Wurde in Deutschland zuletzt über Migration debattiert, ging es um Abschiebungen, Pushbacks und Obergrenzen. Populistische Mythen und rassistische Parolen statt Fakten dominierten die Debatte. Nun ist mit der AfD eine Partei zweitgrößte Kraft geworden, die öffentlich rassistische Aussagen macht und eine
plant.
Menschen, die Migration erfahren haben, kommen dabei nur selten zu Wort. In Deutschland betrifft das
Wie fühlt es sich an, an einem Ort zu leben, an dem man immer zu spüren bekommt, dass man nicht willkommen ist? Welche Gefühle wecken Fremdheit und Diskriminierung?
Ich habe mit ihm über die Angst vor Behördenbriefen, die Kluft zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit und über Friedrich Merz’ (CDU) Migrationspolitik gesprochen.
Lena Bäunker:
Herr Sarhangi, in der aktuellen Migrationsdebatte dominieren rassistische Parolen und bürokratische Abschiebeforderungen. Nun ist die AfD, die diese Debatte maßgeblich antreibt, in der Bundestagswahl die zweitstärkste Kraft geworden. Wie geht es Ihnen damit?
Mohammad Sarhangi:
Ich bin kurz davor, zu resignieren. Solche Debatten gab es zwar immer, doch meines Erachtens werden sie radikaler und kälter. Es dominiert eine nationalkonservative Sicht, die Migration entweder komplett verhindern will oder nur dann akzeptiert, wenn sie dem Arbeitsmarkt dient. Doch sobald Migrant:innen nicht mehr »gebraucht« werden, sollen sie gehen.
Dieser Rechtsruck besorgt mich sehr, und ich befürchte, dass er sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat. Bei den Wahlen 2021 haben viele Menschen die Grünen aus Hoffnung gewählt. Dieses Mal wählte ein bedeutender Teil die AfD aus Angst. Und diese Angst wurde auch durch die Regierungs- und Oppositionsparteien geschürt – mit Ausnahme der Linken. Leider besitzt Angst in der heutigen Zeit eine größere Mobilisierungskraft als Hoffnung.
Anfangs hat mich das wütend gemacht, aber mittlerweile fehlt mir die Kraft für Wut. Seit
und wir alle mit angesehen haben, wie die AfD gejubelt hat, fühlt es sich an, als sauge mir jemand langsam das Leben aus. Ich bin noch nicht verzweifelt, aber stehe kurz davor.
Nach einer Gedenkfeier in Aschaffenburg trat spontan ein 12-jähriges Mädchen aus Afghanistan auf die Bühne.
»Menschen denken: Weil ich ein Afghane bin, dass ich böse bin«, sagte sie. Es hat mir das Herz gebrochen zu sehen, dass sie sich schuldig gefühlt hat und den Eindruck hatte, sich entschuldigen zu müssen.
Mohammad Sarhangi:
Und sie ist nicht allein. Ich habe den Eindruck, dass viele in der migrantischen Community glauben, für das Verhalten anderer Migrantinnen und Migranten verantwortlich zu sein. Wenn Muslime Attentate begehen, wird ja auch oft erwartet, dass sich andere Muslime distanzieren. Dieser Druck ist völlig falsch. Denn er vermittelt die Vorstellung, dass man nur dann einen Wert in der Gesellschaft hat, wenn man sich als »guter Ausländer« verhält und alles richtig macht. Jemand, der hier geboren ist, wird jedoch nicht in diese Pflicht genommen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Sie als Kind auch Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben. Einmal sagten die Nachbarkinder Ihnen: »Mit Ausländerkindern spielen wir nicht.« Wie hat Sie das geprägt?
Mohammad Sarhangi:
Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich bewusst gespürt habe, was Ausgrenzung bedeutet. Natürlich passiert es im Spiel unter Kindern immer wieder, dass jemand ausgeschlossen wird. Aber in diesem Fall lag es nicht daran, dass ich nicht die richtigen Spielsachen dabeihatte, sondern daran, dass ich ein Ausländerkind war.
Diese Erfahrung war für mich eine Art Initiationsritus und hat sich als festes Gefühl in meinen Körper eingeschrieben. Später wiederholten sich solche Situationen in verschiedenen Formen.
Was meinen Sie mit »als Gefühl in den Körper eingeschrieben«?
Mohammad Sarhangi:
Davon habe ich zum ersten Mal beim französischen Soziologen
gelesen. Er beschreibt, dass sich Exklusionserfahrungen schon in der Kindheit festsetzen und dann an der Oberfläche lauern können – bereit, bei den geringsten Anlässen wieder hervorzubrechen. Ich glaube, dass es vielen diskriminierten Menschen so geht, egal ob sie aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität diskriminiert werden.
Auch von den Behörden haben Sie Ausgrenzung erfahren: Als Kind wurde der Asylantrag Ihrer Eltern akzeptiert, Ihrer und der Ihres Bruders jedoch abgelehnt.
Mohammad Sarhangi:
Meine Mutter hat mir erst vor ein paar Jahren den ganzen Schriftverkehr und die Ablehnungsbescheide gezeigt. Sie hat alles aufbewahrt. Die Begründung dafür, dass ein 6-Jähriger und ein wenige Monate altes Baby abgelehnt wurden, folgte einer kalten, aber logischen Bürokratie: Mein Bruder und ich hätten keine direkte Verbindung zur Verfolgungsgeschichte unserer Eltern, also gebe es für uns im Iran keine Bedrohung.
Diese Kälte hat mich überrascht – und gleichzeitig nicht. Denn sie begegnet uns immer wieder. Auch jetzt wieder, in der Art, wie über Migration debattiert wird.
War das auch so ein Moment, der sich in Ihren Körper eingeschrieben hat?
Mohammad Sarhangi:
Ich war damals 6 Jahre alt und habe davon kaum etwas bewusst mitbekommen. Woran ich mich aber sehr stark erinnere, sind die Briefe. Die waren immer etwas Bedrohliches.
Im Buch beschreiben Sie, dass Ihr Vater immer noch Angst hat, wenn er zum Briefkasten geht, und dass Sie diese Angst quasi geerbt haben. Was ist das für eine Angst?
Mohammad Sarhangi:
Es ist die Angst vor einer plötzlichen Katastrophe, die über uns hereinbrechen kann. Und diese Katastrophe wäre: Wir müssen das Land verlassen. Die Aberkennung des Aufenthaltsstatus.
Mittlerweile bin ich deutscher Staatsbürger, aber habe die doppelte Staatsbürgerschaft,
hat das eine ganz alte Angst in mir geweckt. Angst davor, dass wir all das, was meine Eltern und ich uns in diesem Land erarbeitet haben, plötzlich verlieren.
Nachdem ich Ihr Buch gelesen hatte, sprach ich mit meinem Partner über diese Angst. Er kommt aus der Türkei und ist mittlerweile niederländischer Staatsbürger. Immer wenn ein Anschlag passiert, ist seine erste Frage: Woher kommt der Täter? Er fürchtet sofort, dass sich Rassismus und Abschiebeforderungen verschärfen.
Mohammad Sarhangi:
Das spüre ich auch. Es ist schlimm, aber wenn ich ganz ehrlich bin, denke ich in solchen Momenten nicht zuerst: »Die armen Opfer!« Mein erster Gedanke ist: »Oh Gott, was für ein Täter war es?« Denn das entscheidet darüber, wie Politik und Gesellschaft reagieren.
Wären die Täter von Magdeburg oder Aschaffenburg deutsch und
gewesen, würden wir überhaupt keine Diskussion führen.
Aber ich weiß kaum etwas über diesen Fall. Darüber wurde nicht gesprochen. Wäre sie Afghanin, wäre das anders gewesen.
Haben Sie einen Weg gefunden, mit dieser Angst umzugehen?
Mohammad Sarhangi:
Arbeit. Wenn ich arbeite, wenn mein Kopf beschäftigt ist, gibt mir das Halt. Auch Zeit mit der Familie hilft. Aber letztlich sind wir Menschen mit unseren Emotionen allein. Egal wie sehr wir uns mitteilen, wie sehr andere für uns da sein wollen – am Ende sind wir, glaube ich, allein.
Der Titel Ihres Buches ist »Jahre der Angst, Momente der Hoffnung«. Das deutet an, dass es auch hoffnungsvolle Momente gibt. Welche sind das?
Mohammad Sarhangi:
Da gibt es sehr viele kleine Momente. Zum Beispiel macht mir die Aussicht Hoffnung, dass mein Sohn in einer viel schöneren und diverseren Welt aufwächst – auch wenn dieser Fortschritt gerade durch den nationalkonservativen Zeitgeist getrübt wird. Aber ich hoffe, dass sich das wieder ändert. Hoffnung hat mir auch
Das zeigte mir, dass der politische Kurs der Union Menschen schockiert und sie zum Handeln bewegt.
Sie unterscheidet sich vom bloßen Wünschen, weil sie uns aktiv werden lässt.
Im Buch beschreiben Sie, dass es Gefühle gibt, die spezifisch für die Migrationserfahrung sind und die andere oft nicht nachempfinden können. Sie erwähnen unter anderem das Wort »Buufis«, das unter somalischen Geflüchteten verbreitet ist und einen Zustand zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit beschreibt. Was hat es damit auf sich?
Mohammad Sarhangi:
»Buufis« ist in Dadaab entstanden, einem der größten Flüchtlingslager der Welt in Kenia. Dort beschreibt es eine Art Depression – die Kluft zwischen der hoffnungsvollen Aussicht auf ein besseres Leben anderswo und der bedrückenden Realität im Lager. Viele Geflüchtete sagen, es sei wie HIV – man werde es nicht mehr los.
Ich glaube, dieses Gefühl kennen viele Migrant:innen. Es ist eine gemeinschaftliche Erfahrung. Deswegen bin ich sicher, dass es Varianten von »Buufis« in verschiedenen migrantischen Gemeinschaften gibt.
Ich habe mit meinem Partner darüber gesprochen und er hat mir von dem türkischen Wort »Gurbet« erzählt, das besonders mit den Erfahrungen der sogenannten Gastarbeiter:innen verbunden ist. Soweit ich es richtig verstehe, beschreibt es ein Gefühl des Fremdseins und gleichzeitig das Vermissen der Heimat.
Mohammad Sarhangi:
Schön! Ich kenne das auch von iranischen Geflüchteten. Viele Iranerinnen und Iraner sagen selbst nach 20 oder 30 Jahren noch, dass sie im Exil leben. Und Exil bedeutet, dass es keine Verwurzelung gibt, sondern einen Ort des Wartens. Man wartet darauf, eines Tages zurückkehren zu können.
Für Ihre Forschung haben Sie viele literarische Werke analysiert – etwa von
und
Diese haben die Erfahrungen ihrer Migration in Prosa und Literatur zum Ausdruck gebracht. Wie hat Ihnen die Lektüre dieser Werke geholfen, die Gefühlsgeschichte der Migration zu begreifen?
Mohammad Sarhangi:
Literatur hat eine einzigartige Art, Gefühle auszudrücken und Geschichte zu verdichten. Mich fasziniert besonders, wie Migrationserfahrungen literarisch übersetzt werden. Özdamar ist eine hochpoetische Autorin, die mit viel Humor und Charme von ihren Erfahrungen als sogenannte Gastarbeiterin erzählt. SAID, ein exiliranischer Dichter, der vor ein paar Jahren verstorben ist, hat mein Denken stark geprägt. Er fand für das Gefühl der Exklusion eine eindrucksvolle Metapher: die Berührungslosigkeit. Wer Ausgrenzung erfährt, verliert die Verbindung zu dem Land, in dem er lebt – als würde es keine gemeinsame Berührungsfläche mehr geben.
Sie haben an einem
mitgewirkt,
Warum ist es wichtig, dass diese Geschichten erzählt werden?
Mohammad Sarhangi:
Für migrantische Communities geht es um Empowerment. Es stärkt das Selbstverständnis, wenn wir diese Geschichten hören und merken, dass es ganz viele Menschen gibt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und mit ähnlichen Dingen kämpfen. Das verbindet.
Auf der Seite der nichtmigrantischen Community ist es wichtig, dass Menschen einzelne Schicksale erleben. Fluchtgeschichten machen sichtbar, dass Geflüchtete auch Menschen sind – mit Familien, einem Zuhause, einem Leben, das sie zurücklassen mussten. Medial und politisch wird oft nur von anonymen Massen gesprochen. Das zeigt sich schon in der Sprache: Friedrich Merz wollte das
durchsetzen – ein unglaublich hässliches Wort. Unser Projekt zeigt, dass hinter dieser vermeintlichen Masse einzelne Menschen stehen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen nach Deutschland kommen.
Sehen Sie im nichtmigrantischen Teil der Gesellschaft eine Bereitschaft, zuzuhören?
Mohammad Sarhangi:
Als wir 2017 mit dem Oral-History-Projekt begonnen haben, gab es mehr Mitgefühl als Härte. Heutzutage zeigen Umfragen jedoch, dass sich 80% der Menschen einen härteren Kurs in der Migrationspolitik wünschen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie wissen, was das bedeutet. Ich habe von einer Buchhandlung in meiner Nähe gehört, dass sie mein Buch nicht verkaufen könnten, weil die Leute von dem Thema nichts hören wollten. Das nerve die Menschen.
Ein bisschen erinnert mich das an die Erinnerungsarbeit zum Holocaust. Da wollten viele an einem gewissen Punkt auch nichts mehr hören, weil sie meinten, sie hätten genug gehört. Wenn man jedoch nachfragt, stellt man fest, dass kaum Wissen vorhanden ist. Ähnliches passiert gerade im Diskurs über Migration.
Sie wünschen sich eine Politik der Geborgenheit. Was meinen Sie damit, und wie könnte sie aussehen?
Mohammad Sarhangi:
Die Historikerin Ute Frevert beschreibt Geborgenheit als ein
Vielleicht brauchen wir uns als Bürger:innen einer liberalen Demokratie nicht jederzeit aufgehoben, zugehörig oder sicher fühlen. Das wäre vermutlich zu viel verlangt. Aber als Muslim, Migrant und Angehöriger dieses Staates sollte ich mir zumindest sicher sein können, dass diese Möglichkeit nicht sofort widerrufen wird, wenn eine andere migrantische Person ein Verbrechen begeht. Ich sollte auch nicht zum Täter gemacht werden, wenn ich eigentlich das Opfer eines Verbrechens bin. Mehr verlange ich gar nicht.
Wenn Sie mehr Einfluss auf die öffentliche Debatte hätten, welche Themen würden Sie in den Vordergrund stellen? Welche Debatten sollten wir führen?
Mohammad Sarhangi:
Migration wird oft instrumentalisiert, um diese Probleme zu erklären. Es ist einfacher zu behaupten, dass wir weniger Wohnungen haben, weil so viele Migranten hier sind. Oder dass wir weniger Kitaplätze haben, weil so viele Migranten da sind. Das führt dazu, dass man sie abschieben oder gar nicht erst hereinlassen möchte, in der Hoffnung, dass damit alle Probleme gelöst werden. Aber das ist nicht die Realität; die Probleme werden lediglich verschoben.
Was Herr Merz macht, ist letztlich eine Politik der Ohnmacht, obwohl er den Eindruck einer Handlungsfähigkeit vermitteln will. Er lässt sich von der AfD treiben. Um gesellschaftliche Probleme zu lösen, bringt es wenig, populistisch gegen Migranten zu schießen. Stattdessen sollten wir uns mit Herausforderungen wie der Wohnungsnot auseinandersetzen.