Streit bei Perspective Daily? Wie wir unsere Konflikte lösen wollen
Nach einem Workshop sind wir überzeugt: Diese Methode kann auch deinem Team helfen, besser zu kommunizieren.
Außenstehende könnten meinen, in unserer Redaktion ginge es stets harmonisch zu. Doch wie überall, wo Menschen aufeinandertreffen, gibt es auch bei uns Konflikte.
Eine Kollegin ärgert sich, weil ihre E-Mails regelmäßig verspätet beantwortet werden, während andere diskutieren, wann ein Anruf im Urlaub wirklich notwendig ist. Einer erinnert zum dritten Mal daran, den Kühlschrank im Münsteraner Büro ordentlich zu halten, und ein Teammitglied stört die Auswahl der Überschrift für den Artikel des Tages. Manchmal gibt es Meinungsverschiedenheiten über die Relevanz bestimmter Themen. Oder darüber, welchen Blickwinkel wir einnehmen sollten.
Das alles ist normal und wichtig. Denn Konflikte sind »wunderbare Entwicklungshelfer«,
Entscheidend ist nur, wie wir damit umgehen. Trotzig, gemein, vermeidend? Oder verständnisvoll und konstruktiv?
Oft gelingt uns Letzteres schon gut.
Können wir unser Team bei Streitereien irgendwie unterstützen? Diese Frage stellten sich meine Kollegin Maria und ich
Eines davon – das Modell eines weltweit bekannten Psychologen – erscheint uns für den PD-Alltag besonders hilfreich.
Was ist »Gewaltfreie« Kommunikation?
Vielleicht kennst du es schon: das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg.
Dabei handelt es sich um ein Kommunikationskonzept, das Menschen dabei unterstützt, in Konflikten wertschätzend zu bleiben und Lösungen zu finden, die allen Beteiligten zugutekommen.
Wer war Marshall Rosenberg?

Marshall Rosenberg wuchs als Sohn jüdischer Eltern in Detroit auf, wo er selbst Gewalt sah und Antisemitismus erfuhr. 1961 promovierte Rosenberg in Psychologie und entwickelte daraufhin das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation. Rosenberg bildete weltweit GFK-Multiplikator:innen aus und setzte sich für gewaltfreie Lösungen in Krisen- und Kriegsgebieten ein. Er verstarb am 7. Februar 2015.
Bildquelle: Claudia WieczorekDer US-amerikanische Psychologe Marshall Rosenberg entwickelte die GFK in den 1960er-Jahren mit dem Ziel, Gewalt zu reduzieren. Sein Verständnis von Gewalt ging über sichtbare, physische Formen hinaus und bezog auch subtile, strukturelle sowie sprachliche Formen der Gewalt ein.
Rosenbergs Gewaltbegriff
Neben sprachlicher Gewalt hielt Rosenberg physische Aggression wie Schläge, Angriffe oder Krieg für die offensichtlichste Form von Gewalt. Diese sei das Resultat von tieferliegenden Konflikten und unerfüllten Bedürfnissen, die durch aggressive Handlungen kompensiert werden sollten.
Rosenberg sprach auch von Gewalt gegen sich selbst, zum Beispiel in Form von Selbstkritik, Schuldgefühlen oder destruktiven Überzeugungen. Diese innere Gewalt entsteht häufig durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Erwartungen oder Urteile anderer.
Zudem betrachtete Rosenberg gesellschaftliche Ungleichheiten, Diskriminierung und Unterdrückung als Formen von Gewalt. Wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihrer sozialen Stellung benachteiligt werden, entsteht eine strukturelle Gewalt, die oft weniger sichtbar, aber nicht weniger schädlich ist.
Dabei hielt Rosenberg Gewalt nicht für eine unvermeidliche menschliche Eigenschaft, sondern für ein Signal, dass grundlegende menschliche Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Wenn sich Menschen nicht gehört, respektiert oder sicher fühlen, greifen sie manchmal zu gewaltsamen Mitteln, um diese Bedürfnisse durchzusetzen.
Eine zentrale Ursache von Gewalt war für Rosenberg die Entmenschlichung des Gegenübers. Wenn Menschen als »Gegner:innen« oder »Objekte« betrachtet werden, fällt es leichter, sie zu verletzen oder zu unterdrücken.
So beobachtete er, dass bereits unsere Alltagssprache ein gewisses Gewaltpotenzial birgt, dessen sich viele nicht bewusst sind. Wir neigen etwa dazu, andere zu bewerten, verurteilen, kritisieren oder beleidigen. Wir sagen »Du bist unzuverlässig!« oder »Nie hörst du mir zu!«, wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Solche Ausdrucksweisen erzeugen laut Rosenberg Trennung und verhindern einfühlsames Verstehen, was oft zu Eskalation und weiteren Konflikten führt.
Ändern wir die Art und Weise, wie wir sprechen – so Rosenbergs Hoffnung –, können wir tiefere Verbindungen eingehen und reduzieren Gewalt.
Das sind die 4 Schritte der GFK
Wie das geht, erklärt Rosenberg in 4 Schritten:
- Beobachtung. In diesem Schritt geht es darum, eine Handlung so konkret wie möglich zu benennen, ohne dabei zu interpretieren. Was siehst und hörst du, wenn du die Situation wie durch eine Videokamera beobachten würdest – ohne Bewertung, Interpretation und (Vor-)Urteile?
Als Beispiel: Maria stört, dass Lena regelmäßig nicht auf ihre Nachrichten antwortet. Statt Lena »Du bist unzuverlässig!« an den Kopf zu werfen, könnte Maria sagen: »Ich habe bemerkt, dass du in der letzten Woche auf 3 meiner Nachrichten nicht geantwortet hast.« - Gefühl. Nach der Beobachtung kommunizierst du, welches Gefühl die Handlung deines Gegenübers bei dir ausgelöst hat. Enge, Kloß im Hals, Hitze? Wie heißt dieses Gefühl?
Maria könnte sagen: »Ich bin frustriert!« oder »Ich bin wütend!«. Wichtig ist es hier, sogenannte Pseudogefühle zu vermeiden. Das wären Sätze wie: »Ich fühle mich respektlos behandelt.« Letzteres sagt nichts über Marias echtes, körperliches Empfinden aus und schreibt stattdessen Lena die Verantwortung für Marias Erleben zu. Die GFK geht aber davon aus, dass die Ursache für unsere Gefühle immer in uns selbst liegt. Die Handlung einer anderen Person ist nur der Auslöser. - Bedürfnis. Laut GFK sind unsere Gefühle Tankanzeigen für unsere Bedürfnisse.
Fühlt sich Maria frustriert, ist das ein Hinweis darauf, dass eines oder mehrere ihrer Bedürfnisse unerfüllt sind. In diesem Fall könnte es ihr Bedürfnis nach Verlässlichkeit sein. Maria könnte also sagen: »Mir ist Verlässlichkeit in unserem Team wichtig.« - Bitte. Zuletzt folgt die Bitte. Dabei handelt es sich um Vorschläge, wie deine Bedürfnisse und die deines Gegenübers erfüllt werden können.
Maria könnte sagen: »Können wir heute gemeinsam über mögliche Wege sprechen, wie wir effektiver kommunizieren können?« Wichtig ist, dass diese Bitte keine Forderung wird. Lena hat die Chance, Nein zu sagen und Alternativen vorzuschlagen. Ziel ist es, eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht wird.



Wirksam sind die 4 Schritte übrigens in beide Richtungen: Du kannst damit deine eigenen Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken, aber auch erfragen, was dein Gegenüber erlebt. Das könnte so klingen: »Bist du wütend, weil du dir Verlässlichkeit im Team wünschst?« Empathie für andere ist neben Selbstempathie eine der zentralen Säulen der GFK.
Die Umsetzung der Schritte ist nicht intuitiv. Das stellen Maria und ich fest,
»Wie alles im Leben ist auch Gewaltfreie Kommunikation Übungssache. Beobachtungen möglichst wertfrei zu formulieren, ist gar nicht so leicht. Ebenso die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Pseudogefühlen«, sagt Katharina, Redaktionsleiterin bei Perspective Daily.

