbar, dass es Menschen gibt, die eine andere Position vertreten.
Ein Gemälde mit Suppe bewerfen.
Tareq Sydiq:
Wirkt über den Skandal, war zumindest zeitweise medial sehr neu, heute schafft man es damit aber vermutlich nicht mehr zur Primetime in die Berichterstattung. Der Nachteil ist, dass ich nicht beeinflussen kann, wie über das Thema gesprochen wird. Wird meine Protestform negativ
dann wird auch mein Anliegen potenziell negativ besprochen, das haben wir bei der Letzten Generation gesehen.
Beim Weihnachtsessen mit der Familie einen sexistischen Kommentar kontern.
Tareq Sydiq:
Das ist ähnlich wie mit dem Kommentar in den sozialen Medien, nur dass die Sichtbarkeit geringer ist. Dafür ist der Effekt auf mein Gegenüber potenziell größer. Vielleicht kann ich die Person von Angesicht zu Angesicht überzeugen oder ihr klarmachen: Mit so einem Verhalten eckst du an, du solltest ein bisschen darüber nachdenken, bevor du einen solchen Kommentar reißt.
An einem Streik teilnehmen.
Tareq Sydiq:
Hat einen ganz direkten Effekt, wenn der Streik Erfolg haben sollte. Aber selbst, wenn nicht, ist es ein Signal an die Arbeitgeber, die einkalkulieren müssen, dass die Belegschaft bereit ist, für ihre Belange einzustehen, und sie sich nicht einfach alles erlauben können. Und es gibt eine direkte Verhandlungsmasse, weil meine Arbeitskraft während eines Streiks eben nicht zur Verfügung steht. Das hat finanzielle Konsequenzen für das Unternehmen, damit muss es sich auseinandersetzen.
Indirekt hat ein Streik auch das Potenzial, für bessere Bedingungen in der jeweiligen Branche zu sorgen. Eine Arbeitsniederlegung in einem Unternehmen kann Arbeitnehmende in anderen Betrieben inspirieren.
Eine Petition unterschreiben.
Tareq Sydiq:
Wirkt vor allem, wenn es genug Leute machen, oder wenn das Thema zieht. Oder wenn die Leute, die eine Petition unterzeichnen, eine klar umfasste Gruppe sind, die öffentlichkeitswirksam intervenieren kann. Wenn alle Außenminister der vergangenen Jahre eine Petition zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland unterschreiben, hat das einen anderen Effekt als eine Petition mit 200 unbekannten Namen.
Wenn eine Petition extrem groß wird, kann das dazu führen, dass sich Politiker:innen damit befassen. Aber in der Regel geht es bei Petitionen um den Einfluss auf Berichterstattung und Debatten.
Auf eine Demo gehen.
Tareq Sydiq:
Das hat einen Effekt auf mich selber! Ich kann einer Sache Ausdruck verleihen, die mich bewegt. Ich kann meine Meinung kundtun und gleichgesinnte Menschen treffen, mit ihnen ins Gespräch kommen. Und ja, wenn die Demo groß genug ist, kann auch sie einen diskursiven Effekt entfalten. Aber selbst, wenn sie das nicht tut, kann sie sozial und psychologisch wirksam sein.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.