Stusstistik: Ist Deutschland wirklich Weltmeister im Krankmachen?
Der Chef eines großen Versicherungskonzerns schlug unlängst vor, Arbeitnehmer:innen am ersten Krankheitstag keinen Lohn mehr zu zahlen – und begründete das mit fragwürdigen Zahlen.
Das neue Jahr ist keine 2 Wochen alt, und schon erleben wir den nächsten Versuch, Arbeitnehmenden die Schuld an der wirtschaftlichen Lage Deutschlands zuzuschieben. Worum geht es dieses Mal?
Vergangene Woche kritisierte der Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns Allianz, Oliver Bäte,
Sein Vorschlag: einen sogenannten »Karenztag« einzuführen. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer:innen am ersten Krankheitstag keinen Lohn erhalten – Menschen also de facto finanziell dafür abgestraft werden, krank zu sein. So können laut Bäte Arbeitgeber und Krankenkassen entlastet und rund 40 Milliarden Euro jährlich eingespart werden.
Doch woher stammen die 20 Tage, auf die sich Bäte beruft? Steht Deutschland im internationalen Vergleich wirklich so schlecht da? Und ist ein Karenztag nicht ohnehin die völlig falsche Schlussfolgerung aus hohen Krankenständen?
Sind Arbeitnehmende wirklich so faul, wie viele behaupten?
Es geht aus dem Interview mit dem Handelsblatt nicht eindeutig hervor, aber der Allianz-Chef bezieht sich vermutlich auf
Andere Statistiken zeigen zwar ähnlich wie die DAK-Erhebung einen Anstieg der Krankschreibungen über die vergangenen Jahre, fallen aber dennoch deutlich niedriger aus.
Krankheitstage je Arbeitnehmer:in pro Jahr
Das Statistische Bundesamt erfasst nur Krankmeldungen, für die ein ärztliches Attest nötig ist, also in der Regel nur für Erkrankungen, die über eine Dauer von 3 Tagen hinausgehen. Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor.
Bereits im vergangenen Herbst entspann sich aus diesen Zahlen eine Debatte darüber, ob die Menschen in Deutschland einfach zu wenig Lust auf Arbeiten haben.
Damals wie heute ist es allerdings »Stuss«, aus den Zahlen auf eine gesunkene Arbeitsmoral zu schließen und auf deren Basis gängelnde Regeln für Arbeitnehmende zu fordern. Denn dass die Kurve der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in der Statistik seit 2021 nach oben geht, hat einen anderen Grund: Seit 2022 werden Krankmeldungen automatisch an die Krankenkassen gemeldet. Davor gaben Arbeitgeber:innen diese Information auf freiwilliger Basis weiter.
Fragwürdiger Weltmeistertitel
Wie sieht es mit dem zweiten Teil von Bätes Behauptung aus, Deutschland sei »Weltmeister« bei den Krankmeldungen? Auch hier ist nicht ganz klar, auf welche Zahlen er sich dabei bezieht. Tatsächlich ist ein internationaler Vergleich gar nicht so einfach. Denn andere Länder haben teils andere Arbeits- und Sozialsysteme. So gibt es Länder, in denen Beschäftigte erst nach 4 Tagen eine ärztliche Krankschreibung bei ihrem Arbeitgeber vorlegen müssen.
Möchte man dennoch einen Vergleich unterschiedlicher Länder anstellen, kann man beispielsweise auf Erhebungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zurückgreifen.
Die OECD wertete aber auch aus, wie viel Beschäftigte in Europa anteilig an ihrer Wochenarbeitszeit krank sind – und siehe da: mit durchschnittlich 6,8% liegt Deutschland plötzlich nur noch auf dem siebten Platz. Hier führt Norwegen mit 10,7% die Liste an.
Anteil von Krankheits- an der Arbeitszeit
Wie ein Karenztag den Krankenstand sogar erhöhen könnte
Ob man Deutschland anhand dieser Daten nun den zweifelhaften Titel als Weltmeister im Krankschreiben verleihen möchte oder nicht: Das ist gar nicht der entscheidende Punkt.
Viel wichtiger ist die Frage, warum Allianz-Chef Bäte und alle anderen, die einen Karenztag befürworten, Krankschreibung mit mangelnder Arbeitsmoral gleichsetzen? Selbst wenn die Zahlen nicht nur aufgrund verbesserter Erhebungsmethoden ansteigen, sollte die Frage doch vielmehr heißen: Warum sind die Menschen häufiger krank? Und was kann getan werden, damit es ihnen besser geht, statt sie zu drangsalieren?
Am ersten Krankheitstag keinen Lohn zu zahlen, bestraft natürlich diejenigen, die »nur blaumachen« und eigentlich nicht krank sind – denn solche Fälle gibt es, das bestreitet niemand. Aber der Karenztag bestraft auch all diejenigen finanziell, die tatsächlich krank sind und sich das nicht ausgesucht haben.
Das würde voraussichtlich dazu führen, dass sich Arbeitnehmer:innen noch öfter einfach krank zur Arbeit schleppen – was laut Deutschem Gewerkschaftsbund aus Pflichtgefühl oder Angst vor beruflichen Nachteilen schon jetzt weit verbreitet ist. »›Präsentismus‹, also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet. Schon vor Corona gaben etwa 70% der Beschäftigten an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast 9 Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben«,
Ein Karenztag könne so im schlimmsten Fall den gegenteiligen Effekt haben: Denn mit Präsentismus schade man nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern könne auch Kolleg:innen anstecken und mehr Fehler bei der Arbeit machen – was in der Folge zu noch höheren Kosten führe.
Selbst die DAK, auf deren Zahlen sich Bäte vermutlich bezog,
Ein wachsendes Misstrauen in den Unternehmen ist kontraproduktiv. Es fördert nicht den Einsatzwillen der Beschäftigten, sondern hemmt ihre Leistungsfähigkeit. Misstrauen ist ein Zeichen negativer Wertschätzung und als solches ein Gesundheitsrisiko.
Eines ist klar: Auf Schwachen und vermeintlich faulen Menschen herumzutrampeln, wird kein einziges Problem der Wirtschaft lösen. Wer so argumentiert, macht es sich viel zu leicht.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily