Ich bin letztes Jahr 30 geworden. Vor meinem Geburtstag wollte ich mich mit meiner Altersvorsorge beschäftigen. Konkret: Mit der Frage, ob und wie ich zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung vorsorgen möchte. Der Vorsatz geisterte schon länger in meinem Kopf herum. Aber ich habe es immer wieder aufgeschoben, weil es einen zu großen Zwiespalt in mir gibt:
Einerseits weiß ich, dass mir – wie den meisten anderen Menschen in Deutschland – ohne zusätzliche private Vorsorge Altersarmut droht. Erst kürzlich habe ich zum ersten Mal einen Brief mit meiner gesetzlichen Renteninformation erhalten. Wenn ich für den Rest meines Arbeitslebens weiter durchschnittlich so viel einzahle wie in den letzten 5 Jahren, würde ich (Das ist mehr, als ich erwartet hatte, und fällt genau in den Bereich, den die meisten Rentnerinnen in Deutschland derzeit erhalten. Aber sehr wahrscheinlich nicht ausreichend.)
Andererseits widerstreben mir die Möglichkeiten zur privaten Vorsorge, die es derzeit gibt. Ob klassische Rentenversicherungen oder das Investieren auf eigene Faust mit Die meisten Geldanlagen basieren auf Ausbeutung, sei es von Menschen oder der Natur. Auch bei die vieles besser machen, hofft man für sich persönlich, dass die Wirtschaft und damit die eigenen Erträge immer weiter wachsen. In Zeiten, in denen immer mehr überschritten werden, erscheint das Konzept wie aus der Zeit gefallen.
Mit meinem Zwiespalt habe ich mich an Charlotte Hitzfelder vom Konzeptwerk Neue Ökonomie gewandt. Das Konzeptwerk ist ein Verein, der sich mit Alternativen für unser Wirtschaftssystem und insbesondere beschäftigt.
Charlotte Hitzfelder arbeitet seit 10 Jahren im Konzeptwerk. Neben ihren Aufgaben in der Gesamtkoordination, die sich um die interne Strukturierung des Vereins kümmert, arbeitet sie schwerpunktmäßig zum Themenfeld »Care« und zu der Frage, wie Sorgearbeit in unserem Wirtschaftssystem derzeit sichtbar ist – oder es vielmehr nicht ist. Das Thema »Altersvorsorge« beschäftigt sie aus privatem Interesse, aber auch weil es ihrer Meinung nach eine zu große Leerstelle in feministischen Debatten ist.
Im Interview sprechen wir über die Bedeutung von sozialen Kontakten in einer Postwachstumsgesellschaft, die Rolle von Geld und revolutionäre Politik.
Konzeptwerk Neue Ökonomie
Das Konzeptwerk wurde 2011 aus dem Gedanken heraus gegründet, dass die derzeitige Wirtschaft undemokratisch, ungerecht und instabil ist – und es deshalb eine andere Art zu wirtschaften braucht. Das Team erarbeitet Konzepte hierfür, macht Bildungsarbeit und unterstützt andere Bewegungen. Hier kommst du zur Website des Vereins.
Maria Stich:
Frau Hitzfelder, lassen Sie uns mit einer kleinen Gedankenreise starten. In eine Welt, in der die Postwachstumsgesellschaft Realität geworden ist. Wie sieht Ihr Rentnerinnenleben darin aus?
Charlotte Hitzfelder:
Ich wäre wohl stark in ein Netzwerk aus Menschen eingebunden. Denn ich kann mir nichts Gruseligeres vorstellen, als das ganze Leben gearbeitet zu haben und dann am Ende allein dazusitzen. Das könnten mehrere Generationen sein, die zusammenleben, oder starke nachbarschaftliche Netzwerke oder Stadtteilstrukturen. Auch enge Freundinnen, mit denen ich gemeinsam alt geworden bin.
In einer Postwachstumsgesellschaft gäbe es außerdem viel mehr soziale Garantien oder eine Art Grundsicherungssystem: kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, damit ich mich frei bewegen kann, Wasser- und Energieversorgung, die nicht privatwirtschaftlich organisiert sind. Auch Wohnraum wird genossenschaftlich organisiert und so verteilt, dass für alle Platz ist.
Falls Sie pflegebedürftig oder krank sind, wer kümmert sich da um Sie? Das soziale Netzwerk oder Pflegekräfte?
Charlotte Hitzfelder:
Ich würde sagen, sowohl als auch. Es muss starke Netzwerke geben, in denen man sich gegenseitig unterstützen kann und füreinander da ist. Gut ausgebildete Pflegekräfte braucht es dennoch. Deren Arbeit ist in der Postwachstumsgesellschaft aber besser bezahlt als heute,
Wie soll das funktionieren?
Charlotte Hitzfelder:
Durch Postwachstum findet eine Umverteilung statt – weg von den fossilen und bestimmten anderen Industrien, hin zu einer Aufwertung des Gesundheits- und Carebereichs. Zudem liegt der Hebel bei der Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Die von der Hans-Böckler-Stiftung sagt, dass viele Pflegekräfte in ihren Beruf zurückkehren und Arbeitszeit aufstocken würden, wenn die Arbeitsbedingungen besser wären. Daran gilt es politisch zu kämpfen.
Also sind es trotzdem bezahlte Pflegekräfte, die das beruflich machen und Geld dafür bekommen. Welchen Stellenwert besitzt Geld in einer Postwachstumsgesellschaft generell?
Charlotte Hitzfelder:
In der Vision, die ich hier grundrissmäßig gezeichnet habe und
Wir werden Geld mittelfristig nicht abschaffen und auf andere Modelle der Güterverteilung umsteigen. Aber diese Alternativen können eine immer größere Rolle spielen, und damit verringert sich die Rolle des Geldes. Wenn zum Beispiel die Grundversorgung kostenfrei bereitgestellt wird – öffentlicher Nahverkehr, Energie, Wasser, Wohnraum –, dann verliert Geld schon viel von seiner Bedeutung. Im besten Fall gibt es darüber hinaus eine Grundrente oder eine Grundsicherung, die ausreicht, um unsere Existenz zu sichern.
Heute verstehen wir »Altersvorsorge« vor allem als finanzielle Vorsorge. Was würde es in einer Postwachstumsgesellschaft bedeuten, »fürs Alter vorzusorgen«?
Charlotte Hitzfelder:
Für das Alter vorsorgen heißt in meiner Vision, gute gemeinsame Netzwerke aufzubauen und Verbindlichkeiten zu schaffen. Und – auch wenn das natürlich viel schwieriger zu beeinflussen ist – sich politisch dafür einzusetzen, dass es soziale Garantien für die Erfüllung von Grundbedürfnissen und kostenlose Basis-Infrastruktur gibt, die ich schon angesprochen habe.
Charlotte Hitzfelder feiert im Januar 10-jähriges Jubiläum beim Konzeptwerk Neue Ökonomie.
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Quelle:
Luzz Kohnen
»Wir Menschen sind soziale Wesen, die voneinander abhängig sind«
Das heißt, der Fokus sollte wieder mehr auf staatliche Vorsorge gelenkt werden? Gerade zeigt der Trend aber in die andere Richtung – private Absicherung und Absicherung über den Finanzmarkt wird politisch mehr und mehr forciert.
Charlotte Hitzfelder:
Die Aktienrente, die aktuell diskutiert wird, ist eine totale Auslagerung auf den Finanzmarktkapitalismus und in meinen Augen nicht die richtige Art, Altersvorsorge zu organisieren. In einer Postwachstumsgesellschaft wäre es nicht die Aktienrente, auf die man sich verlassen muss, sondern die gemeinsame Organisierung im Stadtteil, Nachbarschaft oder Dorf.
Altersvorsorge in Deutschland
Altersvorsorge in Deutschland
Wie ist die Altersvorsorge aufgebaut?
Die Altersvorsorge in Deutschland besteht im Wesentlichen aus 3 Säulen: der gesetzlichen einer optionalen betrieblichen Altersversorgung (wenn der Arbeitgeber eine solche anbietet) und der privaten Vorsorge mittels privater Rentenversicherungen, Riester-Verträgen oder Geldanlagen.
Die gesetzliche Rentenversicherung fällt in der Regel niedriger aus als das letzte monatliche Netto-Einkommen und reicht deshalb meist nicht aus, um alle Lebenshaltungskosten zu decken. Diese Rentenlücke (auch Versorgungs- oder Vorsorgelücke genannt) soll mit den privaten Vorsorgemaßnahmen geschlossen werden.
Wie finanziert sich die gesetzliche Rentenversicherung?
Die gesetzliche Rente basiert auf einem Umlagesystem: Die Renten finanzieren sich aus den Beiträgen aller aktuellen Arbeitnehmer:innen. Zusätzlich leistet der Staat Zuschüsse an die Rentenkasse, um die Differenz auszugleichen.
Was hat es mit der geplanten Aktienrente auf sich?
Da das Verhältnis von Beitragszahlenden und Rentner:innen immer mehr in Schieflage gerät, gibt es verschiedene Optionen, das System zu stabilisieren: die Beitragssätze oder das Renteneintrittsalter erhöhen, das Rentenniveau kürzen oder die staatlichen Zuschüsse erhöhen.
Im Rentenpaket II hatte sich die scheidende Bundesregierung unter anderem darauf geeinigt, eine neue Säule der Finanzierung einzuführen. Dabei sollten Bundesmittel auf dem Kapitalmarkt angelegt werden und die Erträge in die Stabilisierung des Rentenniveaus fließen. Wie genau diese Aktienrente, »Generationenkapital« genannt, ausgestaltet werden soll, ist noch offen. Eine Recherche von Correctiv kritisierte im September, dass auch klimaschädliche Anlagen enthalten sein könnten.
Das Vorhaben liegt mit dem Ampel-Aus nun aber ohnehin auf Eis. So schreibt das Bundesministerium der Finanzen auf seiner Website: »Das vom Bundeskabinett beschlossene ›Rentenpaket II‹ kann in dieser Legislaturperiode nicht mehr abgeschlossen werden.«
Es gibt die Redensart, dass es eigentlich ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. Könnte man sagen, dass es in einer Postwachstumsgesellschaft für alle Lebensabschnitte ein Dorf braucht, insbesondere auch im Alter?
Charlotte Hitzfelder:
Auf jeden Fall. Natürlich gibt es fragilere Lebensphasen, in denen man abhängiger von anderen ist: als kleines Kind und dann je nachdem, wie man älter wird. Auch abseits davon gibt es Krankheitsphasen im Leben, Menschen sind chronisch krank oder brauchen mehr Begleitung.
Ich würde aber behaupten, wir Menschen sind soziale Wesen, die generell voneinander abhängig sind. Care, das Kümmern umeinander, ist die Grundlage unseres Lebens, ohne die nichts funktionieren würde. Und das ist nichts Negatives, sondern in meinen Augen etwas total Positives. Hilfe in Anspruch zu nehmen, darf nicht nur als Defizit gesehen werden. In Verbindung mit anderen zu sein, gibt im Gegenteil ganz viel Kraft.
Wir haben jetzt viel über die Vision einer Postwachstumsgesellschaft gesprochen. Und wie sieht die realistische Perspektive aus?
Charlotte Hitzfelder:
Alle sagen mir mehr oder weniger, dass mich das Rentensystem in die Altersarmut treiben wird. Oder dass meine Rente vielleicht gerade so zu einem existenzsichernden Minimum reichen wird. Denn ich habe kein hohes Gehalt. Aber um in dem System, in dem wir gerade leben, eine gute staatliche Rente zu bekommen, brauche ich ein gutes durchschnittliches Gehalt und das über viele Jahre hinweg. Dann bekomme ich eine okaye Rente – das heißt aktuell ungefähr 48% von meinem Einkommen. Den restlichen Teil muss man privat absichern.
Was halten Sie aus Postwachstumsperspektive davon?
Charlotte Hitzfelder:
Ich würde nicht per se sagen, dass man auf gar keinen Fall investieren darf. Diese Entscheidung muss jede Person am Ende allein treffen. Ich kann prinzipiell nachvollziehen, wenn Leute das machen. Gleichzeitig führt dieser Trend immer stärker zu einer Vereinzelung. Jeder sorgt für sich allein.
Und die Sache ist: Ich muss überhaupt erst einmal Geld haben, um es anlegen zu können und um am Ende etwas herauszubekommen. Wer kann sich das leisten? Manchmal haben die Leute vielleicht ein bisschen Geld übrig, aber vielleicht brauchen sie es in 5 Jahren wieder für unerwartete Ausgaben? Es braucht eine gewisse Stabilität, um langfristig anzulegen.
Zum anderen stellt sich natürlich die Frage, wo mein Geld angelegt wird. Die Anlagen, die am meisten Rendite hervorrufen, sind nach wie vor Rüstung, fossile Energien und Co. Wenn man den Klimawandel und die anderen aktuellen Krisen ernst nimmt, ist es widersprüchlich, in so etwas zu investieren.
Geldanlagen von deutschen Haushalten
Das Diagramm zeigt den Anteil der Bevölkerung ab 14 Jahren, der selbst eine Geldanlage besitzt oder mit jemandem zusammenlebt, der eine Geldanlage besitzt. Angaben in %
Es gibt auch als grün oder nachhaltig gelabelte ETFs. Geht das eher in die richtige Richtung?
Charlotte Hitzfelder:
Dass es nachhaltigere ETFs gibt, finde ich gut. Wenn man für sich entscheidet, in diesem System mitzuspielen, ist es in meinen Augen begrüßenswert, sich diese zumindest einmal anzuschauen.
Ob grüne oder andere ETFs: Man setzt beim Investieren darauf, dass das wirtschaftliche Wachstum weitergeht. Zwar vielleicht »grünes Wachstum«, aber es ist doch trotzdem gegenläufig zu der Grundidee von Postwachstum.
Charlotte Hitzfelder:
Ja, das ist total gegenläufig zur Postwachstumsidee. Postwachstum sagt, auch mit grünem Wachstum können wir die Herausforderungen von Klima- und Biodiversitätskrise nicht bewältigen.
»Es ist wichtig, dass es Nischen gibt, in denen Alternativen gelebt werden«
Konnten Sie diesen Widerspruch für sich auflösen oder haben Sie einen Weg gefunden, wie Sie mit ihm leben können? Wie sorgen Sie persönlich vor?
Charlotte Hitzfelder:
Ich versuche nach wie vor, meinen Weg zu finden, und setze mich aktuell über Podcasts, Bücher und Bildungsveranstaltungen damit auseinander. Ich habe einen alten Riestervertrag, den ich mit meinem Ausbildungsbeginn mit 16 abgeschlossen habe. Aber ansonsten lege ich nichts an.
Aktuell komme ich ohnehin mit wenig aus, also mit relativ wenig Geld. Und ich habe starke soziale Netzwerke. Ich denke mir, wenn ich diese halte, komme ich auch im Alter klar. Aber ich habe ambivalente Gefühle dazu und frage mich manchmal, ob ich nicht doch noch irgendetwas machen müsste?
Habt ihr euch im Konzeptwerk darüber Gedanken gemacht, wie eure Vision, in der es diese unauflösbare Ambivalenz nicht mehr gibt, Realität werden könnte? Wie lässt sich so ein Übergang konkret gestalten?
Charlotte Hitzfelder:
Mir ist an dieser Stelle wichtig zu sagen, dass die Vision, über die wir gerade gesprochen haben, keine Blaupause ist oder das Richtige für alle. Und wir haben uns nur generell Gedanken gemacht, wie der Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft aussehen würde – aber das würde eine gute Altersvorsorge indirekt miteinschließen.
Charlotte Hitzfelder:
Wir nennen immer 3 verschiedene mögliche Strategien für Wandel und Veränderung.
Erstens müssen Alternativen sichtbar sein. Es ist wichtig, dass es Nischen gibt, kleine Orte, Freiräume, wo Dinge ausprobiert und Alternativen schon gelebt werden können. Mehrgenerationenhäuser sind eine sehr bekannte Wohnform, die eine Alternative darstellt und wo sich Menschen umeinander kümmern.
Das kann man gedanklich erweitern auf einen Careblock oder Carebezirk. In feministischen Debatten gibt es den Begriff der »sorgenden Städte«. Der Fokus liegt also darauf, wie Städte so gestaltet werden, dass wir füreinander sorgen können. Da geht es unter anderem um möglichst kurze Wege. Wo sind die Ärzt:innen? Der nächste Supermarkt? Wie ist der öffentliche Nahverkehr?
Zweitens?
Charlotte Hitzfelder:
Zweitens braucht es eine Art Gegengewicht zum jetzigen System – das, was den aktuellen Mainstream oder Diskurs ausmacht. Das machen wir als Konzeptwerk vor allem durch unsere Bildungsarbeit. Aber auch dadurch, dass wir mit sozialen Bewegungen wie der Klimagerechtigkeitsbewegung oder feministischen Streikbündnissen zusammenarbeiten und die Akteure vernetzen.
Und was ist die dritte mögliche Strategie für Veränderung?
Charlotte Hitzfelder:
Das dritte ist sogenannte Das heißt, die politischen Rahmenbedingungen müssen so verändert werden, dass es überhaupt möglich ist, einen Weg in eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft einzuschlagen. Es geht darum, im bestehenden System bestimmte gegebene Logiken zu brechen.
Das klassische Beispiel ist die Vergesellschaftung von Wohnraum, wie das auch bei
in Berlin sehr sinnbildlich gefordert wurde. Ziel der Initiative ist, dass Wohnraum vergesellschaftet wird oder genossenschaftlich organisiert werden soll. Und damit mit der Marktlogik gebrochen wird.
Die 3 Strategien können nebeneinander passieren, aber wirken auch aufeinander ein.
»Veränderungen müssen erkämpft werden«
Haben Sie weitere Beispiele für revolutionäre Realpolitik?
Charlotte Hitzfelder:
Die Debatten um Arbeitszeitverkürzung und Vermögensteuer haben je nach Ausgestaltung das Potenzial, revolutionär zu werden. Ein Beispiel, das ich sehr revolutionär finde, stammt aus Spanien: In Barcelona wurde vor ein paar Jahren die Feministin zur Bürgermeisterin gewählt. Sie hat das Thema Care zentral in ihrer Verwaltung aufgenommen und tatsächlich
Sorgende Stadt Barcelona
Sorgearbeit soll ins Zentrum kommunaler Wirtschaftspolitik gestellt werden – so das Ziel in sorgenden Städten. Wer sich um Kinder oder ältere Menschen kümmert, sollte nicht finanziell oder anderweitig benachteiligt werden. Ein Baustein ist in Barcelona die »Care-Karte« für Menschen, die Angehörige pflegen. Mit der Karte bekommen sie nicht nur Zugang zu Informationen über Pflege und psychologische Unterstützung, sondern erhalten auch Vergünstigungen, beispielsweise für zahnärztliche Leistungen.
Stichwort Freiräume und Orte für Alternativen, was Sie als erste Strategie genannt haben: Vergangenes Jahr wurde eine veröffentlicht, die sich bisherige Studien zu Postwachstum angeschaut hat. Dass ihre Verfechter:innen nur anhand von Einzelprojekten zeigen, dass sie funktioniert – nicht auf gesellschaftlicher Ebene. Aber das liegt natürlich in der Natur der Sache, dass eine größtenteils theoretische Idee nicht vorab praktisch bewiesen werden kann.
Wie könnte aus kleinen Einzelprojekten eine größere gesellschaftliche Bewegung werden? Mir scheint es gerade eher so, als gäbe es einfach keinen Konsens für ein solches System. Dass die Mehrheit keine Postwachstumsgesellschaft,
Charlotte Hitzfelder:
Postwachstum, wie ich es verstehe, gibt einen bestimmten Rahmen vor, worin Dinge demokratisch ausgehandelt werden können oder müssen, um unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten weiter zu ermöglichen.
Ich habe zwar diesen Dreiklang für Veränderungen aufgemacht. Aber das heißt nicht automatisch, dass in die Politik überführt wird, was in der Nische funktioniert. Sondern Dinge müssen aus der Nische heraus durch soziale Bewegungen erkämpft werden. Denn es gibt Machtverhältnisse, die einem Wandel entgegenstehen.
Zum Beispiel?
Charlotte Hitzfelder:
Eine Arbeitszeitverkürzung ist für die Menschen, die das entscheiden, die in den Betrieben sitzen, nicht attraktiv. Aber die Mehrheit der Menschen würde davon profitieren.
Vor 200 Jahren hat niemand gedacht, dass der 8-Stunden-Tag möglich ist. Dann wurde er vor 100 Jahren eingeführt. Jetzt denkt niemand, dass wir eine weitere Arbeitszeitverkürzung hinkriegen. Postwachstum sagt: Doch, das ist möglich und es würde zu einer notwendigen Umverteilung von Zeit, Sorgearbeit, mehr Gesundheit und Wohlbefinden sowie weniger Emissionen und Ressourcenverbrauch führen. Alles sehr wichtige Schritte für den Umbau in eine sozial-ökologische Wirtschaft.
Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, wo sich etwas verändert hat, weil Leute dafür gekämpft haben. Wandel passiert oft langsam und manchmal ganz schnell.
Auch wenn das Ergebnis anders aussehen kann, als man es sich vorher vorgestellt hat.
Charlotte Hitzfelder:
Ja. Bei Postwachstum geht es darum, über Zukünfte nachzudenken. Aber am Ende muss es ein demokratisch ausgehandelter Prozess sein. Es müssen mehr Menschen mitsprechen und mitbestimmen können. Und wo das letztlich hinführt, kann man nicht vorhersagen. Ich bin aber zuversichtlich, dass dann bessere Entscheidungen getroffen werden als aktuell.
Nach dem Gespräch mit Charlotte Hitzfelder bin ich zuerst ein wenig ernüchtert. Ich hatte mir handfestere Alternativen dafür erhofft, wie ich meine Altersvorsorge im Hier und Jetzt organisieren kann. Mit etwas Abstand betrachtet, finde ich es aber gut, dass sie die Ambivalenz zwischen dem Ideal und den Zwängen des aktuellen Systems nicht nur spürt, sondern auch ausspricht. Dass sie keine vermeintlich perfekten Lösungen präsentiert. Die Arbeit an einer tatsächlichen Veränderung ist eine Aufgabe für uns alle.
Die Postwachstumsideen, die Charlotte Hitzfelder aufgezeigt hat, erscheinen sinnvoll: Im Kleinen, auf der Ebene von Dörfern oder Nachbarschaften mehr aufeinander achtgeben, Gemeinschaften bilden. Und sich im Großen, auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene, dafür einsetzen, dass die Grundbedürfnisse von allen Menschen gedeckt sind – unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Und ja – möglichst nachhaltig konventionell vorzusorgen, ist wahrscheinlich ein Teil dieser Ambivalenz, mit der ich klarkommen muss.
Die Klimakrise ist eine Ressourcenkrise. Wasser, fruchtbarer Boden, bewohnbarer Lebensraum – all das wird immer ungleicher auf der Welt verteilt sein, je stärker sich die Erde erhitzt. Maria fragt sich: Wie können wir Ressourcen künftig klüger und gerechter nutzen? Nicht nur materielle, sondern auch persönliche. Also: Wie können einzelne Menschen etwas in der Welt bewegen?