Rojava und die Sehnsucht des Westens nach Demokratie
Die Kurden in Syrien machen vor, woran die Araber scheitern. Oder hätten wir das bloß gerne?
4. Oktober 2017
– 8 Minuten
Abdulla Hawez
Genug von Vollverschleierung und Diktaturen im Nahen Osten. Wo sind die geblieben, die dort Freiheit und Demokratie durchsetzen wollten? Glaubt man westlichen Medien, haben die Demokratisierung und die weibliche Emanzipation in der arabischen Welt ihr Epizentrum im Norden Syriens – 7 Jahre nach dem sogenannten arabischen Frühling. Dort greifen kurdische Frauen zu den Waffen und kämpfen Seite an Seite mit Männern im Syrienkrieg. Die Bilder der Frauenmilizen, die gegen den sogenannten Islamischen Staat ins Feld ziehen, gehen um die Welt. »Patriotische Amazonen« nannte sie das
Sie kämpfen für Das kurdische Einflussgebiet im Norden Syriens ist mit einer Fläche von über 30.000 Quadratkilometern größer als Belgien und beherbergt mehr als 3 Millionen Menschen unterschiedlicher Konfessionen. Im Syrienkrieg bekommt es viel mediale Aufmerksamkeit. »Rojava praktiziert Demokratie«, zitiert die einen faszinierten deutschen Arzt, der gerade von einem Besuch dort heimgekehrt ist. Auch der Titel der im WDR ausgestrahlten
»Überzeugendes Modell für Frieden im Nahen Osten« – Carsten Peters, Die Grünen
Nicht nur in den Medien, auch in der Politik ist die Sympathie groß. So bezeichnet etwa der Münsteraner Grünen-Politiker Rojava als »überzeugendes Modell für Frieden im Nahen Osten.« in Nordrhein-Westfalen lobt Rojava auf ihrer Website gar als einzigen Bereich in der gesamten Region, »in dem ein fortschrittlich-demokratisches System aufgebaut worden ist und unterschiedliche, ethnische Gruppen und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt und friedlich zusammenleben«.
Aber ist Rojava wirklich das Vorzeigeprojekt, das all diese Begeisterung verdient? Lebt dort tatsächlich eine basisdemokratische, multiethnische Gesellschaft, in der religiöse Konflikte keine Rolle spielen? Gibt es dort echte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, mitten im Nahen Osten, der hierzulande allgemein für seine patriarchale Ordnung kritisiert wird?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, habe ich mir Unterstützung von Abdulla Hawez geholt. Als Journalist hat er für internationale und lokale Medien in den letzten Jahren aus Rojava und den kurdischen Gebieten im Nordirak berichtet.
3 Fakten zu Rojava
Aber der Reihe nach. Wie konnte Rojava eigentlich entstehen?
Assad überlässt Nordsyrien den Kurden
Im Frühjahr 2012 hat sich das Militär des Assad-Regimes widerstandslos aus Gebieten im Norden Syriens in denen viele Kurden leben. Damit übergab das Regime die Kontrolle effektiv an die Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihren bewaffneten Arm, die sogenannten Volksverteidigungseinheiten (YPG). Der lautete in etwa: Ihr beteiligt euch nicht an dem bewaffneten Aufstand gegen Assad, im Gegenzug habt ihr freie Bahn im Norden.
Flucht aus der Türkei
Die Vorgängerorganisationen der PYD-Partei und YPG-Miliz sind bereits seit den 1990er-Jahren im Norden Syriens präsent. Tausende Anhänger der flohen damals wegen des brutalen Vorgehens des türkischen Staates gegen Kurden ins syrische Exil, um sich neu zu formieren. Sowohl die PYD-Partei als auch die YPG-Miliz entstanden in Syrien auf Initiative ihrer Mutterorganisation, der PKK. Die PKK wiederum kämpft seit den 1980er-Jahren gewaltsam für kurdische Autonomie in der Türkei und wird von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft.
Etablierung der Kurden in Syrien
Als das Assad-Regime im Jahr 2012 das Feld räumte, war die PYD-Partei bereits eine etablierte Organisation. Eigenmächtig erklärte sie ein Jahr später – trotz des Widerstands konkurrierender kurdischer Parteien – eine neue Regierung für die als Rojava bezeichneten Gebiete. Diesen Alleingang konnte die PYD-Partei durchsetzen, weil sie mit der YPG-Miliz auf einen gut organisierten zurückgreifen konnte. In den Reihen der YPG-Miliz kämpfen auch viele Frauen.
»Die patriotischen Amazonen«
Frauen an der Waffe sind eine Seltenheit – vor allem im Syrienkrieg.
Der bewaffnete Kampf und insbesondere Militärs sind weltweit nach wie vor eine Männerdomäne. Umso größer ist die mediale Aufmerksamkeit für kurdische Kämpferinnen in Syrien, die ihre Siedlungsgebiete gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) verteidigen. Ihr Dienst in der YPG wird von der Miliz selbst und westlichen Medien meist als universeller Kampf für weibliche Emanzipation porträtiert.
Ob dieses Porträt der Wirklichkeit entspricht, möchte ich von dem Journalisten Abdulla Hawez wissen. In Rojava hat er mit vielen Kurdinnen gesprochen. Einige von ihnen sehen die Rolle von Frauen in Rojava jedoch kritisch:
Auf eine gewisse Art und Weise wird die Position von Frauen in Rojava durchaus gestärkt. Die PYD beschäftigt viele Frauen in Büros und an den Fronten. Die Einbindung von Frauen ist aber eher oberflächlich. Ihre grundsätzlichen Bedingungen in der Gesellschaft haben sich nicht geändert, stattdessen liegt die effektive Macht und Kontrolle nach wie vor bei Männern. Viele Frauen kritisieren das Vorgehen der Partei. Sie sagen, die PYD benutze Frauen nur, anstatt ihre Rolle wirklich zu stärken.Abdulla Hawez
Befürworter der PYD-Partei entgegnen der Kritik, dass Rojava noch am Anfang stehe und es Zeit brauche, bis sich gesellschaftliche Strukturen veränderten. Doch die Debatte über die Einbindung von Frauen in bewaffnete Gruppen samt der zugehörigen feministischen Kritik reicht bis in die 1990er-Jahre zurück.
Schon damals tauschten sich kurdische Feministinnen lebhaft über die Rolle von Frauen in der PKK aus. Die Anthropologinnen haben diese Debatte untersucht. Sie sehen Probleme in der Art, wie Frauen in der Bewegung eingebunden werden: Frauen sollten zwar als Mütter, Ausbilderinnen, Arbeiterinnen oder Kämpferinnen wichtige und vielfältige Rollen in der Gesellschaft einnehmen. Dadurch sprengen sie aber nicht die Grenzen des kulturell akzeptierten weiblichen Verhaltens. Letztlich würden Frauen somit unter Druck gesetzt, ihre Interessen in einem Rahmen zu artikulieren, der von Männern definiert wird.
Endlich: Demokratie!
In Rojava wird, trotz berechtigter Kritik, die Rolle von Frauen hervorgehoben und möglicherweise neu ausgehandelt. Ohne Frauenrechte, die aus solchen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen hervorgehen, können wir uns heutzutage keine Demokratie vorstellen.
Die PYD-Partei setzt in Rojava auf Basisdemokratie, also eine möglichst direkte Form der Mitbestimmung für die Bevölkerung. Wie Basisdemokratie in Rojava umgesetzt wird und wie es um die politische Freiheit steht, darüber spreche ich ausführlicher mit Abdulla Hawez:
Wie gestaltet sich die Umsetzung von Basisdemokratie in Rojava?
Abdulla Hawez:
Die PYD hat ihr eigenes Verständnis von direkter Demokratie. Die Partei hat Rojava in sogenannte Kommunen eingeteilt, das sind kleine Einheiten von etwa 150 Häusern, welche wiederum in größeren Kommunen und schließlich zusammenlaufen. Die PYD unterhält in all diesen Kommunen Büros, die der Bevölkerung als Anlaufstelle dienen und die Verteilung von Gütern regeln. Dass es diese Anlaufstellen überhaupt gibt, versteht die PYD als basisdemokratisch. Meine Beobachtungen deuteten aber eher auf eine Hierarchie von oben hin: Die Büros in den Kommunen erhalten ihre Befehle von der Parteiführung und setzen sie entsprechend durch.
Gibt es in Rojava eine demokratisch gewählte Regierung?
Abdulla Hawez:
Bisher hat es keine allgemeinen Wahlen gegeben. Die sogenannte ist mehr oder weniger mit der PYD-Partei gleichzusetzen, auch wenn diese das Gegenteil sagt. Die PYD behauptet, dass auch viele Araber und Christen in die Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Gleiches gilt auch für die Sicherheitskräfte. Sie versuchen, sich als unabhängige Polizei darzustellen. Doch sie alle sind mit der PYD verbunden und befolgen ihre Befehle.
Ist Oppositionsarbeit dann überhaupt möglich?
Abdulla Hawez:
Die PYD vergibt Lizenzen für registrierte Parteien. Ohne Lizenz sind keine politischen Aktivitäten erlaubt. Der größte Oppositionsblock, der weigert sich jedoch, eine solche Lizenz zu beantragen. Er hält die PYD-Administration für illegitim und will sich ihrem System nicht unterordnen.
Wenn eine Partei aber nun eine Lizenz beantragen würde, könnte sie dann arbeiten?
Abdulla Hawez:
Zumindest solange sie sich dem bestehenden System unterordnen und nicht gegen die PYD arbeiten. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, schienen aber keine große Hoffnung zu haben, der Vormachtstellung der PYD wirklich etwas entgegensetzen zu können. Ende September soll es Wahlen geben. Soweit ich weiß, nehmen daran aber nur Parteien teil, welche die PYD unterstützen. Der Kurdische Nationalrat boykottiert die Wahlen.
Wie steht es denn um einen weiteren Meilenstein der Demokratie: die Meinungs- und Pressefreiheit? Konntest du als Journalist ungehindert tätig sein?
Abdulla Hawez:
Ich selbst habe gute Verbindungen und konnte überall arbeiten. Ich kritisiere alle Seiten. Wenn die PYD davon überzeugt ist, dass man wirklich unabhängig berichtet, bekommt man auch eine Erlaubnis. Gegenüber Medien, die an andere politische Parteien angelehnt sind, verhält sich die Partei allerdings kompromisslos und aggressiv.
Kritiker der PYD berufen sich auf deren enge Verbindung zur PKK, welche auf der EU-Terrorliste steht. Dem entgegnen Befürworter, die PKK habe sich geändert und es sei unfair, sie an ihrer Vergangenheit zu messen. Stimmt das?
Abdulla Hawez:
Die PYD ist ganz ohne Frage ein Teil der PKK. Wesentliche Unterschiede zu der PKK kann ich nicht erkennen, und wenn, dann sind sie strategischer Natur. Die Ideologie des PKK-Führers Abdullah Öcalan wird nach wie vor hochgehalten. Gleichzeitig ist die PKK-Führung aber pragmatisch und passt sich den Realitäten an. Sie wissen, dass sie mit den USA kooperieren müssen und die ihnen hilft.
Wie siehst du die Zukunft von Rojava?
Abdulla Hawez:
Ich denke, Rojava wird fortbestehen. Womöglich wird das Territorium schrumpfen, aber für das Assad-Regime ist es praktisch unmöglich, die Kerngebiete zurückzuerobern. Auch der Türkei sind wegen der in Rojava die Hände gebunden. Die Regierung in Ankara weiß, dass Rojava bereits Realität geworden ist. Also versucht sie, es einzudämmen.
Obwohl ich denke, dass Rojava fortbestehen wird, sehe ich wenig Perspektive. Einerseits wegen der konfliktreichen politischen Situation, andererseits wegen der desolaten wirtschaftlichen Lage in Rojava. Persönlich glaube ich, dass die meisten Menschen Rojava in Richtung der Türkei verlassen würden, wenn die Türkei die Grenzen öffnete.
Westliche Sehnsucht
Die in Rojava eingeführten Elemente von Demokratie und Geschlechtergleichheit erinnern unmittelbar an westlich geprägte Normen und Werte. Mit Basisdemokratie und Gleichberechtigung lässt es sich leichter identifizieren als mit Königshäusern, Einparteiensystemen und Stammesstrukturen.
Entsprechend einseitig und sensationell fällt die Berichterstattung aus. Dabei werden Realitäten vor Ort, wie existierende seitens der PYD-Partei und der kritische Blick auf die YPG-Miliz und ihre Einbeziehung von Frauen, kaum beachtet.
Womöglich liegen die Gründe dafür in einer Sehnsucht, mit der westliche Beobachter auf die ihnen fremde Region schauen. Wenn diese Sehnsucht nach Anknüpfungspunkten und Identifikationsobjekten auf ein Gebilde wie Rojava projiziert wird, bleibt am Ende aber bloß eines: eine Perspektive, welche die Dinge nicht sieht, wie sie sind.
Die nähere Auseinandersetzung mit Rojava entlarvt eben einen auf Stereotypen basierenden Umgang des Westens mit dem Kurdengebiet in Syrien. Heraus kommen dabei allzu oft schwarz-weiß-malerische Bruchstücke der Realitäten vor Ort, auch in deutschen Medien und Politik.
Erst letzte Woche haben die Kurden im Irak gezeigt, dass sie dort einen eigenen Staat gründen wollen, und führten in den von ihnen verwalteten irakischen Gebieten ein durch. Sollten sie damit Erfolg haben und eines Tages auch den Norden Syriens für unabhängig erklären können, wird schon jetzt mehr differenzierte politische und mediale Aufmerksamkeit benötigt für das, was hinter den Kulissen der »Patriotischen Amazonen« in Rojava passiert.