Gehört die Zukunft den Separatisten?
Am Tag der Deutschen Einheit feiern wir morgen ein grenzenloses Deutschland. Der Fall Katalonien zeigt: Für andere könnten mehr Grenzen auch eine Lösung sein.
In Spanien haben sich gestern Szenen abgespielt, die einer Demokratie unwürdig sind: Bürger wollten ihre Stimme abgeben und wurden von Polizisten teilweise rabiat daran gehindert. Das harte Durchgreifen der spanischen Regierung gegen die friedliche Unabhängigkeitsbewegung der Katalanen zeigt, dass Separatisten keinen guten Ruf haben. Sie spalten, fordern Regierungen und etablierte Ordnungen in ihren Ländern heraus, provozieren Chaos oder sogar Gewalt. Sind Separatisten nicht verantwortlich für den
Abgesehen davon bringen
Keine Frage: Separatismus ist unbequem und stellt alle Beteiligten nicht nur vor viele praktische Herausforderungen, sondern auch vor Grundsatzfragen: Wer hat das Recht, Grenzen infrage zu stellen und einen Staat zu gründen? Für wen gilt das
Theoretisch könnte man es allerdings auch so sehen: Separatistische Bewegungen spiegeln die Bemühungen einer größeren Anzahl von Menschen, einen entschieden politischen Zukunftsentwurf für ihre Gemeinschaft zu schaffen. Eine Gemeinschaft, die über die eigene Familie, das eigene Dorf, die eigene Stadt – und damit auch über
Separatisten verfolgen politische Utopien. Sie haben eine Vision, wie sie zusammenleben und auf welche Werte und Erzählungen sie sich dabei berufen wollen. An solchen Visionen mangelt es dem politischen Zeitgeist. Auch
Ob man sich mit Weckrufen à la Brexit arrangieren möchte oder nicht: Hinter dem sperrigen Wort Separatismus stecken immer Ideen einer politischen Gemeinschaft, die sich im bestehenden System nicht ausreichend repräsentiert fühlt, Widerstand leistet und alle Beteiligten dazu zwingen will, die Karten neu zu mischen. In der Vergangenheit war dabei sehr oft Gewalt im Spiel. Es gibt aber auch Beispiele friedlicher Unabhängigkeitsbestrebungen – wie die der Katalanen.
Der Kampf der Katalanen
Katalonien liegt im Osten Spaniens, im Norden grenzt es an die Pyrenäen; die lange Mittelmeerküste und die Hauptstadt Barcelona locken jährlich Millionen Touristen aus aller Welt in die Region. Katalonien hat in der spanischen Verfassung den Status einer »autonomen Gemeinschaft« mit 7,5 Millionen Einwohnern auf einem Gebiet, das ungefähr die Größe Nordrhein-Westfalens hat.
Bei jedem Heimspiel des FC Barcelona kommt spätestens in Minute 17, Sekunde 14 Bewegung ins Stadion. »In-, Inde-, Independència« skandieren die Fans – und schwenken dabei die Estelada, die Flagge der Separatisten.
Im
Der Wunsch nach Unabhängigkeit und einer eigenen Nation in Teilen der Bevölkerung verschwand aber nie ganz, auch wenn er starken Schwankungen unterlag. Noch
Warum Separatisten den besseren Widerstand leisten
Der Widerstand der Katalanen ist ziemlich gut organisiert: Er hat ein klares Ziel, Ausdauer und Weitblick. Damit hat er vielen anderen modernen Protesten gegen bestehende Verhältnisse etwas voraus – zum Beispiel
Die linken Denker Nick Srnicek und Alex Williams analysieren in ihrem Buch
»Folk Politics« nennen Srnicek und Williams die zeitgenössischen Protestformen von Occupy oder der
Separatisten dagegen wissen ganz genau, was sie wollen. Und meistens wollen sie das volle Programm: Eine eigene Verfassung, eigene Steuern, eine eigene Außenpolitik, ein eigenes Narrativ, das auf Sprache, Kultur und Traditionen zurückgreift – oder sich auf politische Ideale bezieht. Sie wollen sich Handlungsspielraum von einem Staat oder einem System zurückholen oder erobern, in dem sie sich machtlos fühlen oder sie ihre Interessen nicht gewahrt sehen. Gleichzeitig haben separatistische Bewegungen aber einen lokalen Bezug, der Politik wieder leichter verständlich macht und Komplexität reduziert. Damit positionieren sie sich zwischen den »Folk Politics« von Occupy und Co. auf der einen und durchbürokratisierten, globalisierten Nationalstaaten auf der anderen Seite.
Mir geht es nicht um neue Grenzen. Mir geht es darum, politische Entscheidungen mitbestimmen zu können. Ich will politische Strukturen, in denen ich verstehe, worum es geht. Wenn sie zu groß sind, wie in Europa, dann weiß ich über viele Themen einfach nicht Bescheid.
Eine
Dass die Nationalstaaten nicht mehr im Interesse ihrer Bürger agieren, ist ein Argument, das sich in Europa die Katalanen, aber zum Beispiel auch die Schotten zu eigen machen.
Die Separatisten sind schon längst unter uns
Wer noch ein Argument dafür braucht, dass wir uns vor Separatisten wirklich nicht fürchten müssen: Die EU ist schon jetzt ein Sammelbecken ehemaliger separatistischer Bewegungen. Esten, Letten und Litauer erklärten sich 1990 von der Sowjetunion unabhängig, die Slowakei trennte sich 1993 friedlich von Tschechien. All diese Sezessionen sind noch nicht lange her, alle Länder sind heute EU-Mitglied und werden in ihren Grenzen und Selbstbestimmungsrechten von anderen Ländern anerkannt.
Was für Konsequenzen hätte ein unabhängiges Katalonien? Wie könnte man sich diesen Neuzugang unter den europäischen Nationen vorstellen?
Geht man nach der potenziellen neuen Hauptstadt Barcelona, wäre die Nation Katalonien ziemlich progressiv. Barcelona wird von Ada Colau regiert, die 2015 als Spitzenkandidatin der basisdemokratischen Bürgerplattform Barcelona en Comú ins Rathaus einzog. Seit ihrem Amtsantritt gibt es unter anderem
»Demokratie spaltet nicht, die Abwesenheit von Demokratie spaltet. Wir wollen, dass Leute wählen, einschließlich derer, die mit Nein stimmen.« – Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona
Das passt zum Verständnis des katalanischen separatistischen Projekts als Initiative der gebildeten oberen Mittelschicht – quer durch alle politischen Lager. Aus dieser Perspektive scheint das Abhalten eines Referendums weniger problematisch als die hysterische Reaktion der spanischen Behörden. In den vergangenen Wochen beschlagnahmte sie alles, das als Wahlurne Verwendung finden könnte, und verletzte mit dem Einsatz der Polizei gegen separatistische Politiker auch das Autonomiestatut.
Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau hält sich mit ihrer eigenen Meinung zu einer von Spanien unabhängigen Nation Katalonien zurück, sagte dem britischen Guardian im Vorfeld des Referendums aber Folgendes:
Sind Separatisten undemokratisch?
Wer gefährdet nun also Demokratien? Diejenigen, die ein bestehendes System verändern, oder die, die um jeden Preis daran festhalten wollen? Je nachdem – und immer kommt es auf die Wahl der Mittel an.
Einheit ist kein Wert an sich, sondern ergibt nur dann Sinn, wenn eine Gruppe von Menschen eine Vorstellung davon teilt, was sie gemeinsam erreichen, wie sie zusammenleben und auf welche Werte und Erzählungen sie sich dabei beziehen will. Die Katalanen scheinen da einige gute Ideen zu haben.
Dass separatistische Bewegungen wie die IRA in Nordirland oder die
Aber: Wie wir miteinander leben wollen, handeln wir ständig neu aus. In diesen Verständigungsprozessen liegen genauso viele Chancen wie Risiken. Wenn sich die Welt durch Globalisierung, technischen Fortschritt, Umwelteinflüsse und Migration verändert, verändern sich auch unsere Vorstellungen von Politik und Gemeinschaft. Es gibt kein Ende der Geschichte. Auch nicht für Staaten.
Titelbild: Michael Schwarzenberger - CC0 1.0
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