»Das ist doch heuchlerisch!« Solche Sätze fallen bei politischen Tischgesprächen, wenn die Außenpolitik von liberalen Demokratien erörtert wird. Denn obwohl Regierungen von Ländern wie Deutschland, den USA oder der EU autoritäre Staaten bisweilen offen kritisieren und sich für Menschenrechte vor Ort einsetzen, verschließen sie in anderen Fällen die Augen angesichts von Unterdrückung und Zensur.
Ein Beispiel: die unterschiedliche Behandlung der Regime in Belarus und Saudi-Arabien.
Gegen das Regime des belarussischen Diktators Aljaksandr Lukaschenka Lukaschenka und wichtige Regime-Funktionäre dürfen bis heute nicht in die EU einreisen.
Als 2018 der saudi-arabische Regimekritiker Jamal Khashoggi bei einem Konsulatsbesuch in Istanbul ermordet wurde, folgten jedoch keine gemeinsamen EU-Sanktionen gegen den Kronprinzen Mohammed bin Salman. Dieser
Nur vereinzelte EU-Mitglieder setzten vorübergehend ihre Waffenlieferungen an Saudi-Arabien aus, Bin Salman ist weiterhin zu Gast bei internationalen Gipfeltreffen und in Gesprächen mit westlichen Staatsoberhäuptern.
Dieses Verhalten erweckt den Verdacht, die EU setze sich nur dann für Menschenrechte ein, solange die eigenen Wirtschaftsinteressen nicht berührt würden. Handelt es sich hingegen um strategisch wichtige Partner wie das ölreiche Saudi-Arabien, halten sich demokratische Regierungen mit Sanktionen zurück.
Dass Deutschland (und andere liberale Demokratien) bei ihrer Außenpolitik eigene Interessen verfolgen, ist klar. Doch welche Interessen gewinnen wann die Oberhand? Warum haben manchmal Wirtschaft und innerer Wohlstand Priorität, während in anderen Fällen Menschenrechte im Ausland stärker zählen?
Warum protestieren wir hierzulande in Massen, wenn Russland die Ukraine bombardiert, nicht aber, wenn China
Sind Deutschland, die EU und überhaupt liberale Demokratien heuchlerisch?
Der Historiker Frank Bösch hat ein Buch dazu geschrieben: Im Interview erklärt er, warum Deutschland manchmal Druck auf autoritäre Regime ausübt, manchmal nicht. Und was Proteste hierzulande für die Menschenrechtslage im Ausland bewirken können.
Julia Tappeiner:
Deutschland kritisiert autoritär geführte Länder wie Russland oder den Iran und belegt sie mit Sanktionen. Bei Staaten wie China oder Saudi-Arabien hält sich die Bundesregierung zurück. Warum?
Frank Bösch:
Deutschland hat seit den 1950er-Jahren regelmäßig und intensiv mit Diktaturen kooperiert. Allerdings war das von Beginn an selektiv. Es wurde unterschieden zwischen Diktaturen, mit denen es unproblematisch ist zu kooperieren, Diktaturen, mit denen man vorsichtig kooperiert, möglichst nicht öffentlich, und Diktaturen, mit denen man gar nicht kooperiert. Das Interessante ist, wie sich historisch verschiebt, welche Diktaturen jeweils als legitime Partner gelten.
Wie hat sich das seit den 1950er-Jahren verschoben?
Frank Bösch:
Als legitime Partner galten in der Ära Adenauer – antikommunistische Diktaturen, die eine gewisse marktwirtschaftliche Ordnung hatten. Wenn es harte Sanktionsregime gab, dann gegen die sozialistischen Staaten.
In den 1970er-Jahren verschob sich das – es wurden nun auch antikommunistische Autokratien wie Chile oder Südafrika geächtet. Der Menschenrechtsdiskurs gewann an Bedeutung und spielte nach 1989 eine immer größere Rolle, aber zunehmend weniger bei sozialistischen Staaten im Osten. Politische Begegnungen mit Autokraten wurden seltener. Gleichzeitig nahm die wirtschaftliche Verflechtung mit Beginn der Globalisierung zu.
Warum wurden Menschenrechtsverletzungen plötzlich angesprochen?
Frank Bösch:
Entscheidend war der Druck der Öffentlichkeit. Das führte in den 1970ern dazu, dass ein Regime wie Pinochets Chile ganz anders diskreditiert wurde als die anderen Diktaturen in Lateinamerika
Warum erhalten manche Diktaturen mehr öffentliche Aufmerksamkeit als andere?
Frank Bösch:
Die Kritik basiert oft auf Nähe. Eine Nähe, die über Kommunikation hergestellt wird. Beispielsweise ist die Nähe zu Saudi-Arabien in Deutschland gering. Es gibt wenig Migration aus diesem Land. Wenige Menschenrechtsorganisationen reisen hin, und auch über Tourismus gibt es kaum Austausch.
Bei anderen Staaten, wie der Türkei, die zwar keine Diktatur ist, aber autokratische Elemente hat, haben wir einen hohen Austausch: Viel Migration, viele Urlaubsreisen, viele Journalist:innen, die dieses Land zumindest kennen. Dadurch ist die Kritik gegenüber der Türkei etwas stärker, obwohl die politische Gewalt dort geringer ist.
Das heißt, das Ausmaß der Grausamkeit oder die Anzahl der Menschenrechtsverletzungen sind nicht ausschlaggebend für die öffentliche Empörung im Westen?
Frank Bösch:
Nein. In den 1970er-Jahren wurden in Argentinien 10-mal so viele Menschen aus politischen Gründen getötet wie in Chile. Aber die Sanktionen gegenüber Chile waren viel härter.
Während der deutschen Teilung wurde also der Austausch mit Autokratien durch den Kampf gegen den Kommunismus gerechtfertigt. In den 1980er- und 1990er-Jahren basierte die Kooperation hauptsächlich auf Handel, unter anderem mit der wichtigen Ressource Erdöl. Was sind aktuell die Hauptgründe?
Frank Bösch:
Die neue, intensivierte Form der Kooperation mit Diktaturen seit dem Jahr 2015 basiert zudem auf den Versuchen, Flüchtlingsbewegungen einzuschränken.
Was entscheidet darüber, ob die deutsche Regierung Druck auf einen Staat ausübt, um die Menschenrechtslage vor Ort zu verbessern, oder ob sie darüber hinwegschaut?
Frank Bösch:
Ein ganz wichtiger Punkt ist, ob diese Länder als demokratiefähig gelten. Länder, die einmal demokratisch waren und in denen die Demokratie dann kippt, wie 1969 in Griechenland, 1973 in Chile oder letztlich in Russland, geraten stärker in die Kritik als Länder, die schon immer autokratisch waren. Die Kritik an arabischen Staaten ist vergleichsweise gering, weil sie gar nicht als demokratiefähig gesehen werden.
Das Zweite ist die Frage, wie willkürlich diese Länder handeln, wie berechenbar sie sind. Und auch das erklärt, warum bei Saudi-Arabien, das als berechenbare Diktatur gilt, die Beziehung enger ausfällt.
Ein dritter Punkt sind wirtschaftliche Verbindungen, die oft auf Rohstoffen basieren. Deshalb wurde selbst mit unberechenbaren Diktatoren wie Gaddafi in Libyen lange kooperiert. Ähnliches haben wir bei Russland gesehen,
Viele dieser Punkte spielen auch in der Außenpolitik anderer liberaler Demokratien eine Rolle. Sie sagen aber, Deutschland hat historisch gesehen einen besonderen Umgang mit Autokratien. Inwiefern?
Frank Bösch:
Die deutsche Politik ist seit jeher stark exportgetrieben. Und diese Exportförderung, die mit und mit Entwicklungshilfe einhergeht, trägt zu einem stärkeren Austausch mit autoritären Regimen bei.
Zudem wollte sich Deutschland nach dem Nationalsozialismus durch profilieren, also durch Präsenz in diesen Ländern, und sein internationales Ansehen verbessern.
Der dritte Punkt ist die Teilung Deutschlands, die Konkurrenz zur DDR. Damals ging es der Bundesrepublik fast immer darum, vor der DDR in anderen Ländern Fuß zu fassen. Das führte zu sehr vielen Kompromissen und einer offensiven Kontaktaufnahme auch zu Diktaturen.
Und heute?
Frank Bösch:
Nach wie vor steht bei den Deutschen das Ansehen ihres Landes stark im Vordergrund. Das wird jetzt aber viel stärker als früher über Menschenrechtsfragen bewertet.
Das exportgetriebene Selbstverständnis ist aber geblieben. Deutschland ist mit China und den USA eines der exportstärksten Länder der Welt. Das begründet,
Welche Auswirkungen hat diese enge Kooperation mit autoritären Regimen auf Deutschlands Demokratie?
Frank Bösch:
In der frühen Bundesrepublik wurde mitunter für diese Kooperationen auch mal die Pressefreiheit in Deutschland eingeschränkt. Es kam sogar zu brutaler Polizeigewalt, wie bei der
Diese Zeiten scheinen nicht vorbei zu sein. Heute werden teilweise israelkritische Proteste verboten. Tunesien und die Türkei werden trotz bekannter Menschenrechtsverletzungen als Partner in Migrationsfragen gesehen – zulasten geflüchteter Menschen.
Frank Bösch:
Ja. Hinzu kommt die berühmte Scheckbuch-Diplomatie. Also, dass die Bundesrepublik sich selten einmischt in Versuche, Autokratien gewaltsam zu stürzen. Das kann man positiv oder kritisch sehen – im Irak oder in Afghanistan sind entsprechende Versuche der USA ja auch gescheitert. Doch beim den der damalige Außenminister Guido Westerwelle (FDP) nicht unterstützt hat, gab es im Westen wenig Verständnis für Deutschlands Neutralität.
Gibt es auch Argumente, die für eine Kooperation mit nichtdemokratischen Staaten sprechen?
Frank Bösch:
Ich bin kein Verfechter eines völligen Abbruchs der Beziehungen zu allen Staaten, die autokratisch sind. Die historischen Beispiele zeigen: Eine Kooperation mit Diktaturen, die Anreize schafft, Menschenrechte zu verbessern, kann vorteilhaft sein. Dafür braucht es aber oft einen langen Atem.
Wie sieht so eine Politik aus?
Frank Bösch:
Man kann zum Beispiel sagen, dass bestimmte Finanzmittel an Diktaturen nur fließen, wenn innere Reformen durchgeführt werden. Das kam etwa den Ostdeutschen in der DDR zugute, denn es führte zu Erleichterungen bei der Ausreise.
Auch Organisationen wie der oder die Weltbank – die oft kritisch gesehen werden – können durch ihren Einfluss auf den Schuldenerlass und die Finanzpolitik positiv Einfluss nehmen.
Das zeigte sich in Diktaturen der 1980er-Jahre, von Argentinien über Zaire bis Polen, die oft verschuldet waren. Durch internationale Organisationen konnte ein gewisser Druck erzeugt werden, und es entstanden neue Spielräume für die dortige Bevölkerung.
Sie glauben also an den berühmten Ausspruch
Frank Bösch:
Wenn dies politisch flankiert wird. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Europa und weiterer antikommunistischer Autokratien wie Chile, Brasilien und Südkorea schien dem recht zu geben. Aber die ganze Welt wird dadurch nicht demokratisch.
Mit Blick auf Russland oder China sehen wir gerade einen gegenteiligen Effekt: Die wirtschaftliche Abhängigkeit von diesen Ländern hat dazu geführt, dass Demokratien den dortigen Menschenrechtsverletzungen wenig entgegensetzen können.
Frank Bösch:
China ist ein kompliziertes Beispiel. Dass eine Diktatur wirtschaftlich so mächtig wird, dass sie andere Diktaturen stützen kann, das war früher nicht der Fall. Früher waren die Demokratien die wirtschaftlich mächtigen Länder. Jetzt gibt es einen neuen Schulterschluss zwischen Autokratien, der es schwieriger macht, Menschenrechte zu fördern. Das wird nur mit geballten Sanktionen und Anreizen möglich.
Wie finden wir das richtige Maß zwischen Kooperation auf der einen und einer klaren Kante gegenüber Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite?
Frank Bösch:
Es gibt leider keine feste Regel, aber wichtig ist das, was auch Außenministerin Annalena Baerbock macht: Nicht nur Gespräche zu den Politikern des Landes suchen, sondern auch zu oppositionellen Gruppen, zu Minderheiten, zu Verfolgten – soweit das eben möglich ist.
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.