»Hier gehört es sich nicht, gegen Geflüchtete zu sein«
Die Gemeinde Thedinghausen lebt seit Jahren eine gelungene Willkommenskultur. Ist sie jetzt in Gefahr?
Um kurz nach 3 kommen die Kinder. Da ist ein kleiner Junge aus der Ukraine mit seiner Mutter, der sofort in der Spielecke verschwindet. 3 Brüder aus Eritrea setzen sich an den Holztisch mitten im Raum, wo eine ehrenamtliche Helferin auf sie wartet. Vor ihr liegt ein Memory-Spiel ausgebreitet. »Was ist das?«, fragt sie und zeigt auf eine der Karten. Der jüngste Bruder überlegt nur kurz. »Das Eis!«, ruft er.
Jede Woche kommen die Jungs hierher, ins Haus auf der Wurth, um ihre Hausaufgaben zu machen oder Deutsch zu üben. An manchen Tagen sind noch mehr Kinder dabei, aus Afghanistan, Syrien oder
Das
»Wir wollten Begegnungsräume schaffen, die ein friedliches Zusammenleben aller Nationen in Thedinghausen fördern«, erklärt Petra Hille-Dallmeyer. Die Grafik-Designerin,
Das Perspective-Daily-Couchsurfing
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Gesundheit, Rechtsruck, Wirtschaft? Wir haben gefragt, welche Probleme dich an deinem Wohnort betreffen – und welche Lösungen du dafür gefunden hast. Uns haben viele spannende Einsendungen erreicht. Also haben wir uns auf die Reise durch die Perspective-Daily-Republik gemacht und auch mal auf euren Couchen übernachtet. In unserer Reihe liest du von diesen Begegnungen.
Bildquelle: Perspective DailyIch bin hier, um mit Petra und ihren Mitstreiter:innen über ihr Engagement zu sprechen. Nächste Woche wählt Deutschland eine neue Regierung und die Debatte über Migrations- und Asylpolitik überschlägt sich. Zwischen bürokratischen Forderungen und rassistischen Parolen ist kaum Raum für Empathie – weder für Menschen, die Migration erleben, noch solche, die sie unterstützen. Ich frage mich: Wie setzt sich »Welcome Thedinghausen« für ein inklusives Miteinander ein? Welche Sorgen treibt das Team um? Was erhofft es sich von einer neuen Regierung?
Wie das Kultur- und Begegnungszentrum auf dem Land entstand
Alles begann im November 2014 mit einem Treffen im Jugendzentrum, erinnert sich Petra. Gerade war bekannt geworden, dass geflüchtete Menschen nach Thedinghausen kommen sollten – die ersten von rund 400, die 2015/2016 folgten.
Mehr als 50 Freiwillige versammelten sich, darunter
Aus dem ersten Treffen entwickelte sich die Initiative »Ankommen in Thedinghausen« mit verschiedenen Arbeitsgruppen. Jugendliche reparierten alte Fahrräder und stellten sie Geflüchteten zur Verfügung, eine Gartengruppe gestaltete 2 Flächen neben den Unterkünften neu. Freiwillige organisierten Willkommensfeste und Kochabende, gaben Sprachunterricht oder vermittelten rechtliche Beratung. Andere begleiteten Familien zu Ämtern und Ärzt:innen, halfen bei der Kontoeröffnung oder unterstützten bei der Wohnraumsuche. Einmal pro Woche trafen sich Vertreter:innen des »Empfangskommittees«, wie Petra die ersten Helfer:innen nennt, im Rathaus zur Lagebesprechung – gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister und der Polizei.
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Besonders gern erinnert sie sich an ein Fest in der Schulaula im Dezember 2016. Damals waren gerade
Nach 2 Jahren intensiver Erstbegleitung stellte sich dann immer öfter die Frage: Wie können Geflüchtete hier nicht nur ankommen, sondern sich auch zu Hause fühlen? Wie kann das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten im Ort gefördert werden? So entstand die Idee für ein Begegnungszentrum, in dem alte wie neue Thedinghausener:innen langfristig zusammenkommen konnten. Viele Jahre, Überlegungen und Förderanträge später
»Welcome Thedinghausen«
»Welcome Thedinghausen« ist ein 2022 gegründetes Kultur- und Begegnungszentrum in der Samtgemeinde Thedinghausen. Das Ziel: die gegenseitige Akzeptanz und das Zusammenleben im Ort zu fördern. Finanziert wird das Zentrum durch Förderungen der LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen e.V. und der Diakonie sowie durch Kommunalgelder. Es beschäftigt 2 Projektleiter:innen in Teilzeit – unterstützt von rund 65 engagierten Freiwilligen. Offizieller Träger der Initiative ist die Kirchengemeinde, die als formelle Antragstellerin der Fördergelder vor allem für die Personalverwaltung zuständig ist.
Rund 65 Freiwillige und 2 hauptamtliche Projektleiter:innen organisieren nun jeden Tag Programm, das nicht nur Geflüchteten helfen, sondern das Gemeinwesen fördern soll: montags Hausaufgabenhilfe und Mal-Treff, dienstags Frühstück für Frauen und Fitnesskurse, donnerstags Deutschunterricht für Erwachsene, freitags Kneipenquiz. Dazu kommen Repaircafés, gemeinsames Gärtnern, Lesezirkel und Theateraufführungen.
Kommunen sind auf Ehrenamtliche angewiesen, da die Politik strukturelle Probleme ignoriert
Petra schätzt, dass heute noch rund 150 Menschen mit Fluchterfahrung in Thedinghausen leben. Noor Muhammad Wakili ist einer von ihnen. 2016 zog er mit seiner Frau und 2 Kindern in den Ort. Die Freiwilligen von »Welcome Thedinghausen« halfen der afghanischen Familie bei der Wohnungs- und Jobsuche, dem Asylantrag, der Arbeitsgenehmigung und dem Deutschlernen. »Die Leute hier haben uns gerettet«, sagt Wakili. Besonders stolz ist er darauf, dass seine Kinder nun das Gymnasium besuchen. Das sei ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen nicht möglich gewesen. Wakili gefällt das Leben im Dorf: »Hier haben wir ein Haus mit Garten, die Kinder gehen zur Schule, wir kennen ihre Freunde und Lehrer. Solange ich in Deutschland bleibe, gehe ich hier nicht weg.«
Ohne das Engagement von Petra und ihren Mitstreiter:innen hätte der Start für die Familie Wakili und viele andere wohl ganz anders ausgesehen.
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»Um 2015 brannte im Rathaus die Hütte«, erinnert sich Dieter Mensen, stellvertretender Bürgermeister der
»Damals kamen so viele Leute an, darauf war in der Verwaltung niemand vorbereitet«, sagt Mensen. »Das Ehrenamt war essenziell dafür, dass es so gut gelungen ist.«
Ähnlich geht es vielen anderen Orten in Deutschland. Das zeigt eine Umfrage unter 600 Kommunen, durchgeführt vom
»Diese Missstände sind das Ergebnis jahrelanger politischer Nachlässigkeit«,
Ehrenamt müsse demnach »gewürdigt und geschützt werden«, schreiben die Autor:innen der DESI-Studie. Mangelnde hauptamtliche Strukturen könne es allerdings nicht auf Dauer ersetzen.
Das zeigt sich auch in Thedinghausen. Viele Ehrenamtliche engagieren sich neben Beruf, Familie und anderen Verpflichtungen. 2024 leisteten sie rund 2.200 Stunden – mehr als eine Vollzeitstelle. In besonders intensiven Phasen waren einige so stark in die Schicksale der Neuankömmlinge eingebunden, dass sie an ihre Belastungsgrenzen kamen. Um dem entgegenzuwirken, lud das Team eine Psychologin ein, die Tipps gab, wie man eine Balance zwischen Nähe und Distanz wahrt.
Langfristige Abhilfe verschafften schließlich Hauptamtliche. Dank einer Förderung der
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»Ehrenamt braucht Hauptamt«, sagt Petra mit Blick auf die Bundestagswahl. Sie wünscht sich, dass mehr Stellen für die Gemeinwesenarbeit eingerichtet und langfristig finanziert werden. »Ohne das liefe auch hier fast nichts mehr.«
Anfangs war die Unterstützung groß, heute macht der Rechtsruck auch vor Thedinghausen nicht halt
Über Ehrenamt, Gemeinwesen oder Strukturprobleme spricht im Wahlkampf allerdings kaum jemand. Stattdessen gibt es ein Thema:
Wie weit fortgeschritten diese Entwicklung bereits ist, zeigte im Herbst 2024 ein Vorfall auf dem Erntefest.
Vor 10 Jahren sei so etwas nicht geschehen, sagt Petra: »Sicher gab es auch damals Leute, denen die Ankunft der Geflüchteten nicht gefiel. Aber die haben sich nicht getraut, was zu sagen. Die Grundstimmung war so: In Thedinghausen gehört es sich nicht, gegen Geflüchtete zu sein.«
Dieter Mensen zufolge gelang es den Freiwilligen damals, die öffentliche Meinung so positiv zu gestalten, dass fremdenfeindliche Gruppen keinen Anknüpfungspunkt fanden und keinen Einfluss auf die Debatte im Ort nehmen konnten. Wie sie das geschafft haben?
Dadurch, dass wir in der Öffentlichkeit sichtbar waren und bekannt war, dass eine große, engagierte Gruppe hinter der Unterstützung stand, konnten wir viel bewirken. Diese Gruppe war zudem politisch breit aufgestellt, was ihre Akzeptanz in der Gesellschaft stärkte. Die Lagebesprechungen im Rathaus spielten ebenfalls eine wichtige Rolle – dort waren wir als Initiative offiziell vertreten. So wurden wir nicht als Randgruppe oder politische Außenseiter wahrgenommen, sondern als ernst zu nehmender Teil der Gemeinschaft.
2018 erklärte sich der Samtgemeinderat auf Antrag der Geflüchteten-Initiative sogar einstimmig bereit, freiwillig
Doch der Landkreis Verden, in dem Thedinghausen liegt, nahm das Angebot nie an. Ein Sprecher begründete dies mit festen Quoten, die Bund und Länder für die Verteilung von Geflüchteten vorgeben. Petra sieht die Verantwortung beim damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer. Er blockierte die Aufnahmebereitschaft von Städten und Kommunen wie Thedinghausen mit der Begründung, dass über die Aufnahme von Geflüchteten nicht lokale Initiativen, sondern demokratisch gewählte Regierungen entscheiden sollten.
Symbolisch wertvoll war die Erklärung laut Petra trotzdem: »Damit haben wir bestätigt, dass wir ein Ort sind, der für Geflüchtete offen ist. Und viele Thedinghausener:innen waren stolz darauf.«
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7 Jahre später fürchtet sie, dass sich das ändert.
Von demokratischen Parteien wünscht sich Petra daher, dass sie der »Verschiebung nach rechts« etwas entgegensetzen und langfristige, konstruktive Perspektiven auf Migration entwickeln. »Abschottung kann auf Dauer nicht funktionieren, wenn um uns herum die Welt brennt«, sagt sie. Außerdem sollten die Chancen, die Migration mit sich bringe, stärker betont werden: »Wenn man bedenkt, wer hier die herausfordernden Arbeiten übernimmt – ob in der Pflege, der Reinigung, der Müllabfuhr oder der Landwirtschaft –, dann wird klar, dass vieles ohne Zuwanderung gar nicht funktionieren würde.«
Dass Zuwanderung den Fachkräftemangel bekämpfen kann, bestätigt auch ein Sprecher des Landkreises Verden:
Derzeit befinde sich die Demokratie allerdings in der Defensive, sagt Petra. Sie glaube nicht, dass die Parteien ihren Kurs noch änderten. Zugleich habe sie Grund zur Hoffnung: eine Initiative, getragen von jungen Menschen im Ort, setze sich aktiv gegen Rechtsextremismus ein.
Eine Demokratie-Initiative weckt Hoffnung
Weitere Aktionen sind: eine Theatervorstellung
Petra stimmt die Initiative hoffnungsvoll: »Nachdem inzwischen vor allem wir Alten die ehrenamtliche Arbeit bei Welcome tragen, ist es schön zu sehen, dass eine jüngere Generation sich erhebt.« Zu den ersten Treffen kamen rund 50 Personen, etwa so viele wie damals, als die ersten Geflüchteten nach Thedinghausen kamen. Nun ist ihr Einsatz gefordert.
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Titelbild: Jens Lehmkühler / Collage - copyright