Es ist passiert. Österreich, der Versuch einer Erklärung
Die Brandmauer ist weg, der österreichische Höcke kommt an die Macht. Wir haben die wohl bekannteste Extremismusexpertin Österreichs gebeten, zu erklären, wie es so weit kommen konnte.
Karl Kraus, einer der vielen scharfzüngigen Österreich-Analyst:innen, die dieses Land hervorgebracht hat, seufzte schon 1920 in seiner Zeitschrift Die Fackel: »Ist es nicht die hoffnungsloseste und toteste aller Gewissheiten, unter einer Nation zu leben, die durch Schaden dümmer wird?« 100 Jahre später ist man versucht, ihm unumwunden und resignierend recht zu geben.
Doch so einfach ist es nicht.
Die letzten Wochen und Tage haben die Sackgasse der österreichischen Innenpolitik deutlich aufgezeigt.
Die Fakten: Was ist passiert?
Im September 2024 hat Österreich seinen Nationalrat gewählt. Die große Siegerin hieß FPÖ. Zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik wurde eine rechtsextreme Partei die Nummer 1. Überraschend kam dies nicht. Schon in den Wahlen zuvor, bei den EU-Wahlen sowie diversen Landtagswahlen, war die FPÖ die große Gewinnerin und sitzt nun in 5 von 9 Landesregierungen. In der Steiermark stellt sie künftig den Landeshauptmann, das gab es zuvor nur mit Jörg Haider in Kärnten.
Nach den Nationalratswahlen wurden die 3 größten Parteien beauftragt, sich zu überlegen, in welcher Konstellation sie miteinander arbeiten können. Nachdem niemand mit der FPÖ unter Kickl koalieren wollte, bekam die zweitstärkste Partei, die konservative ÖVP, den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Sie versuchte es mit der Sozialdemokratie (SPÖ) und den neoliberalen NEOS.
So weit, so gut.
Doch diese Verhandlungen scheiterten, als erst die Liberalen, dann die Konservativen den Verhandlungstisch verließen. Nachdem der konservative Noch-Kanzler Karl Nehammer zurückgetreten war, vollzog die ÖVP eine 180-Grad-Wendung und war nun doch zu Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ bereit – als Juniorpartner.
Das sind die Fakten. Um die Gegenwart zu verstehen, braucht es aber das Hintergrundwissen der österreichischen Innenpolitik der letzten 5 Jahre.
Die lange Rache des Herbert Kickl
2019 erschütterte das Ibiza-Video die Republik Österreich. Der damalige FPÖ-Chef und Vizekanzler HC Strache war in eine Videofalle getappt, in der er weinselig die halbe Republik verkaufen wollte und einer vermeintlichen russischen Oligarchin Zugriff auf die österreichische Regierung versprach. Sebastian Kurz, damals Kanzler und Parteichef der konservativen ÖVP, war zu diesem Zeitpunkt am Höhepunkt seiner Macht.
Als Grund für das Sprengen der Koalition gab er neben Ibiza auch noch einen Mann an: Herbert Kickl. Kickl hatte in seiner Funktion als Innenminister unter anderem den Verfassungsschutz von der Polizei stürmen lassen. Die Folge: Jahrelang war Österreich von internationalen Geheimdiensttätigkeiten abgeschnitten, der Verfassungsschutz wurde neu aufgestellt und umbenannt. Er war damals politisch untragbar geworden, und als Bedingung, die Koalition doch noch weiterzuführen, verlangte Kanzler Kurz, Innenminister Kickl auszuwechseln. Dies lehnte die FPÖ ab.
Es kam zu Neuwahlen, bei denen die FPÖ zwar landesweit einbrach. Doch nachdem HC Strache nach der Affäre aus der Partei ausgetreten war, hatte Kickl in der FPÖ enorm an Macht gewonnen, wurde in den Coronajahren gar zu ihrem Parteichef und rückte sie noch weiter nach rechts außen.
Demonstrativ suchte er den Schulterschluss zu Wissenschaftsleugnern, Impfgegnern und Verschwörungsgläubigen. Für die anderen Parteien wurde er zu einer Symbolfigur, zu einem Feindbild des neuen Rechtsextremismus.
So musste Kickl noch einen letzten Rückschlag erleben. Österreich ermöglichte einem Bundespräsidenten (Alexander Van der Bellen von den Grünen) die Wiederwahl, der diese mit einem Versprechen bestritt: Er werde Herbert Kickl nicht zum Bundeskanzler angeloben.
Nun sind wir im Jahr 2025 und alles ist anders. Sebastian Kurz wurde aus dem Amt gehoben. Ihm stehen noch Prozesse vor Gericht bevor. Die ÖVP ist daraufhin eine Regierung mit den Grünen eingegangen und hat einen vehementen Anti-Kickl-Wahlkampf gemacht – und verloren.
Der Wahlsieger heißt FPÖ. Und weil die Koalitionsverhandlungen der anderen Parteien gescheitert sind, bekommt Kickl nun die größtmögliche Genugtuung in zwei Etappen:
- Der Bundespräsident, der ihm keinen Regierungsauftrag gegeben hat und der versprochen hat, ihn nicht anzugeloben, erteilt ihm nun doch den Regierungsauftrag.
- Die Partei ÖVP, die wegen ihm Neuwahlen ausgerufen und geschworen hat, nicht mit ihm zu koalieren, muss nun demütig angekrochen kommen und eine Stelle als Juniorpartner erbetteln.
Der erfolgreiche Rechtsextreme: Kalt, Kalkuliert, Kickl
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern in der FPÖ ist über Kickl persönlich wenig bekannt. Er trägt sein Privatleben nicht so ostentativ nach außen wie viele andere Politiker. Er gilt als diszipliniert und strategisch. Wie so viele Anti-System-Politiker:innen ist er durch und durch Berufspolitiker und einer der längstdienenden Abgeordneten der Republik. Eine Karriere außerhalb der Politik sucht man vergeblich. Schon für Jörg Haider hat Kickl Reden geschrieben. Danach hatte er unter allen Parteichefs strategische Positionen inne.
Er ist also länger in der Politik als fast alle seine Kolleg:innen in den anderen Parteien. Kickl ist, für die FPÖ ungewöhnlich, kein schlagender Burschenschafter. Er umgibt sich aber mit ihnen. Sie bilden das akademische Rückgrat der Partei. Zu Kickls Vertrauten zählen Leute mit zahlreichen einschlägigen Skandalen, etwa dem Singen von SS-Liedern oder einer demonstrativen Nähe zur rechtsextremen Identitären Bewegung und deren Aushängeschild Martin Sellner.
Man kann Herbert Kickl aber auch selbst beim Wort nehmen. So hat er im Wahlkampf immer wieder davon gehöhnt, eine Liste mit 2.000 Namen vorbereitet zu haben. Die Menschen, die auf dieser »Fahndungsliste« stehen, werden dann schon sehen, was passiert, wenn er an die Macht kommt.
Eine kalte, gewaltvolle und höhnische Sprache ist das Markenzeichen von Kickl und erinnert dabei an historische Vorbilder. Immer wieder droht er politischen Gegner:innen Schläge und Prügel an, immer mit dem Glucksen eines Witzes, von dem alle wissen, dass es kein Witz ist. Dazu passt, dass er seine politischen Gegner:innen kollektiv als »Volksverräter« sieht. Auch dies hat ein historisches Vorbild, genauso wie die Selbstbezeichnung »Volkskanzler«. Der letzte Politiker, der sich so bezeichnete, war Adolf Hitler.
In Deutschland sorgte vor einem Jahr ein Treffen für einen Skandal, bei dem Politiker:innen der AfD zusammen mit Identitären und anderen Rechtsextremen über »Remigration« fantasiert haben. Der beschönigende Begriff bedeutet nichts anderes als massenweise Deportationen, auch von Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, die in den Augen der Rechtsextremen nicht integrierbar sind. In Österreich war zu diesem Zeitpunkt »Remigration« längst fixer Bestandteil des Vokabulars der FPÖ, ohne dass es öffentlich noch große Aufregung darum gab. Im Wahlprogramm ist es ebenso ein fester Begriff wie die Idee einer »Festung Europa« oder einer »Festung Österreich«. Da haben wir noch gar nicht über die Russlandaffinität, Finanzskandale und die Leugnung der Klima- oder Coronakrise geredet.
Die FPÖ ist längst dort, wo die AfD gerne wäre bzw. wo sie in 5–10 Jahren sein könnte.
Wie es so weit kommen konnte
Nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen gibt es allerlei Verletzungen und Schuldzuweisungen. Wenn man hinter die persönlichen Befindlichkeiten schaut, dann zeichnet sich folgendes Bild: Die Ausgangslage war denkbar schwer, denn die vorherige Regierung (ÖVP/Grüne) hatte ein riesiges Budgetloch hinterlassen, das nun gestopft werden muss. Die NEOS und die konservative ÖVP wollten dieses Loch vor allem auf der Ausgabenseite lösen. Dazu sollte etwa die gesetzliche Unfallversicherung aufgelöst werden, Pensionen und Gehälter gekürzt, das Pensionsalter angehoben und Massensteuern erhöht werden.
Die sozialdemokratische SPÖ wollte weitere einnahmenseitige Maßnahmen, die vor allem Vermögende betreffen sollten oder bei Banken und Energiekonzernen und deren Übergewinnen der letzten Jahre ansetzten. Die neoliberalen NEOS und der Wirtschaftsflügel der ÖVP konnten das nicht zulassen, also verließen sie nacheinander die Koalitionsverhandlungen.
Der Erfolg der FPÖ selbst liegt im Frust über steigende Lebenskosten, stagnierenden Wohlstand, absteigende Wirtschaft und einer sich schon länger andeutenden Krise des Nachkriegssystems begründet. Die FPÖ ist Ausdruck der Krise, die Ursachen liegen aber woanders. Das gilt auch für den Aufstieg aller Rechtsparteien. Die letzten 40 Jahre Neoliberalismus haben das Leben immer prekärer gemacht und Menschen in Dauerkonkurrenz gestellt. Die großen Profiteure dieser allgemeinen Unsicherheit und Erschöpfung sind die rechtsextremen Parteien. Sie sehen sich als Revolte gegen die Postmoderne.
Wie geht es weiter
Für Österreich brechen nun weitere 5 schwierige Jahre an.
Es ist schon jetzt klar, welche Bereiche es als Erstes und am schlimmsten treffen wird: Bildung, Gesundheit, Kultur, Soziales – jeder Einschnitt wird mit »Ausländern und Linken« begründet werden.
Für Europa ist Österreich ein weiteres Mosaiksteinchen einer autoritären Wende. Viktor Orbán, Wladimir Putin und Donald Trump bekommen nun einen loyalen Verbündeten. Selbstverständlich ist der Erfolg der FPÖ auch ein euphorisches Signal für alle weiteren anstehenden Wahlen, zum Beispiel die deutsche Bundestagswahl oder die Parlamentswahlen in Frankreich. Herbert Kickl ist dabei ein klügerer und disziplinierterer Akteur, als es Strache oder auch Haider waren.
Er könnte, wenn man ihn lässt, prägend für eine ganze Generation europäischer rechtsextremer Politiker:innen werden, die sich nicht mehr moderat und freundlich gibt, sondern sich im Gegenteil in einer Dauerradikalisierung befindet. Es gibt kein »zu viel«, kein Überdrehen. Genau dafür werden sie gewählt. Je gewaltvoller sie auftreten, desto mehr Zustimmung bekommen sie.
Es liegt an den demokratischen Parteien, nicht wie das Kaninchen vor der Schlange zu erstarren und sich nur gegenseitig zu versichern, wie furchtbar alles ist. Wenn diese Parteien ein Symptom sind, dann ist Symptombekämpfung zu wenig. Demokratische Parteien müssen einen positiven, einen optimistischen, einen glaubhaften und einen solidarischen Weg in eine Zukunft zeigen, die sich deutlich vom als unerträglich empfundenen Status quo abhebt. Das ist das beste Antidot gegen den autoritären Rechtsruck in Europa.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily