Wie wir das Verbrechen besiegen
Unser Autor hat viele Jahre als Gefängnisdirektor gearbeitet. Dadurch hat er die Schwächen des Strafvollzugs aus erster Hand erfahren. Hier stellt er Ideen dafür vor, wie es besser geht.
Verbrechen und Strafe, so scheint es, gehören untrennbar zusammen. Kriminelle zu bestrafen, erscheint uns gerecht. Und das probate Mittel dafür, Kriminalität zu bekämpfen.
Eine Straftat bricht mit der Norm und schädigt oft andere Menschen. In unserer gegenwärtigen Rechtsordnung wird dem Verursacher dafür ebenfalls ein Übel zugefügt. Er wird nun seinerseits in irgendeiner Form verletzt, geschwächt oder geschädigt. Seine Schuld wird durch Strafe vergolten.
Bei einem genauen Blick zeigt sich aber: Strafen sind heute in den meisten Fällen nicht sinnvoll. Sie tragen nicht viel dazu bei, dass die Zahl der Verbrechen sinkt. Dabei liegen viele Ideen dafür bereit, wie wir stattdessen eine gerechtere und sicherere Gesellschaft schaffen.
Bevor wir uns diesen Ideen widmen, werfen wir aber zuerst einen Blick darauf, woher unser Bedürfnis nach Vergeltung überhaupt kommt – denn es ist tief in der menschlichen Evolution verwurzelt.
Kooperation war für die ersten Menschen überlebenswichtig
Unsere Spezies, der Homo sapiens, die einzige noch verbliebene Menschenart, entstand vor etwa 300.000 Jahren. Biologisch unterscheiden wir uns kaum von den Menschen vor Zehntausenden von Jahren. Unsere Instinkte und Bedürfnisse sind noch weitgehend identisch mit denen der ersten »echten« Menschen (nach dem Fundort der Fossilien auch
Die Frage ist also, welche Bedingungen zur Zeit dieser Menschen vermutlich gegeben waren und inwiefern sie sich von unserer heutigen Realität unterscheiden.
Ein wesentlicher Unterschied besteht zunächst darin, dass die Menschen ursprünglich wohl in Gruppen mit höchstens einigen Dutzend Mitgliedern zusammenlebten. Dabei hatten sie teils friedlichen, teils feindlichen Kontakt zu anderen Gruppen.

Ein Mensch hätte ursprünglich allein kaum Chancen gehabt, sich über die Jagd die notwendige Nahrung zu beschaffen oder sich gegen Raubtiere oder feindliche Menschengruppen zu wehren. Die Bereitschaft, sich an eine Gruppe zu binden, sicherte dem Einzelnen also höhere Überlebenschancen. Die Gruppe wiederum konnte nur bestehen, wenn innere Konflikte so reguliert wurden, dass die Gruppe nicht auseinanderbrach und deren Mitglieder im weitesten Sinne kooperierten.
Kooperation war also überlebensnotwendig. Dazu mussten aggressive Triebe gezügelt und Gemeinsinn gefördert werden. Was wir noch heute als Gerechtigkeit empfinden, ist ein fairer Ausgleich der Interessen eines Individuums mit denen anderer und mit dem Interesse der Gruppe insgesamt.
Allerdings könnten Individuen, die sich unsolidarisch und unkooperativ verhalten, einen Vorteil haben, wenn sich alle anderen solidarisch verhalten. Sie würden von den anderen profitieren, ohne dass diese im gleichen Maße etwas zurückbekämen. Der Kooperative wäre der Dumme. Auch könnte das unsoziale Verhalten eines Einzelnen das Überleben der ganzen Gruppe gefährden.
Unsere Vorfahren haben daher Verhaltensweisen entwickelt, unkooperative Gruppenmitglieder zu disziplinieren und unsolidarisches Verhalten »teuer« zu machen. Das funktionierte beispielsweise, indem man dem Mitglied Schmerzen zufügte und/oder die anderen ihm ihre Solidarität entzogen. Wer sich grob unsozial verhielt, auch indem er allzu mächtig werden wollte, wurde ausgeschlossen oder getötet.
Wenn in einer Gruppe der Urmenschen einer dem anderen einen Arm gebrochen hat, dann hatte er einen Vorteil, zum Beispiel bei der Jagd, bei der Verteidigung gegen Raubtiere oder bei der Fortpflanzung. Dem Täter mindestens ebenso einen Arm zu brechen, konnte aus Sicht des Opfers ein gerechter Ausgleich und aus Sicht der Gruppe ein wirksamer Weg sein, den Täter wieder »zurechtzustutzen« – und andere davon abzuhalten, sich wie er zu verhalten.
Warum Strafe im heutigen System häufig ihre Wirkung verfehlt
Selbstverständlich wird in unserem System niemandem mehr zur Strafe der Arm gebrochen. Das Übel wird »umgerechnet« in einen Freiheitsentzug und so dem Vergeltungsbedürfnis der Mehrheit unserer Gesellschaft Rechnung getragen. Dieses Bedürfnis ist heute jedoch weitgehend irrational, da es weder den Schaden wiedergutmacht noch sonstige Nachteile oder ein Ungleichgewicht ausgleicht.
In einer Gesellschaft von etwa 83 Millionen Menschen fällt der Einzelne als Konkurrent des Anderen kaum ins Gewicht. Die körperliche Leistungsfähigkeit spielt für die Konkurrenzfähigkeit ohnehin nur noch eine
Die Strafe nimmt dem Täter auch nicht die Vorteile seiner Tat. Jemanden, der zum wiederholten Male Fahrräder gestohlen hat, im Internet Dinge bestellt hat, ohne zu bezahlen, oder einen anderen Menschen geschlagen hat, dafür über Monate oder länger in Haft zu nehmen, ist nur scheinbar eine Rechnung, die aufgeht.
Für die Abschreckung des Täters vor weiteren Taten oder potenzieller anderer Täter durch eine Bestrafung ist vor allem die Wahrscheinlichkeit entscheidend, dass das Fehlverhalten aufgedeckt wird.
Diese Wahrscheinlichkeit ist naturgemäß in kleinen Gruppen von Menschen, in denen jedes Gruppenmitglied fast alles von den anderen mitbekommt, ungleich höher als in einer weitgehend anonymen Massengesellschaft. Auch insofern war eine Bestrafung in den Anfangstagen der Menschheit sinnvoller. Heute wird – je nach Art des Delikts – ein hoher Anteil von potenziellen Straftaten ohnehin nicht aufgedeckt.
Medien und unsere Wahrnehmung von Verbrechen
Der Gedanke, dass in kleinen Gruppen alle fast alles mitbekommen, ist auch in anderer Hinsicht relevant. Unser heutiges Bild gesamtgesellschaftlicher Realität ist vor allem medial geprägt. Generell wird vor allem über Negatives berichtet.
Das führt zu einer weit
Ein weiterer Aspekt ist entscheidend, wenn es um die Wirkungen einer Bestrafung geht: Wer von einer Gruppe geschädigt und verletzt wurde, entwickelt meist eine Oppositionshaltung oder ein Interesse daran, die Gruppe zu verlassen. Früher hätte dies in den meisten Fällen den sicheren Tod bedeutet, sodass sich die Bestraften wohl oder übel wieder einfügen mussten. Heute können sich die Bestraften von der Mehrheitsgesellschaft ab- und Gruppen von Gleichgesinnten zuwenden. Strafe verstärkt so oft die Spaltung der Gesellschaft, was ihrem ursprünglichen Sinn der Stärkung des Zusammenhalts widerspricht.

Zu guter Letzt haben wir heute – anders als die ersten Menschen – eine staatliche Struktur und einen mächtigen Justizapparat, der viel stärker ist als alle Individuen oder individuellen Gruppen. Ohne diesen mächtigen Staat mussten die Menschen viel Wut und Rachegelüste aufbringen, um einen »Übeltäter« zur Rechenschaft zu ziehen. Da diese Gewalt mit einem Aufwand von Energie und auch mit potenziell tödlicher Gefahr verbunden war (schließlich konnte sich der zu Bestrafende auch wehren), war es evolutionär sinnvoll, das Bedürfnis nach Vergeltung mit einem Lustgefühl zu verknüpfen.
Vergebung ist eine reale Alternative zu Vergeltung
Das noch in uns wirkende Vergeltungsbedürfnis, das dem der Menschen vor Zehntausenden von Jahren stark ähnelt, ist in unserer heutigen staatlich strukturierten Massengesellschaft also überholt und zu einem guten Teil irrational.
Der falsche Glaube an den Sinn der Vergeltung wird auch nicht dadurch rational, dass mit ihr eine durch das Gericht festgestellte Schuld ausgeglichen wird. Schon die Fiktion von Schuld und die Feststellung der Schwere einer individuellen Schuld ist willkürlich. Unabhängig davon erschließt es sich nicht, warum diese Schuld (nur) durch Vergeltung getilgt werden kann, indem man zwangsweise ein Übel zufügt oder zumindest in Kauf nimmt. Denkbar wären auch Vergebung oder Wiedergutmachung.
Das Ausleben dieses Bedürfnisses in seiner jetzigen Form ist nicht nur unnütze Aufwendung von Energie und Ressourcen, es bewirkt vielmehr oft das Gegenteil von dem, was es ursprünglich bewirken sollte. Ein wenig ist es vergleichbar mit unserer Lust auf Süßes: für die ersten Menschen war das Lustgefühl sinnvoll, da Süßes knapp, aber energiereich war. Heute ist Zucker bekanntlich im Übermaß vorhanden und Ursache vieler Zivilisationskrankheiten.
Hinzu kommt: Strafen zielen darauf, im weitesten Sinn Gerechtigkeit herzustellen und dass bestimmte Normen eingehalten werden. Wege, auf denen wir diese Ziele viel besser erreichen könnten, werden im Glauben an die Strafe zu wenig genutzt.
Insbesondere schwerere Straftaten setzen nach wie vor starke individuelle und soziale Energien frei. Sie binden unser Interesse, teils auch unsere Faszination, verletzen unser tiefes Gefühl von Gerechtigkeit, wecken unsere Angst und Wut und treiben uns zur Vergeltung der Tat. Es geht darum, wie wir diese Energie möglichst sinnvoll nutzen.
Wie könnte das aussehen?
Rationale Resozialisierung statt Schuld, Strafe und Gefängnis
Ich setze unserem System von Schuld, Vergeltungsstrafe und Gefängnis ein Modell der rationalen Resozialisierung entgegen. Resozialisierung bezieht sich dabei nicht nur auf die Täter, sondern auf den Umgang mit Kriminalität insgesamt.

Wir neigen derzeit dazu, alles »Böse« zu verdrängen. Wir wollen mit seiner Entstehung nichts zu tun haben und diejenigen, die es verübt haben, hinter hohen Mauern wissen. Es sollen sich Fachleute mit ihnen befassen. Wenn wir eine harte Bestrafung wünschen, erscheint uns dies als unser gutes Recht. Schließlich hat der Täter in fast schon religiöser Manier Schuld auf sich geladen. Die Folgen einer Bestrafung sind für viele daher zweitrangig, sie fühlt sich jedenfalls instinktiv richtig an.
Anders als die meisten Tiere können wir Menschen jedoch unsere Urinstinkte reflektieren und lernen, sie so modifiziert auszuleben, dass sie sich auch unter den Bedingungen der Zivilisation als nützlich erweisen. Die Philosophin Martha Nussbaum bringt es so auf den Punkt:
Der vom Zorn umfasste Gedanke an Vergeltung oder Heimzahlung ist bei einer vernünftigen und nicht übermäßig ängstlichen und statusfokussierten Person nur ein kurzer Traum, eine Wolke, die bald durch vernünftigere Vorstellungen vom Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft vertrieben wird.
Ähnliches gilt auch für die instinktive Furcht vor Straftaten.
Recht und Unrecht müssen weiter voneinander getrennt werden. Straftaten müssen aufgeklärt und Straftäter verurteilt werden. Die Folgen einer Verurteilung und das Verfahren nach einer Verurteilung sollten jedoch andere sein als bisher und sich eher an dem orientieren, was insbesondere unter dem Begriff »Restorative Justice« diskutiert wird.
Es sollte auch künftig ein Gericht nach Anklage durch die Staatsanwaltschaft entscheiden, wer welches Unrecht begangen hat und wie groß dieses Unrecht ist.
Restorative Justice
Restorative Justice ist ein Ansatz zur Konfliktlösung, bei dem im Mittelpunkt nicht die Strafe steht. Täter, Opfer und die Gemeinschaft arbeiten stattdessen zusammen, um den Schaden zu verstehen und die Folgen auszugleichen. Ziel ist es, Verantwortung zu übernehmen, Wiedergutmachung zu leisten und künftige Konflikte zu vermeiden. Statt nur zu bestrafen, geht es darum, Beziehungen zu heilen und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.
Sinnvoll wären gesetzlich vorgegebene Unrechtskategorien, die einen jeweils sehr großen Rahmen möglicher Maßnahmen zur Schadenswiedergutmachung, Behandlung und auch Strafe im engeren Sinn eröffnen.
So könnte beispielsweise ein Wohnungseinbruch mit Diebstahl in die Unrechtskategorie 4 fallen, bei der kraft Gesetzes eine elektronische Aufenthaltsüberwachung (»Fußfessel« oder entsprechend überwachter Hausarrest) bis zu 4 Jahren, das Erbringen gemeinnütziger Leistungen, Behandlungsmaßnahmen wie ein Empathietraining, eine monetäre Solidaritätsleistung durch den Staat an das Opfer bis zur Höhe von 10.000 Euro und ähnliches vorgesehen ist.
Was konkret passiert bzw. angeordnet wird, sollte jedoch nicht das Gericht entscheiden. Auch sollte es nicht zu einem Zeitpunkt für die nächsten Monate oder gar Jahre festgelegt werden, sondern immer wieder an die aktuellen Entwicklungen der Beteiligten angepasst werden.
Um die Interessen der Allgemeinheit, der Opfer, der Täter und des jeweiligen Umfelds möglichst sinnvoll miteinander in Einklang zu bringen, sollte dazu ein Gremium unter staatlicher Leitung eingesetzt werden. In Betracht kommen die derzeitigen Leiterinnen und Leiter der Gefängnisse. Man könnte es »Resozialisierungsgremium« nennen.
In dem Gremium könnten Vertreter verschiedener
Je nach Einzelfall ist es zudem sinnvoll, Behörden in das Gremium einzubinden, die früher oder später ohnehin mit dem Fall befasst wären. Zu denken wäre hier etwa an die Ausländerbehörde, die Jugendbehörde, die Agentur für Arbeit, die Sozialbehörde oder die Polizei.
Der Umgang mit Straftaten darf zudem nicht völlig delegiert und weitgehend aus dem Blick und Bewusstsein der Öffentlichkeit verdrängt werden. Je stärker sich Justiz, Strafen und Strafvollzug von sozialen Bezügen entfernen, desto größer wird die Gefahr, dass die Strafjustiz ein Eigenleben entfaltet, in dem notgedrungen die Interessen der Justiz und weniger die der Allgemeinheit im Vordergrund stehen.
Derzeit wird diesem Gedanken Rechnung getragen unter anderem über das System von Schöffen, die in bestimmten strafgerichtlichen Verfahren mit über Schuld oder Unschuld der Angeklagten entscheiden dürfen. Auch sind Gerichtsverfahren grundsätzlich öffentlich. Noch viel wichtiger und fruchtbarer wäre es jedoch, im Rahmen des Modells der rationalen Resozialisierung »normale« Menschen in den Prozess nach dem Urteilsspruch einzubinden.
Dem Opfer mehr Optionen geben
Die Bereitschaft insbesondere der Opfer vorausgesetzt, sollte in geeigneten Fällen eine Schadenswiedergutmachung und eine Mediation zwischen Opfer und Täter im Mittelpunkt dieses Prozesses stehen. Es geht dabei nicht darum, die Opfer aufzufordern oder gar zu zwingen, Tätern zu vergeben oder sich mit ihnen zu versöhnen. Es geht darum, einen Kontext herzustellen, der die Chancen dafür eröffnet.
Auch sollte das Opfer selbstredend nicht allein über den Umgang mit dem Täter entscheiden, aber zumindest mitentscheiden dürfen. Allein das Recht, Mitglied des Gremiums zu sein, kann für das Opfer einer Straftat hilfreich sein. Das gilt unabhängig davon, ob das Recht auch wahrgenommen wird.
Zumindest eine teilweise Wiedergutmachung des Schadens wäre in deutlich größerem Umfang als derzeit möglich.
Auch Opfer würden bei Bedarf in der Resozialisierung gefördert, und das jeweilige Umfeld würde eingebunden. So könnte etwa ein Opfer häuslicher Gewalt darin unterstützt werden, künftig keine dysfunktionalen Beziehungen mehr einzugehen, in denen es erneut zum Opfer werden könnte.
Ähnlich wie bei der bislang gegebenen Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung mit bestimmten Auflagen und Weisungen könnte eine den Täter belastende Maßnahme (zum Beispiel ein elektronisch überwachter Hausarrest) dann zum Tragen kommen, wenn er zumutbare Maßnahmen zur Schadenswiedergutmachung oder die Erbringung gemeinnütziger Leistungen verweigert.
Das Vergeltungsbedürfnis konkret betroffener Opfer hat einen höheren Stellenwert als das der Allgemeinheit. Wenn sich im Gremium also herausstellt, dass ein Opfer ein ernst zu nehmendes Vergeltungsbedürfnis hat, können innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens auch Maßnahmen mit strafendem Charakter verhängt werden. Das kann zum Beispiel die Verpflichtung zu Arbeit sein, deren Gewinn den Opfern zugutekommt, oder die Freiheitsbeschränkung durch elektronische Aufenthaltsüberwachung (»Fußfessel«).
Inhaftierte im offenen Vollzug werden seltener rückfällig
Die zeitweilige Einschränkung der Freiheit, sich aufzuhalten, wo man will, kann zur Sicherung des Verfahrens und zum Schutz weiterer Opfer (zum Beispiel bei häuslicher Gewalt) Sinn machen. Auch kann es wichtig sein, Menschen aus einem kriminogenen Umfeld (zum Beispiel Rocker- oder Drogenmilieu) herauszuholen. Die Fortbewegungsfreiheit einzuschränken, kann zudem sinnvoll sein, um mit den Betroffenen (therapeutisch) zu arbeiten, bis weniger Gefahr von ihnen ausgeht.
Diese Freiheitsbeschränkung sollte jedoch in einem realitätsnahen und möglichst offenen Kontext erfolgen, sodass möglichst viele Bezüge zu nicht straffälligen Menschen aufgebaut und erhalten werden können. So zeigt eine
Dabei ist der Faktor, dass nur ausgewählte Inhaftierte im offenen Vollzug untergebracht werden, berücksichtigt. Der offene Vollzug an sich wirkt also im Vergleich zum geschlossenen Vollzug rückfallsenkend. Auch ein therapeutisches Arbeiten mit Straftätern macht für die allermeisten in einem realitätsnahen Kontext mehr Sinn als in der abgeschlossenen Parallelwelt der Gefängnisse. Ambulante Therapien haben in der Regel mehr Erfolgsaussichten als Therapien in einer JVA selbst.
Zudem sollte der Vollzug näher an uns erfolgen. So könnten zum Beispiel dezentrale Wohngruppen oder ins Stadtbild eingefügte Hafthäuser eingerichtet werden. Sozialisierung heißt auch, Straftäter und Allgemeinheit insoweit näher zusammenzubringen. Auch sollten nicht zu viele Straffällige zusammen untergebracht werden. Im Juni 2024 haben sich die Justizministerinnen und Justizminister der Mitgliedstaaten der EU

In skandinavischen Studien hat sich herausgestellt, dass höchstens 50, besser noch weniger Menschen in einer solchen Einrichtung untergebracht sein sollten,
Bei höchst gefährlichen Menschen ist auch ein bis zu lebenslanger Freiheitsentzug notwendig. Das betrifft jedoch nur wenige Prozent der derzeit Inhaftierten.
Wie man eine Gesellschaft resozialisiert
Resozialisierung muss nicht nur Täter, Opfer und Umfeld, sondern auch die Gesellschaft an sich betreffen.
Im (unrealistischen) idealen Fall sind unsere strafbewehrten Normen gerecht, bringen die Interessen der Individuen untereinander und die der Gesellschaft insgesamt in ein ausgewogenes Verhältnis und beruhen auf gemeinsamen Werten. Gerechtigkeit kann daher vor allem durch eine bestmögliche Geltung dieser Normen gefördert werden. Dazu gilt es, Straftaten nicht nur auf die falsche Entscheidung des Täters zurückzuführen, sondern nach möglichen Mitursachen und Zusammenhängen zu fragen.
Durch Straftaten werden individuelle Probleme kommuniziert und zu sozialen gemacht. Gegenüber den Opfern der Taten handelt es sich meist um eine gestörte, schädigende und destruktive Art der Kommunikation. Auf sozialer Ebene jedoch können wir sie konstruktiv gestalten, wenn wir lernen, sie noch besser zu verstehen und die richtigen Antworten zu finden.
Dies kann Risikofaktoren zutage fördern, die auch in anderen Fällen die Wahrscheinlichkeit straffälligen Verhaltens deutlich erhöhen. Solche Faktoren zu identifizieren und ihnen bestmöglich zu begegnen, würde Kriminalität deutlich stärker reduzieren als jede Strafe.
- Zu den bereits bekannten Risikofaktoren gehören beispielsweise elterliche Aggression bzw. Misshandlung. Die Forschung belegt hier deutlich negative Zusammenhänge zu späterem dissozialem bzw. sozialschädlichem Verhalten. Studien über Serienmörder zeigen, dass die meisten von ihnen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sind.
Wer in seiner Kindheit missbraucht oder vernachlässigt wurde, begeht weiteren Studien zufolge später mit einer
- Andere Risikofaktoren sind etwa Verwahrlosung oder Tabak- oder Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft.
- Auch große Einkommensunterschiede innerhalb einer Population begünstigen Gewalt und Aggressionen. Je höher die Einkommensunterschiede eines Landes sind, desto häufiger sind in der Regel Mord und Totschlag.
- Wie komplex Zusammenhänge sind, zeigen etwa Studien, wonach Länder mit hoher Importrate von Fisch eine niedrige Mordrate haben, was
- Durch die Befassung mit Gewalttätern hat sich auch herausgestellt, dass die Schadstoffbelastung der Luft in Form von zu viel
Das Gute im Schlechten
Wir können also aus jeder Straftat lernen, um so das Risiko künftiger Straftaten zu verringern. Die Forschung zeigt, dass stützende Interventionen möglichst früh erfolgen sollten. Hier gibt es noch viel Potenzial. Der deutliche Ausbau von Schulsozialarbeit, Suchtberatung und Jugendzentren ist ein weiterer Erfolg versprechender präventiver Ansatz.
Die anhand von Straftaten erkennbaren Gesetzmäßigkeiten von einzelnen Milieus oder Branchen können sich ebenso wie Risikofaktoren über kriminelles Verhalten hinaus individuell und gesamtgesellschaftlich negativ auswirken.

Oft sind es überhaupt erst Verbrechen, die den Blick in uns fremde Milieus oder auf uns unbekannte Menschen und ihre Hintergründe lenken. Wir hätten nicht die Empathie oder auch nur das Interesse, uns ansonsten näher mit Menschen außerhalb unseres sozialen Umfelds zu befassen. Die Fixierung auf den Normbruch, die Gefahr, das Böse und das Schlechte aktiviert die dazu notwendige individuelle und soziale Energie.
Justizsystem und Medien wirken wie ein Vergrößerungsglas, das entsprechende Ereignisse sichtbar macht.
So geben etwa die Strafverfahren um die Cum-Ex-Geschäfte Einblick in eine Finanzbranche, in der zum Teil auch im nicht strafbaren Bereich auf Kosten der Allgemeinheit Steuern gespart und Gewinne generiert werden. Andere Milieus sind von Armut, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Suchtproblemen oder extremen rechts- oder linksradikalen Entwicklungen betroffen, die ihren Ausdruck eben nicht nur in einzelnen aufgedeckten Straftaten finden, sondern sich auch sonst destruktiv auswirken können.
Einen guten Teil der Energie, die wir derzeit in die Bestrafung des Täters stecken, könnten wir also mit Gewinn in eine Ermittlung von im weitesten Sinne sozialer Ungerechtigkeit stecken.
All dies kann über Medien, Politik und die Teilnehmenden der Resozialisierungsgremien gefördert werden. Entscheidend ist aber vor allem ein allgemeines Umdenken in Richtung eines nachhaltigen Umgangs mit Kriminalität.
Wenn das Denken Schule macht, gemeinsame Werte und Normen tatsächlich zu fördern, entzieht dies zudem zunehmend einer Politik den Boden, die darauf aus ist, durch harte Strafen politische Macht zu demonstrieren, aus der kollektiven Besorgnis über die Sicherheit populistischen Gewinn zu schöpfen und von der Vernachlässigung sozialer Probleme abzulenken.
Je stärker Kriminalität in Zusammenhängen gedacht wird, desto schwerer wird es auch fallen, das Kriminalitätskonstrukt zu missbrauchen, um zum Beispiel Ressentiments gegen Ausländer zu schüren.
Ursprünglich hat die Bestrafung den Zusammenhalt gefördert, heute kann die Straftat diesen Zusammenhalt fördern, wenn wir die richtigen Schlüsse aus ihr ziehen. Von den Opfern (bzw. deren Angehörigen) schwerster Straftaten wäre es zynisch, dies zu fordern. Als Gesellschaft insgesamt jedoch könnten und sollten wir es zunehmend wagen, Kriminalität als Werk von Goethes Mephisto zu sehen: Als »Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«
Wenn uns das gelingt, und wenn wir jede schlechte Tat eines Einzelnen zum Anlass nehmen, kollektiv besser zu werden, dann haben wir irgendwann das Verbrechen besiegt.
Titelbild: Thomas Galli / Manuel Nieberle - copyright