Gewaltlosigkeit als Weltsicht statt als Werkzeug
GFK erfordert, dass wir aus gewohnten Verhaltensmustern aussteigen und bewusst wahrnehmen, was wir fühlen und brauchen. Redakteur Benjamin findet das im Alltag gar nicht leicht: »Das Leben plätschert oft vor sich her und ich weiß nicht, wie es mir geht oder was ich brauche.«
Manchen fehlt das Vokabular: Welche Gefühle und Bedürfnisse gibt es überhaupt? Beim Einstieg können
- Alles, was Menschen tun, tun sie, um Bedürfnisse zu erfüllen. Nicht weil sie egoistisch sind oder dir Böses wollen.
- Menschen tragen gern zum Wohle anderer bei, sofern sie es freiwillig tun können.
- Das Ziel: Eine Welt zu schaffen, die für alle funktioniert.
In diesem Video erklärt Marshall Rosenberg die Grundlagen der GFK. Dabei nutzt er Handpuppen – einen Wolf und eine Giraffe –, die jeweils die gewaltvolle bzw. gewaltfreie Sprache repräsentieren.
Wo GFK im Arbeitsalltag schwierig wird
Wir sind nicht die Ersten, die GFK am Arbeitsplatz ausprobieren. Die Firma Bosch zum Beispiel bietet Angestellten GFK-Einführungsseminare und Jahrestrainings,
Die Angebote kommen bei vielen Mitarbeiter:innen von Bosch gut an. Gleichzeitig gibt es Kritik an der GFK, auch in unserem Team. Besonders der Name »Gewaltfreie Kommunikation« stößt vielen auf. »Sprache wird damit unter Generalverdacht gestellt, aggressiv zu sein«, sagt beispielsweise unser Kollege Benjamin. Er schlägt stattdessen die Begriffe »vorsichtige« und »umsichtige Kommunikation« vor. Marshall Rosenberg selbst sprach oft von »einfühlsamer Kommunikation«, geläufig ist auch »bedürfnisorientierte Kommunikation«.
Für Einsteiger:innen wirken die 4 Schritte oft unnatürlich oder zu »therapeutisch«. Redakteurin Maryline findet, dass Beobachtungen wie »Ich habe festgestellt, dass du in den letzten 3 Wochen 6-mal krank warst« pedantisch und kontrollierend klingen können. Entscheidend ist dabei jedoch die innere Haltung: Wenn solche Aussagen mit der Absicht gemacht werden, Druck oder Kritik auszuüben, wirken sie tatsächlich überwachend. Bei der GFK geht es jedoch darum, Empathie und Authentizität zu verinnerlichen und auszudrücken. Mit dieser Intention klingen Beobachtungen ganz anders.
Das Ziel der Gewaltfreien Kommunikation ist nicht, Menschen und ihr Verhalten zu ändern, um unseren Willen durchzusetzen, sondern Beziehungen aufzubauen, die auf Ehrlichkeit und Empathie basieren, die schließlich die Bedürfnisse aller erfüllen.
Unser Gründer Han fragt sich, was geschieht, wenn Bedürfnisse von 2 Parteien nicht vereinbar sind. Etwa wenn eine Angestellte lange krank ist, der Chef aber aus ökonomischen Gründen darauf angewiesen ist, dass sie schnell zurückkehrt. Hier stehen sich Gesundheit und finanzielle Sicherheit scheinbar gegenüber. Laut GFK sind Bedürfnisse allerdings niemals widersprüchlich. Wer sie kennt, kann kreativ werden und neue Strategien finden, um beide zu erfüllen. Bei Hans Beispiel sind wir uns allerdings unsicher: Stößt GFK bei vertraglichen Abmachungen an ihre Grenzen?


Katharina findet es grundsätzlich gut, »achtsam zu kommunizieren, vor allem, wenn es um spannungsgeladene Situationen oder Interaktionen geht, die das Potenzial für Verletzungen oder größere Konflikte bergen«. Man müsse sich aber »nicht in allen Lebens- und Gesprächssituationen verbal derart einhegen«.
Ich selbst bin unsicher, ob GFK in einem Machtgefälle funktionieren kann. Können junge Angestellte in einem traditionell-hierarchischen Unternehmen mit ihren Vorgesetzten über Gefühle sprechen? Schwer vorstellbar.
Müssen wir die GFK »dekolonisieren«?
Eine weitere zentrale Kritik: GFK basiert auf westlichen Konzepten von Individualität, Selbstreflexion und Eigenverantwortung, die nicht in allen Kulturen gleichermaßen zugänglich oder sinnvoll sind.
Ein Beispiel: GFK verlangt von uns, dass wir unsere Gefühle und Bedürfnisse klar erkennen und artikulieren. Nicht alle Kulturen legen jedoch in gleicher Weise Wert darauf. In vielen nichtwestlichen Kontexten werden Emotionen eher implizit oder durch Handlungen ausgedrückt.
Zudem betont GFK individuelle Erfahrungen, was westlichen Idealen von Autonomie und Selbstausdruck entspricht. In Kulturen, in denen das Wohlergehen der Gemeinschaft oder die gemeinsame Verantwortung Vorrang haben, könnte die Konzentration auf die eigenen Bedürfnisse unangemessen oder sogar egoistisch erscheinen.
GFK geht auch davon aus, dass Individuen für ihre Gefühle und Bedürfnisse verantwortlich sind. Dabei spiegelt sie strukturelle Ungerechtigkeiten nicht ganz wider. Für marginalisierte Gruppen kann sich dieser Fokus abwertend gegenüber historischen und kollektiven Traumata anfühlen, denen sie ausgesetzt sind.
Die somatische Heilpraktikerin Meenadchi, die nur ihren Vornamen verwendet, hat daher ein Konzept entwickelt, das die Grundstrukturen der GFK beibehält, diese aber »entkolonialisiert«. So schlägt sie vor, verschiedene Arten des emotionalen Ausdrucks zu würdigen, darunter das Geschichtenerzählen, Körpersprache und Schweigen. Zudem legt sie Wert darauf, die Beziehungs- und Gemeinschaftsdynamik statt nur individuelle Wünsche in den Mittelpunkt zu stellen. Und sie fordert, systemische Unterdrückung anzusprechen, statt Probleme als individuelles Versagen zu isolieren.
In dieser Folge des Podcasts How to Train a Happy Mind (englisch) spricht Meenadchi darüber, wie sich Gewaltfreie Kommunikation verändern müsste.
»So ist eine Diskussion auf Augenhöhe möglich«
Trotz Kritik lohnt es sich, GFK auszuprobieren. Sie lehrt, wie man sich darüber bewusst wird, was man wirklich will, und bietet konkrete Werkzeuge, um Konflikte konstruktiv anzugehen. Sie schafft Raum für offene Gespräche, bei denen sich beide Seiten gehört und respektiert fühlen.
Sicher braucht GFK Übung. 2 Stunden Workshop reichen nicht aus. Ich habe mehrere Fortbildungen gemacht und ertappe mich immer wieder dabei, zu urteilen. Vor allem wenn ich wütend bin.
»Die meisten von uns sind mit einer Sprache aufgewachsen, die uns ermutigt, zu benennen, zu vergleichen, zu fordern und Urteile zu fällen, statt uns bewusst zu sein, was wir fühlen und brauchen«, sagt Marshall Rosenberg. Anders zu sprechen, ist ungewohnt. Mit zunehmender Übung werden die Prinzipien aber intuitiver, und es fällt leichter, Konflikte auf eine neue Weise zu betrachten und zu lösen.
Unsere Kollegin Maryline tut das bereits und findet, es lohnt sich:
Ich-Botschaften funktionieren super. Sie helfen mir, zu erkennen, was mich wirklich stört und was ich fühle. Und mein Gegenüber fühlt sich nicht sofort angegriffen, geht nicht in Abwehrhaltung. So ist eine Diskussion auf Augenhöhe möglich.
Eines wissen wir sicher: Mit den Grundannahmen der GFK stimmt Perspective Daily überein, selbst wenn es bei der Umsetzung der Schritte noch hapert. Denn auch unser Ziel ist eine Welt, die für alle funktioniert.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily