Der Psychologe Lukas Klaschinski erklärt, warum wir so schlecht mit unbequemen Gefühlen umgehen können. Seine Tipps zeigen, wie es besser geht.
5. Dezember 2024
– 9 Minuten
Katharina Pasemann
Alles gut? Es ist eine Frage (oder Antwort), die wir alle fast jeden Tag hören.
Na, wie geht es dir? – Alles gut.
Oh, Entschuldigung! – Alles gut.
Hast du dir weh getan? – Alles gut.
Alles gut? – Alles gut!
Egal, ob als Antwort oder als Nachfrage: Die 2 Worte lassen sich in jeder Intonation finden, um etwa bestärkend, beschwichtigend, höflich oder interessiert zu wirken. Vielleicht gehören sie bei dir selbst ja auch zum sprachlichen Standardrepertoire. Ich selbst nutze sie – leider – viel zu oft.
Doch ist in den entsprechenden Situationen wirklich immer alles gut? Wohl kaum.
Wir verwenden die Wortkombination meist unbedacht als Begrüßungsfloskel oder kurze Rückmeldung, wenn wir ein Thema meiden wollen. Als Nachfrage erwartet »Alles gut?« keine ehrliche oder detailreiche Antwort und schon gar keine negative, da sie gewissermaßen unterstellt und erwartet, dass zumindest »alles okay« ist. Ähnlich ist es auch bei der altbekannten Nachfrage »Wie geht es dir/Ihnen?«.
Da frage ich mich: Warum tun wir lieber so, als sei alles gut, statt unsere echten Gefühle preiszugeben? Haben wir verlernt, mit unbequemen Emotionen umzugehen? Und können wir das ändern?
Antworten gibt Lukas Klaschinksi. Der Psychologe beschäftigt sich in seinen mit der Frage, warum Menschen so fühlen, denken und handeln, wie sie es tun. Im Interview erklärt er, wie das Vermeiden von unangenehmen Gefühlen dem Menschen einst das Überleben gesichert hat und warum es in unserer Überflussgesellschaft heute fehl am Platz ist. Außerdem gibt er Tipps, wie wir lernen können, unsere Trauer, Wut, Angst oder Scham zu fühlen – auch wenn es unangenehm ist.
Désiree Schneider:
Hallo Lukas, alles gut bei dir?
Lukas Klaschinski:
Im Moment habe ich gemischte Gefühle. Einerseits bin ich entspannt, andererseits leicht aufgeregt. Ich komme gerade aus dem Urlaub zurück und muss noch meinen Weg in den Arbeitsmodus finden.
Antwortest du immer so reflektiert auf die Frage?
Lukas Klaschinski:
Nicht unbedingt. Hättest du mich vor ein einigen Jahren gefragt, hätte ich wahrscheinlich einfach »Ja, läuft« geantwortet. Denn letztlich ist die Frage schon sehr intim, wenn man sie ehrlich beantwortet. Um das zu können, muss ich jedoch kurz innehalten und in mich reinfühlen. Das geht nicht immer.
Daher mache ich es vom Kontext abhängig, wie ich antworte. Wenn ich das Gefühl habe, es passt zeitlich und auch mit dem Menschen, mit dem ich in Kontakt bin, antworte ich ehrlich mit einigen Sätzen. Habe ich das Gefühl, die Frage wird als Begrüßungsfloskel gestellt – wie das amerikanische »What’s up?« –, antworte ich meistens nur mit »Läuft alles«. Das ist eher eine Form des Hallo-Sagens und auch völlig in Ordnung. Aber eigentlich mag ich die Frage gar nicht.
Warum nicht?
Lukas Klaschinski:
Weil es eine geschlossene Frage ist, auf die man mit »Ja« oder »Nein« antworten muss. Ich höre sie sehr häufig. Außerdem impliziert »Alles gut«, dass wir erwarten, dass alles gut ist. Es ist viel leichter, mit »Ja« zu antworten, als sich verletzlich zu zeigen.
Also kann uns die Frage dazu verleiten, unehrlich zu sein?
Lukas Klaschinski:
Nicht in allen Fällen, aber grundsätzlich ja. Wir haben in unserer Gesellschaft eine Erwartungshaltung, dass du glücklich und zufrieden sein musst, sonst ist etwas falsch mit dir.
