Der Fall der Brandmauer – was du jetzt wissen musst
Friedrich Merz hat es getan. Ein historischer Tabubruch? Wir geben dir in diesen FAQ alle Informationen: Was genau passierte, wie es dazu kam und wie es jetzt weitergeht.
Der Kanzlerkandidat der Union Friedrich Merz hat zum ersten Mal bei einer Abstimmung auf die Unterstützung der AfD gebaut –
Damit wird der 29. Januar 2025 wahrscheinlich in deutsche Geschichtsbücher eingehen. Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass in Deutschland Konservative mit dem politischen Arm des Rechtsextremismus im Bundestag gemeinsame Sache machen.
Und das »sehenden Auges«, wie auch Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) öffentlich kritisiert.
Wie konnte das passieren? Und worum ging es eigentlich?
Wir wollen dir in diesen FAQ alle Informationen geben, die Situation richtig einzuordnen.
1. Was ist die Vorgeschichte?
In den vergangenen 6 Monaten kam es zu 3 schwerwiegenden Angriffen auf unschuldige Menschen, die für öffentliche Trauer und Empörung sorgten.
23. August 2024, Solinger Stadtfest
20. Dezember 2024, Magdeburger Weihnachtsmarkt
Am 20.12.2024 fuhr ein 50-jähriger Saudi mit einem Auto über einen Weihnachtsmarkt, tötete 6 Menschen und verletzte über 300. Er war seit 2006 in Deutschland, arbeitete als Psychiater und fiel über 100-mal polizeilich auf.
22. Januar 2025, Aschaffenburger Innenstadtpark
Am 22.01.2025 griff in Aschaffenburg ein 28-jähriger Afghane eine Kindergartengruppe an.
Vor diesem Hintergrund trat der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz am 23.01.2025 nach Abstimmung mit CSU-Chef Markus Söder vor die Presse und forderte rigorose Maßnahmen in Sachen Migrationspolitik. Der Kern:
Neu war daran vor allem die rhetorische Schärfe, mit der Merz seither auftritt. Sicher nicht ohne Grund: Zuvor war ihm vermehrt »Schlafwagenwahlkampf« vorgeworfen worden. Vor allem diese Sätze ließen aufhorchen:
Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich sage nur: Ich gehe keinen anderen. Kompromisse sind zu diesen Themen nicht mehr möglich.
Dieser Satz lässt sich als indirekte Einladung an die AfD lesen. Zwar betonte Merz vor der Abstimmung noch, dass die CDU »keinem einzigen AFD-Antrag « zustimmen würde, sagte aber weiter: »Wer diesen Anträgen [dem 5-Punkte Plan] zustimmen will, der soll zustimmen. Und wer sie ablehnt, der soll sie ablehnen. Ich gucke nicht rechts und nicht links. Ich gucke in diesen Fragen nur geradeaus.«

2. Was sieht der 5-Punkte-Plan der CDU genau vor?
Bei dem von der CDU/CSU-Fraktion in den Bundestag eingebrachten Antrag handelt es sich nicht um einen konkreten Gesetzentwurf, sondern um einen sogenannten »Entschließungsantrag«, der eine politische Forderung zum Ausdruck bringt, aber rechtlich nicht bindend ist.
- Dauerhafte Grenzkontrollen an deutschen Grenzen
- Sofortige Zurückweisung von Personen ohne gültige Einreisepapiere
- Inhaftierung ausreisepflichtiger Personen
- Tägliche Abschiebungen, um die Ausreisepflicht durchzusetzen
- Verschärfung des Aufenthaltsrechts für straffällige Ausländer:innen
Ob und wie diese Maßnahmen praktisch überhaupt umsetzbar wären, inwiefern sie einer rechtlichen Prüfung standhalten würden und welche Auswirkungen sich die Fraktionen von CDU und CSU genau versprechen, lässt das 2-seitige Papier offen.
3. Die Abstimmung: Wer war dafür, wer dagegen?
Der Antrag wurde mit einer knappen Mehrheit von 348 zu 344 Stimmen angenommen, bei 10 Enthaltungen und 31 nicht abgegebenen Stimmen.
Ein weiterer Antrag der Union zur inneren Sicherheit, der umfassende Reformvorschläge für eine restriktivere Migrationspolitik und zusätzliche Befugnisse für Sicherheitsbehörden enthielt (etwa zu Gesichtserkennung und Vorratsdatenspeicherung), fand keine Mehrheit. Hier stimmten 190 Abgeordnete dafür, 509 dagegen, 3 enthielten sich.

4. Wie realistisch ist Merz’ »5-Punkte-Plan«?
Da es sich bei der Abstimmung lediglich um einen Entschließungsantrag handelt, sind aktuell keine unmittelbaren Folgen in Form von Gesetzen zu erwarten.
Das kann sich nach der Bundestagswahl Ende Februar schnell ändern. Doch selbst unter einem Kanzler Merz gibt es einige Hürden, die eine Umsetzung erschweren würden.
- Der Plan widerspricht EU-Recht: Der
- Rechtliche Hürden: Zudem ist es illegal, Menschen direkt an der Grenze abzuweisen. Stattdessen sind Asylsuchende laut geltendem Recht (der Dublin-III-Verordnung) dem Land zu überstellen, in dem sie in der EU angekommen sind, um dort ein geregeltes Verfahren zu durchlaufen. Da dieses System bereits seit vielen Jahren nicht richtig funktioniert, will sich die Union auf einen Paragrafen berufen, der für Notlagen vorgesehen ist, etwa für den Fall, dass die öffentliche Ordnung in Gefahr ist. Die rechtlichen Hürden hierfür sind jedoch hoch und der Europäische Gerichtshof hat bisher alle Versuche anderer Länder abgelehnt, die sich auf diesen Paragrafen beziehen wollten.
Ungeachtet dessen hat Friedrich Merz bereits angekündigt, sich im Zweifel einfach über geltendes Recht hinwegsetzen zu wollen, auch wenn dies eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zur Folge haben könnte. Juristische Folgen, finanzielle Folgen und ein politischer Schaden für die Bundesrepublik innerhalb der EU wären in diesem Fall nur schwer abzuschätzen.
Hinzu kommen ganz praktische Probleme, auf die bereits Ex-Kanzlerin Angela Merkel 2015 aufmerksam gemacht hat:
Deutschland hat 3.000 Kilometer Landgrenze, dann müssten wir um diese 3.000 Kilometer einen Zaun bauen. Wir können die Grenzen nicht schließen. Wenn man einen Zaun baut, werden sich die Menschen andere Wege suchen.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht das ähnlich.

5. Warum ist die Aufregung trotzdem so groß?
Der viel diskutierte Tabubruch liegt nicht nur darin, dass ein deutscher Kanzlerkandidat die Absicht erklärt, EU-Recht zu brechen – sondern vor allem im Umgang mit der AfD. Noch im November 2024 hatte Friedrich Merz in einer Rede vorgeschlagen, man solle im Bundestag keine Anträge durchbringen, wenn dies nur mit Stimmen der AfD möglich sei:
[Wir sollten] vereinbaren, dass […] weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt. […] Denn das hätten diese Damen und Herren von rechts außen doch gerne, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen.
Genau das ist die in diesen Tagen vielzitierte »Brandmauer«. Nur 3 Tage vor dem Tabubruch beschwor der ehemalige NRW-Ministerpräsident (CDU) Armin Laschet sie in einem Post auf Twitter/X:
Mit der AfD gibt es keine Kommunikation, keine Kooperation, keine Koordination und erst recht keine Koalition.
Diese Brandmauer ist eine Abwehrmaßnahme
Die entscheidende Frage ist, ob bei der Abstimmung am Mittwoch die Brandmauer gefallen ist. Dass die AfD für den Antrag stimmen würde, hat sie im Vorfeld kommuniziert. Und wenn die Unionsfraktionen mit Stimmen der AfD rechnen, um Politik zu machen, lässt sich das auch Kooperation nennen. Genau dies streitet ein Teil der CDU jetzt ab. Es kommt eben darauf an, wie man »Kommunikation« und »Kooperation« definiert. Das kann am Ende zu Wortklaubereien führen, die nur der AfD dienen.
Was viele Expert:innen und Beobachter:innen nun befürchten, ist eben, dass dieser Tabubruch zur Normalisierung des Rechtsextremismus und seinem politischen Arm in Deutschland beiträgt. Das Abstimmungsergebnis verschiebt das, was wir als politisch normal ansehen, weiter nach rechts außen.
Eine in Teilen rechtsextreme Regierung würde fundamental dem Grundsatz des »Nie wieder« widersprechen, auf dem die Bundesrepublik seit 1945, also nach dem Schrecken der NS-Herrschaft errichtet wurde. Genau das meint Merkel, wenn sie von »staatspolitischer Verantwortung« in Deutschland spricht.
Am Erscheinungstag dieses Artikels, dem 31.01.2025, wird im Bundestag ab 10:30 Uhr ein konkreter Gesetzentwurf abgestimmt, mit dem sich der Tabubruch unmittelbar wiederholen könnte. Das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz wurde bereits im November 2024 von der Union in den Innenausschuss eingebracht und wäre im Vergleich zum Entschließungsantrag rechtlich bindend. Es sieht unter anderem vor, den Familiennachzug für Schutzsuchende mit eingeschränktem Status zu stoppen und der Bundespolizei mehr Befugnisse zur Abschiebung ausreisepflichtiger Personen zu geben.
Update vom 01.02.2025: Der Bundestag hat das von der Union vorgeschlagene Gesetz nach langer Debatte knapp abgelehnt – 338 Abgeordnete stimmten dafür, 349 dagegen, fünf enthielten sich.

6. Selbst wenn der 5-Punkte-Plan entgegen geltendem Recht durchgebracht würde: Würde er überhaupt etwas bringen?
Das Ziel von Merz’ 5-Punkte-Plan ist klar:
Tatsächlich ist eine Gleichsetzung von »weniger Migration« und »mehr Sicherheit« an sich problematisch. Zum einen stellt es Menschen unter Generalverdacht, die weder kriminell sind noch eine Gefährdung darstellen. »Die Mehrzahl der in Deutschland aufhältigen Zuwanderer/Zuwanderinnen trat nicht im Zusammenhang mit einer Straftat in Erscheinung«,
Außerdem simplifiziert die Annahme, kontrollierte Migration erhöhe die Sicherheit, den komplexen Zusammenhang zwischen beidem. Ein Beispiel: Zwar ist es für Sicherheitsbehörden schwerer, potenzielle Straftäter:innen oder Gefährder:innen zu identifizieren, wenn Menschen ohne Registrierung einreisen. Gleichzeitig können Grenzkontrollen dazu führen, dass mehr Menschen auf illegale Wege und damit auf Schleusernetzwerke angewiesen sind.
Durch die Verweigerung legaler Einreisemöglichkeiten könnten Migrant:innen zudem in illegale Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden, was die Integration erschwert und soziale Strukturen untergräbt.
Ob Merz’ Vorschläge Migration eindämmen können, ist ebenfalls fraglich. Wenn Menschen befürchten, dass sie in Zukunft keine Möglichkeit mehr haben, legal oder illegal in ein bestimmtes Land einzureisen, kann dies zu Torschlusspanik führen,

7. Was würde wirklich helfen, um Gewalttaten und Anschläge zu verhindern?
Selbst wenn der 5-Punkte-Plan irgendwann in Gesetzesform gegossen wird, gibt es schlichtweg keine Garantie dafür, dass wir in Deutschland nicht wieder Gewalt von Migrant:innen oder Asylsuchenden erleben. Wer dies wirklich verhindern will, braucht komplexere Lösungsansätze als Abgrenzen und Abschieben. 2 davon, die in der aktuellen Debatte viel zu kurz kommen, wollen wir hier kurz vorstellen:
Bessere psychologische Betreuung
Viele Migrant:innen, insbesondere aus Kriegsgebieten oder Ländern mit repressiven Regimen, haben traumatische Erlebnisse hinter sich. Die
Eine Therapie zu bekommen, ist aber schwer. Zum einen verhindern gesetzliche Vorgaben, dass Asylbewerber:innen sie überhaupt in Anspruch nehmen dürfen.
Sind die 36 Monate um, wird es nicht leichter. Es mangelt an Therapieplätzen, Sprachmittlungen und Sensibilisierung unter Therapeut:innen, etwa zum Thema Rassismus oder posttraumatischen Belastungsstörungen von Kriegsgeflüchteten. Psychosoziale Zentren für Geflüchtete sind teils unterfinanziert und überlastet.
Radikalisierung bekämpfen
Insbesondere die Attentate von Mannheim und Solingen werfen Fragen über Radikalisierungsprävention auf. Was bewegt Menschen dazu, sich extremistischen Bewegungen anzuschließen und Gewalt anzuwenden? Wie können wir das verhindern? Islamforscher Yunus Yaldiz, der sich vor allem mit islamischer Radikalisierung befasst, erklärt, wie diese verläuft:
Meistens geht es um die Suche nach dem Sinn im eigenen Leben, um gefühlte Isolation und Einsamkeit und um fehlende Selbstwirksamkeit. Teils kommen Erfahrungen mit Rassismus und Stigmatisierung hinzu. Und dann ist die Frage: Wer fängt diese Gefühle auf? Wo fühlt sich die Person gesehen? Hier ist das Einfallstor für Radikalisierung.
- Repression: Mit Repression sind Maßnahmen gemeint, die den Handlungsspielraum von Extremist:innen einschränken sollen. Zum Beispiel Deradikalisierungsprogramme in Gefängnissen.
- Intervention verfolgt das Ziel,
- Prävention umfasst alles, was den Einstieg ins radikale Milieu verhindert. Dazu gehören interreligiöser Dialog, Sozialarbeit und Aufklärung über jede Form von Extremismus.
In Deutschland gibt es zahlreiche solcher Projekte, eine strukturelle Finanzierung fehlt jedoch, sagt Yaldiz. Daher müssen Projekte immer wieder neue Mittel beantragen – was Zeit und Mühe kostet. Diese Schwäche sollte eigentlich mit dem
Wenn es den Politiker:innen wirklich darum ginge, dass weniger solcher Taten wie in Mannheim geschehen, müssten sie Präventionsprojekte und Schulen gut ausstatten, sie müssten die strukturelle Finanzierung sichern, sie müssten gegen Rassismus auf dem Arbeitsmarkt vorgehen. Das wären Maßnahmen, die wirklich auf das Problem abzielen würden.
Die langfristige Perspektive: Migrationspolitik gestalten statt inhumaner Abschottung
Klar ist: Zu beschönigen und die Augen vor den Problemen zu verschließen, hilft der Migrationsdebatte auch nicht weiter. Doch es ist offensichtlich, dass das Modell »Festung Europa«, das auf Abschottung statt auf nachhaltige Lösungen setzt, gescheitert ist. Es konnte nicht verhindern, dass Hunderttausende Menschen auf lebensgefährlichen Routen fliehen und Jahr für Jahr Tausende allein auf dem Weg über das Mittelmeer ihr Leben verlieren.
Zudem untergräbt die harte Abschottungspolitik Menschenrechte und Solidarität – und ignoriert dabei einen viel zu wenig beachteten Fakt: Der ungebremste Klimawandel wird den Lebensraum von Milliarden Menschen sehr wahrscheinlich unbewohnbar machen. Diese Menschen werden fliehen müssen. Der Versuch einer effizienten Abschottung wird daran nichts ändern.
Wenn Deutschland und Europa die Menschenwürde wirklich ernst nehmen, brauchen wir nicht nur mehr Klimaschutz und die Bekämpfung von Fluchtursachen – sondern auch eine weitsichtige Asylpolitik.
Maria Stich zeigt hier, warum wir künftig mit deutlich mehr Menschen rechnen müssen, die hier Schutz suchen möchten.
Die Fluchtforscherin Judith Kohlenberger geht sogar davon aus, dass die Politik der Abschottung widersprüchlich ist und illegale Einwanderung sogar weiter ansteigen lässt:
Die meisten Länder Europas haben einen steigenden Arbeitskräftemangel. Es gibt genug Personen, zum Beispiel aus Indien, Tunesien oder Marokko, die diese freien Stellen gerne füllen würden. Doch weil wir diesen Wirtschaftsmigrant:innen praktisch keine legalen Einreisemöglichkeiten durch temporäre Arbeitsvisa bieten, weichen sie immer wieder auf die Asylschiene aus. Mehr Grenzschutz kann also paradoxerweise zu mehr illegalen Grenzübergängen und Asylanträgen führen.
Dieser Effekt ist nur eines von 3 Paradoxa, die unsere Sicht auf Flucht und Integration vernebeln. Im Interview mit Julia Tappeiner spricht die Fluchtforscherin über das große Ganze:
Wie eine moderne Migrationspolitik beispielhaft aussehen könnte, hat unser Autor Peter Dörrie bereits im Jahr 2018 aufgeschrieben:
Redaktion: Lena Bäunker, Chris Vielhaus und Dirk Walbrühl
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily