Diese unterschätzte Fähigkeit macht dich erfolgreicher und kreativer
Erfolgreich durch Nichtstun? Klingt verrückt, ist aber wahr: Untätigkeit tut gut – und das nicht nur im Büro. Warum sie Wunder wirkt und wie du sie sinnvoll nutzen kannst, erfährst du hier.
Jeden Morgen um 4:45 Uhr ließ sich Immanuel Kant mit den gleichen Worten wecken: »Es ist Zeit!« Sein Diener stellte dem berühmten Philosophen eine Kanne Tee bereit und spitzte dessen Federkiele. Kant trank 2 Tassen, rauchte eine Pfeife und begann anschließend, seine Vorlesungen vorzubereiten.
Nach Vorlesungen, Tischgesellschaft und der Arbeit an Büchern folgte um 19 Uhr sein berühmter Spaziergang durch Königsberg. Er fand so zuverlässig zur immer gleichen Zeit auf demselben Weg statt, dass die Königsberger:innen ihre Uhren danach stellen konnten.
Immanuel Kant ist ein besonders berühmtes und extremes Beispiel für die Macht der Gewohnheit. Der Philosoph duldete keine Abweichungen. Doch es gibt unzählige weitere Beispiele für Routinen berühmter Persönlichkeiten, die alles andere als Banalitäten sind. Bei Charles Darwin etwa ist der Rundweg, den er täglich lief, um seine Gedanken zu ordnen, heute als »Denkpfad« bekannt. Langsam und schrittweise, wie bei der Evolution, entwickelte der Naturforscher hier viele Aspekte seiner Theorie.
Thomas Mann arbeitete vormittags an seinen Romanen – mit der strikten Anweisung, ihn nicht in seinem Arbeitszimmer zu stören. Nach dem Mittagessen gehörte der Nachmittag dem Lesen, ausgedehnten Spaziergängen und seiner Korrespondenz.
Virginia Woolf machte den damals für Frauen nicht selbstverständlichen Luxus eines eigenen Zimmers zum Thema eines ganzen Buchs. »Ein eigenes Zimmer« war für die Schriftstellerin ein Ort des Rückzugs und der Selbstbestimmung, an den sie sich täglich zurückzog, um ungestört nachdenken und schreiben zu können.
Die Beispiele zeigen: Kluge und erfolgreiche Menschen entscheiden sich auffallend häufig für die Einhaltung fester Routinen. »Viele Gewohnheiten, weniger Freiheit«, bemerkte Kant zwar. Doch vielleicht ist die eigene Einschränkung auch eine Wahl. Es fällt jedenfalls auf, dass der Tagesablauf genannter Personen bewusst unflexibel gehalten ist.
Und noch etwas fällt auf – eine Gewohnheit, die von allen Personen konsequent gepflegt wurde: der ständige Wechsel zwischen intensiven Phasen fokussierter Arbeit und ungebundenen Zeiten des Nichtstuns. Spazierengehen, Tee trinken, ausruhen, nachdenken – all das sind Tätigkeiten, die auf den ersten Blick nach Untätigkeit aussehen. Zeiten, die keinem bestimmten Zweck dienen, aber offenbar einen unschätzbaren Wert haben.
Solche Gewohnheiten versteht unsere heutige Gesellschaft in der Regel als unproduktiv – und daher als verzichtbar. Ein Arbeitstag wird nicht gemessen an getrunkenen Teetassen oder Schritten auf Denkpfaden, sondern an der Zahl geleisteter Arbeitsstunden und den sichtbaren Ergebnissen, die in dieser Zeit erzielt wurden.
Untätigkeit produziert auf den ersten Blick keine Ergebnisse – doch es lohnt ein zweiter Blick. Welchen Wert hat das Nichtstun? Ist Untätigkeit eine Fähigkeit, die sich erlernen lässt? Wie können wir unseren Arbeitsalltag gestalten, damit wir von der Kraft des Nichtstuns profitieren?
Von nichts kommt nichts? Doch, eine ganze Menge sogar
Man muss sich nicht in die Reihe der genannten Persönlichkeiten einordnen, um zu erfahren, wie angenehm kleine Ruheinseln im durchgetakteten Alltag sein können. Nichtstun ist etwas Herrliches, vielleicht der größte Luxus, oder sogar eine bewusste Widerstandshandlung in unserer rasenden Welt – gegen die allgegenwärtige Erwartung, ständig etwas leisten zu müssen. Was es eigentlich zu leisten gilt, wird da fast schon zweitrangig. Hauptsache, man tut etwas. Denn von nichts kommt nichts.
Oder?
Alex Soojung-Kim Pang sieht das anders. Pang ist Buchautor, Managementberater und Forschungsdirektor der Organisation 4 Day Week Global, die weltweit Pilotprojekte zur 4-Tage-Woche initiiert,
Offensichtlich benötigen Menschen in ihrem Arbeitsalltag Phasen, in denen sie einfach mal in Ruhe gelassen werden und nicht dabei kontrolliert werden, was sie gerade tun. Mitunter verschwimmen dabei Tätigkeit und Untätigkeit. Oder was als Nichtstun beginnt, entwickelt sich zu einem überraschend sinnvollen Tun.
»Solange wir Ruhezeiten als das Gegenteil von Arbeit begreifen, nehmen wir sie nicht ernst«, schreibt Pang in seinem Buch »Pause«. Er halte das hohe Ansehen, das Überlastung durch Arbeit genieße, für intellektuelle Faulheit.
Zeitaufwand ist nur das simpelste Maß für Einsatzbereitschaft und Produktivität, sagt aber nicht unbedingt viel aus.
Pang sieht in Pausen und Untätigkeit einen natürlichen Bestandteil von Arbeit. Er meint damit nicht nur »äußere« Zeiten wie Wochenenden und Urlaub, sondern eine im Alltag verankerte »Haltung der Nicht-Aktivität, der inneren Ungeschäftigkeit, der Ruhe, des Geschehenlassens«, wie es der Philosoph Josef Pieper formulierte, den Pang zitiert.
Er kritisiert, dass wir Arbeit und Pausen meist getrennt voneinander betrachten. Pausen würden lediglich als Abwesenheit von Arbeit gesehen. Das lässt sich beispielsweise auch am deutschen Arbeitszeitgesetz ablesen: »Arbeitszeit im Sinne dieses Gesetzes ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen«, heißt es darin. Nach diesem klassischen Arbeitsverständnis gibt es keine Untätigkeit während der Arbeit – und keine Produktivität während einer Pause.
Für die Beschäftigten hat dieses Verständnis reale Folgen: Von ihnen wird erwartet, während der Arbeitszeit dauerhaft tätig und produktiv zu sein. Und das in einem Tempo, das dem eigenen Rhythmus vieler Menschen widerspricht, wie ein Blick in die 2023 erschienene Studie »Gute Arbeit« des Deutschen Gewerkschaftsbunds zeigt, einer
Ungebundene Zeiten, die mit Nachdenken, Beobachten, Experimentieren, Gesprächen mit Kolleg:innen, Kund:innen oder Patient:innen verbracht werden, sind in vielen Berufen nicht vorgesehen, oder werden bewusst gestrichen. Ihr Wert und ihre Potenziale gehen dadurch verloren. »Arbeit und Pausen ergänzen und vervollständigen sich«, schreibt Pang. Sie sind kein Gegensatz. Wir sollten daher nicht nur darüber nachdenken, wie wir besser arbeiteten, sondern auch, wie wir besser pausierten, findet er.
Nicht Pausen sind Zeitfresser, sondern ineffizientes Arbeiten
Dieser Ansicht ist auch Anna Rosa Ott, Arbeitspsychologin, Expertin für betriebliches Gesundheitsmanagement und Autorin des gerade erschienenen Buchs
Sie plädiert deshalb dafür, Pausen fest in den Tagesablauf zu integrieren. Und das gilt nicht nur für Menschen, die an ihrem nächsten Roman oder einer neuen Theorie arbeiten. Jede Tätigkeit erfordert Konzentration, körperlichen Einsatz, ein gewisses Maß an Kreativität und die Fähigkeit, angemessen auf Probleme zu reagieren. Stress entsteht bei jeder Arbeit, immer wieder. Doch so selbstverständlich es ist, dass Stress zum Alltag gehört, so wenig selbstverständlich ist es, auf diesen Stress zu reagieren – mit dem Gegenmittel. »Erholung ist der positive Widersacher von Stress«, sagt Anna Rosa Ott.
Wo Stress entsteht, ist also auch eine Form von Erholung notwendig, und zwar gezielt, je nachdem, welche Tätigkeit oder Untätigkeit Menschen selbst als erholsam empfinden – und vor allem regelmäßig. »Das ist nichts, was man auf den nächsten Urlaub schieben kann. Erholung lässt sich nur schwer speichern«, sagt Ott.
Die Gesundheitsexpertin rät dazu, Ruhephasen fest einzuplanen und entsprechende Zeiten zu blocken – und sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass man dadurch Zeit verliert: »Pausen sind Kraftspender und keine Zeitfresser.« Wer auf solche Phasen verzichte, ermüde schneller, mache mehr Fehler, sei weniger leistungsfähig und habe höhere Gesundheitsrisiken, etwa für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erklärt sie.
Die wahren Zeitfresser sind also ineffizientes Arbeiten und dadurch entstehende Fehler und Erkrankungen. Die
Dennoch wird Müßiggang noch immer mit Bequemlichkeit und Faulheit verwechselt. Untätig zu sein, gilt weniger als Voraussetzung für gute Arbeit, sondern als unnütze Zeitverschwendung, die es zu minimieren gilt. Zu dieser Bewertung kommen nicht nur Arbeitgeber:innen und Führungskräfte, die ihre Angestellten zu »mehr Leistung« antreiben, sondern häufig auch die Beschäftigten selbst, weil Nichtstun in unserer Kultur traditionell eher negativ konnotiert ist.
Dass selbst Beschäftigte, die sich gestresst fühlen, Leerlauf oft am liebsten ausmerzen würden, hat negative Folgen für den gesamten Arbeitsprozess – auch das zeigt die Forschung. Und sie zeigt auch, wie sich das ändern ließe.
Was die Forschung über gutes und schlechtes Nichtstun weiß
Wie gesagt, Menschen schätzen Routinen. Sie geben uns das Gefühl von Kontrolle, bieten Halt und entlasten uns von der Aufgabe, ständig darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren könnte. Nur wenn unsere Umwelt berechenbar ist, können wir mit ihr in Austausch treten und rationale Entscheidungen treffen.
Wenn Menschen in ihren Gewohnheiten gestört werden, reagieren sie entsprechend negativ. Das gilt auch für Arbeits- und Pausenzeiten. Entscheidend für die Wirksamkeit von Pausen sei, dass Menschen selbst bestimmen können, wann sie vom Modus der Konzentration und Anspannung in einen Zustand von Ruhe und Zerstreuung wechseln, erklärt Anna Rosa Ott. »Wir erleben weniger Stress und fühlen uns besser, wenn wir das Gefühl haben, die Situation selbst kontrollieren zu können.« Kontrolle sei ein wichtiges Erholungserlebnis und ermögliche uns den Umgang mit Stressoren. »Wir können wichtige Ressourcen stärken: unsere Selbstwirksamkeit und unser Kompetenzerleben.« Daneben hält sie für genauso wichtig, dass Menschen rechtzeitig pausieren, noch bevor sie so erschöpft sind, dass sie spüren, dass Erholung nötig ist.
Idealerweise pflegen Beschäftigte also während eines Arbeitstages die Gewohnheit, sich Auszeiten zu nehmen und Untätigkeit zuzulassen. Doch nicht immer ist das möglich. Wir alle kennen wahrscheinlich aus der eigenen Tätigkeit den unkontrollierten Einbruch von Leerlauf, der zunächst alles andere als angenehm ist: Büroangestellte erstarren vor dem Rechner, weil sich das unangekündigte Softwareupdate Zeit lässt. Verkäuferinnen und Kellner warten im Laden oder Restaurant auf Kundschaft. Die Landwirtin kann nicht weiterarbeiten, weil ihr Fahrzeug streikt und das Ersatzteil erst geliefert werden muss. Der Produktionsmitarbeiter wartet darauf, dass das gestoppte Fließband weiterläuft.
So entsteht, was Arbeitsforscher:innen Leerlaufzeit nennen. Dass Beschäftigte solche Zeiten als inspirierend und erholsam empfinden, ist eher unwahrscheinlich, wie die Forschung zeigt. Untätigkeit führt in solchen Fällen dazu, dass sich Menschen langweilen, ihre Motivation verlieren und unzufrieden werden. Gibt es also gutes und schlechtes Nichtstun?
Menschen wollen handeln, und zwar so vollständig wie möglich
Der Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Martin Zeschke forscht zu Leerlaufzeiten am Arbeitsplatz. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und hat mehrere Studien zu dem Thema durchgeführt. Sie zeigen: Wenn Beschäftigte aus Gründen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen, ihre Aufgaben nicht erledigen können,
In diesem Fall mussten die Versuchsteilnehmer:innen online Fragen beantworten und KI-generierte Sätze vervollständigen. In einer Gruppe dauerte die Generierung wenige Sekunden, in einer zweiten Gruppe 5 Minuten und in der dritten Gruppe 10 Minuten. Die Teilnehmer:innen waren angehalten, im Browser zu bleiben, bis die Satzgenerierung abgeschlossen war und die Schaltfläche »Weiter« erschien.
Die Gruppen 2 und 3 erlebten also in unterschiedlichem Ausmaß Leerlaufzeit. Anschließend wurden sie nach ihrem Wohlbefinden gefragt. Die Forscher:innen stellten fest, dass die objektive Leerlaufzeit, die ja zunächst einmal neutral ist, zu einer subjektiven Bewertung führte – und zwar einer negativen. Eine längere Leerlaufzeit führt laut Zeschkes Forschungen zu gelangweilten, verunsicherten und frustrierten Proband:innen. Das wiederum beeinträchtigt deren Leistung und Wohlbefinden. Langfristig sinken dadurch Motivation und Jobzufriedenheit,
»Das Unangenehme an Leerlaufzeiten ist, dass es mit der Arbeit jederzeit weitergehen kann. Bei Leerlaufzeiten besteht eine Abhängigkeit von anderen Personen oder Ereignissen«, erklärt Zeschke. Sprich, das Fließband kann jederzeit weiterlaufen oder eine neue Kundin unvermittelt den Laden betreten. Richtig abzuschalten ist so nicht möglich. Selbst gewählt sind die Pausen auch nicht. Die Beschäftigten sind bereit zu arbeiten, können ihre Aufgaben aber nicht erfüllen. In solchen Situationen werden Beschäftigte durch äußere Faktoren zum Nichtstun gezwungen – ein denkbar unangenehmer Zustand.
»Wir möchten gerne handeln«, sagt Zeschke. Menschen streben nach einer idealen Balance aus Beanspruchung und Entlastung. Insbesondere sei ihnen wichtig, eine Aufgabe vollständig ausführen zu können. Forschende sprechen dabei auch von sequenzieller Vollständigkeit. Das heißt, Beschäftigte führen ihre Arbeit nicht nur aus, sondern können sie auch selbst vorbereiten, organisieren und kontrollieren.
Zum Beispiel: Ich denke darüber nach, einen Text über Untätigkeit am Arbeitsplatz zu schreiben, recherchiere dafür, führe Interviews, strukturiere den Text und schreibe ihn auf. Anschließend arbeite ich notwendige Korrekturen und Änderungsvorschläge ein. Am Ende erscheint der Text und Interessierte können ihn lesen – eine vollständige Arbeit.
Gute Pausen wollen durchdacht sein
Doch es gibt Möglichkeiten, mit solchen Situationen umzugehen. »Leerlauf kann dazu motivieren, eine Pause zu machen«, sagt Zeschke. Er spricht von adaptiven Strategien, um sich an die unerwünschte Lage anzupassen. Etwa, die Zeit für Angenehmes zu nutzen, zum Beispiel eine Pause, ein Gespräch mit Kolleg:innen oder Achtsamkeitsübungen. Das kann die negativen Auswirkungen der Leerlaufzeit abmildern.
Neben adaptiven gibt es proaktive Strategien, die eher den Zweck haben, Leerlauf zu verhindern. Statt zu warten, dass die ursprüngliche Aufgabe weitergeht, können sich Beschäftigte andere Aufgaben suchen und zum Beispiel liegengebliebene Nebenprojekte aufnehmen.
»Wie Beschäftigte mit solchen Phasen umgehen, hängt auch davon ab, was sie in solchen Zeiten tun dürfen und wie akzeptiert Leerlauf ist«, sagt Zeschke. Ob Leerlauf als negativ empfunden wird, ist also auch eine Frage des Umgangs damit im gesamten Team. Wird Untätigkeit weniger kritisch bewertet, treten auch weniger Langeweile und Frustration auf. Weil Menschen nicht das Gefühl haben müssen, etwas falsch zu machen, wenn sie nichts tun.
Einen Grund, Leerlaufzeiten aus dem Arbeitsalltag zu eliminieren, sieht Martin Zeschke nicht. Im Gegenteil. Es mangele Beschäftigten in der Regel nicht an Langeweile, sondern an freien Kapazitäten – also an ruhigeren Phasen, Erholungspausen und auch an Zeit zum Nichtstun, die aber selbstbestimmt gestaltet werde oder in einem Arbeitsalltag verlässlich vorgesehen sei.
Es wäre also ein Fehler, die ständig beschäftigten, dauerpräsenten Kolleg:innen als die besonders leistungsfähigen zu betrachten. Viel mehr spricht dafür, sich ein Beispiel an denjenigen zu nehmen, die gedankenverloren aus dem Fenster schauen, und vielleicht sogar irgendwann aufstehen, ihre Sachen nehmen – und gehen. Sie werden schon wiederkommen, vielleicht mit der zündenden Idee.
Redaktionelle Bearbeitung: Chris Vielhaus
Titelbild: Milad Fakurian - CC0 1.0