In deinem Buch stellst du diese Erwartungshaltung infrage. Warum?
Lukas Klaschinski:
Wir können nicht pausenlos glücklich und zufrieden sein. Es ist völlig normal, dass wir eine große Gefühlspalette erleben – von Traurigkeit, Wut, Scham und Angst bis hin zu Freude, Vorfreude, Glück und Liebe. Doch wenn die Gesellschaft erwartet, dass es uns immer gut geht, passen wir uns an. Um dazuzugehören, sagen wir schnell »Ja, alles gut«, auch wenn es nicht stimmt.
Woher stammt die Erwartungshaltung, immer glücklich sein zu müssen?
Lukas Klaschinski:
Es liegt in unserer menschlichen Natur, nach angenehmen Gefühlen zu streben, Gefühle haben einen evolutionären Ursprung. Ein unbequemes Gefühl wie Scham signalisierte vor langer Zeit zum Beispiel, dass wir uns gerade außerhalb der Gruppennorm bewegen. Sie sagt: Pass dich an, sonst wirst du ausgestoßen. Allein verhungerst, verdurstet oder erfrierst du. Die Scham hat etwas sehr Existenzielles.
Heute jedoch fühlen wir schon wenn wir einen Vortrag halten wollen, obwohl wir dabei nicht mit dem Tod rechnen müssen. Das liegt daran, dass unsere kulturelle Entwicklung viel schneller vorangeschritten ist als die evolutionäre. darum passen manche Gefühle nicht mehr in aktuelle gesellschaftliche Situationen.
So ist es auch mit unserem intrinsischen Streben nach Glück …
Lukas Klaschinski:
Ja, wir leben in einer Überflussgesellschaft und unser Gehirn kommt damit nicht klar. Doch niemand kann pausenlos glücklich sein. Es gibt Dinge, die alle Menschen einmal erleben und die uns verbinden: Wir alle verlieren geliebte Menschen, werden einmal krank, verlieren einen Job, werden zurückgewiesen oder erleben Schicksalsschläge.
Was macht es mit uns, wenn wir unangenehme Gefühle verdrängen?
Lukas Klaschinski: – bis ich emotional taub werde. Das kann man sich wie ein Mischpult vorstellen: Indem Menschen versuchen, bestimmte Gefühle runterzupegeln, wird über die Lebenszeit ein Masterregler runtergedreht, der alle Gefühle dumpfer werden lässt. Wir verlieren den Kontakt zu unseren Gefühlen und leben im Autopilot-Modus. Männer verstummen tendenziell viel häufiger als Frauen. Das hat auch mit der Sozialisierung zu tun. Wozu das führen kann, sehen wir:
Autopilot-Modus, was meinst du damit?
Das bedeutet, dass wir unsere Anbindung zum Leben verlieren und ganz wichtige Informationen nicht wahrnehmen. Wenn ich zum Beispiel keinen Zugang zu meiner eigenen Traurigkeit habe, merke ich es vielleicht nicht, wenn mein Partner traurig von der Arbeit kommt und Trost braucht. Oder wenn ich Traurigkeit nicht ertragen kann, will ich ihm gleich einen Ratschlag geben, Dadurch können sich Menschen auseinanderleben, weil die andere Person sich nicht gesehen fühlt.
Ich denke, die meisten sind sich nicht einmal bewusst, dass sie unangenehme Gefühle verdrängen. Wie kommen Menschen an den Punkt, das zu erkennen?
Lukas Klaschinski:
Oft folgt die Einsicht erst nach einem gewissen Leidensdruck. Dieser kann zum Beispiel durch schwere Schicksalsschläge ausgelöst werden. Ich hatte einen Unfall beim Kitesurfen, bei dem ich hätte sterben können. Damals habe ich auf Abstand zu meinen Gefühlen gelebt, um nicht verletzt zu werden und mich nicht verletzlich zu zeigen. Nach dem Unfall fragte ich mich: Hätte ich etwas in meinem Leben bereut? Die Antwort war: Ja, dass ich das Leben nie in all seinen Höhen und Tiefen fühlen konnte. Deswegen habe ich das geändert.
Wie können sich Menschen, deren Leidensdruck sehr stark ist – die etwa krank sind oder einen Schicksalsschlag erlebt haben –, Raum für ihre unbequemen Gefühle schaffen, ohne von ihnen überrollt zu werden?
Lukas Klaschinski:
Auch dieses Gefühl, von all den belastenden Dingen überflutet zu werden, sobald ich die Pforten öffne, ist letztlich nur ein Gefühl, das mir einen Hinweis gibt. Denn: Gefühle sind immer da, ob ich sie hinter einer Schranke halte oder durchfließen lasse. Wenn ich Gefühle abblocke, werden sie so lange hinter der Tür warten, bis sie reingelassen werden. Das kann auch zu führen.
Es hilft, sich Orte zu suchen, an denen man sich emotional sicher fühlt oder Unterstützung erfährt. Für manche Menschen ist das der Wald, für andere ist es ein Treffen mit einer nahestehenden Person. Natürlich können auch professionelle Psychologinnen und Psychologen dabei unterstützen. Denn im Grunde ist die Psychotherapie eine Betreuung beim eigenen Fühlen.
In deinem Buch bezeichnest du den kompletten Prozess, Gefühle bewusst wahrzunehmen und konstruktiv mit ihnen umzugehen, als »gefühlsbereit werden«. Wie merke ich, wann ich gefühlsbereit bin?
Lukas Klaschinski:
Das darfst du dir nicht als Klick-Moment vorstellen. Es ist ein Prozess, wie das Sprachenlernen. Ich habe dabei vor allem Ansätze der Akzeptanz-und-Commitment-Therapie, kurz ACT, verwendet.
Was ist die ACT?
Lukas Klaschinski:
Es ist eine Therapieform, auf die ich bei meiner Suche nach dem Umgang mit meinen Gefühlen gestoßen bin. Sie wird häufig bei Leistungssportlern, Feuerwehrleuten, Angstpatienten und Depressionspatienten angewendet und vereint das Beste aus allen Welten: jahrhundertealte Achtsamkeitspraktiken, erprobte verhaltenstherapeutische Werkzeuge und aktuelle neuropsychologische Erkenntnisse. Anstatt Gefühle zu meiden, lernen Menschen, sie zu akzeptieren und einen eigenen Umgang mit ihnen zu finden. Mir haben vor allem 2 Komponenten aus der ACT geholfen, aus denen ich meinen Weg zur Gefühlbereitschaft kreiert habe: Achtsamkeit und Akzeptanz.
Inwiefern haben Achtsamkeit und Akzeptanz dir dabei geholfen?
Lukas Klaschinski:
Mit Achtsamkeit meine ich das bewusste Innehalten im Moment. Wir leben gedanklich oft in der Vergangenheit oder in der Zukunft, denken darüber nach, was war und was kommt. Doch ich glaube, wir müssen erkennen, was jetzt gerade in diesem Moment passiert, um uns besser zu verstehen und unsere Gefühle wahrzunehmen: Bin ich gerade traurig? Kommt da eine Angst auf? Oder ist es Scham? Und warum fühle ich mich so? Das muss und kann man nicht in jeder Situation hinterfragen, doch wer es hin und wieder tut, trainiert die eigene Gefühlsbereitschaft.
Und was ist mit der Akzeptanz?
Lukas Klaschinski: Letzteres geht sehr schnell, indem wir etwa kurz aufs Handy schauen und Instagram öffnen, aufspringen und eine Einkaufsliste schreiben oder auch indem wir anfangen, Handlungen zu stark zu analysieren. Wenn ich Gefühle aber gleich wegdrücke, bin ich in der ewigen Fernsteuerung. Stattdessen sollten wir versuchen, die Gefühle zu akzeptieren und ihre Beschaffenheit wahrzunehmen: Ah, da ist die Angst. Was macht sie mit mir? Sie verengt mir die Brust, kreiert einen Kloß im Hals, ich fange an, zu schwitzen, vielleicht auch zu zittern. Ich mache eine Bestandsaufnahme, lasse meine Gefühle ihre Botschaft überbringen, ohne sie zu bewerten.
Mit dem Handy lenke ich mich auch gerne ab. Haben Menschen denn verlernt, mit unbequemen Gefühlen umzugehen, oder war es schon immer so?
Lukas Klaschinski:
Wir verlernen den Umgang mit unseren Gefühlen, wenn wir erwachsen werden. Als Kinder sind wir emotional sehr offen und durchleben alle Gefühle, meistens in dem Moment, in dem wir sie verspüren. Kinder weinen etwa sofort, wollen kuscheln oder freuen sich ausgelassen. Im Kleinkindalter entwickelt sich dann die Fähigkeit, Scham zu empfinden, und die Vernunft kommt ins Spiel. In dem Alter sind wir den Einflüssen der Sozialisierung stark ausgesetzt. Wir alle wollen geliebt und angenommen werden – dementsprechend passen wir uns dem an, was uns vorgelebt wird.
Mädchen erfahren häufiger, dass ihre Wut nicht akzeptiert wird und sie lieb, nett und artig zu sein haben, um in den Arm genommen zu werden. Bei Jungs sind es eher die leiseren Klaviaturtöne von Gefühlen, die in der Gesellschaft nicht so gut ankommen, wie Traurigkeit, Scham und Angst. Sie hören Sprüche wie »Ein Ritter kennt keinen Schmerz« und lernen, diese Gefühle auszusperren.
Klaschinski sagt dazu: »In beiden Büchern beschäftigen sich die Therapeutinnen mit dem Thema Trauma. Ich glaube, dass viel mehr Menschen in unserer Gesellschaft traumatisiert sind, als sie das für sich selbst sagen würden.«Klaschinski sagt dazu: »Für mich funktioniert Gesundheit nach einem holistischen Prinzip. Wir Psychologen schauen uns zu häufig nur die Gedanken an und vielleicht das emotionale Erleben. Viel zu selten schauen wir auch auf Lebensumstände (Welche Beziehungen führe ich?) oder auf die körperliche Gesundheit (Bewege ich mich genug? Verbringe ich Zeit in der Natur und in Gemeinschaft? Oder: Ernähre ich mich ausgewogen?). Tolle und Kast helfen, diese Lücke zu schließen.«
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Was rätst du Menschen, die lernen möchten, ihre Gefühle nicht länger auszusperren?
Lukas Klaschinski:
Mein erster Rat ist, sich darüber bewusst zu werden, wofür Gefühle überhaupt gut sind. Denn Gefühle haben einen Nutzen: Sie zeigen an, welches Bedürfnis ich gerade habe. Wenn ich Angst empfinde, warnt mich das Gefühl vor möglicher Gefahr oder drückt das Bedürfnis nach mehr Schutz aus. Verspüre ich Freude, passiert gerade etwas, das ich als angenehm empfinde und gerne wiederholen würde. Wer den Sinn von Gefühlen versteht, kann lernen, mit ihnen umzugehen – und zwar indem wir sie zulassen.
Und wie kann ich lernen meine Gefühle zuzulassen, auf sie zu hören?
Lukas Klaschinski:
Es gibt Dinge, die fast jeden Menschen berühren – ein bestimmtes Lied, eine Filmszene, ein Brief oder Worte, die direkt ins Herz treffen. Wenn in solchen Momenten Gefühle aufkommen, halte kurz inne und frage dich: Was löst das in mir aus? Und warum berührt es mich so? Dieser kurze aufmerksame Moment bringt dich deinen eigenen Gefühlen schon viel näher.
Ein anderer Tipp ist: Schaffe dir bewusst Räume, in denen du dein Leben entschleunigen kannst. Wir lenken uns oft ab – mit Shopping, Sex, Konsum, Alkohol, exzessivem Sport oder mit unserer Arbeit, die in unserer Gesellschaft ja sehr belohnt wird. Deshalb haben viele von uns verlernt, sich Ruhepausen zu verschaffen, in denen wir ein Gehör für die Töne entwickeln können, die in uns klingen. Damit wir diese hören, muss es tatsächlich still im Außen sein. Aus diesem Grund kommen uns die besten Ideen unter der Dusche oder auf dem Fahrrad, weil wir dabei nicht abgelenkt sind, sondern im Moment leben.
Der Klimawandel hat bereits viele Kipppunkte erreicht. Die gute und die schlechte Nachricht zugleich: Er ist menschengemacht. Wir können also etwas dagegen tun. Als Umweltjournalistin geht Désiree folgenden Fragen nach: Wie können wir unseren Konsum nachhaltiger gestalten? Was müssen Firmen tun? Und wo muss sich das System ändern? Denn jeder Mensch und jedes Unternehmen kann Teil des Problems sein – oder der Lösung.