Was Deutschland im Umgang mit der extremen Rechten von Norwegen lernen kann
Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl ist eine Zäsur, muss aber keine dauerhafte Demokratiekrise sein. Das zeigt ein Blick in den hohen Norden.
Norwegen ist in vielem ein wenig schneller als Deutschland. Das Land gilt als Klimavorreiter, 9 von 10 Neuwagen sind heute schon E-Autos. Die
Denn während der weltweite Vormarsch der extremen Rechten und eine AfD bei 20% in Deutschland noch eine Schockwelle auslösen, sind die Norweger:innen im Umgang damit längst routiniert.
Trotzdem ist Norwegen ein Vorbild für progressive Politik geblieben – anstatt rückwärtsgewandtem Nationalismus zu folgen. Wie haben sie das geschafft? Und kann Deutschland daraus etwas für den Umgang mit der vergleichsweise jungen AfD lernen?
Gegen den »Mainstream«
Als
»Sie haben immer geschaut, in welchen Bereichen sie eine alternative Meinung anbieten können und die Leute abholen können«, sagt Tobias Etzold. Etzold ist einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, die sich intensiv mit der Fortschrittspartei beschäftigt haben. Derzeit forscht er am Norwegischen Institut für Internationale Beziehungen in Oslo. Die norwegische Vorreiterrolle in vielen fortschrittlichen Projekten ist für ihn nur scheinbar ein Widerspruch zum frühen und langanhaltenden Erfolg der Rechtspopulist:innen. »Gerade weil Themen wie Diversität und Umweltschutz eine große Mehrheit hinter sich haben, gibt es Leute, die damit nicht einverstanden sind. Diesen Menschen hat die Fortschrittspartei eine Stimme verliehen und ist damit größer geworden.«

Nach dem Tod Langes öffnete sich die Partei auch programmatisch. Ging es vorher noch vor allem um Steuer- und Wohlfahrtsthemen, spielten nun auch Migration und kulturelle Identität eine große Rolle. In den 1990er-Jahren entwickelte sich die Fortschrittspartei zur erfolgreichsten radikal-nationalistischen Partei Nordeuropas – seitdem erreicht sie bei den Wahlen zum norwegischen Parlament (genannt »Storting«) stets 2-stellige Wahlergebnisse, 2005 und 2009 sogar mehr als 20%. Und sie wurde sogar mehrfach an norwegischen Regierungen beteiligt.
Kann ausgerechnet das eine Lösung sein?
Zwischen Mäßigung und Radikalisierung
In der Außenwirkung trennen beide Parteien jedoch Welten. Während sich die AfD zunehmend radikalisiert hat und in Teilen als gesichert
In der Sache wollen Fortschrittspartei und AfD mehr oder weniger dasselbe. Sie unterscheiden sich allerdings in ihrer Rhetorik und Radikalität.
Dass sich die Fortschrittspartei im Gegensatz zu den meisten anderen rechten Kräften in Europa gemäßigt statt radikalisiert hat, mag zum einen mit der versuchten Einbindung in die auf Konsens ausgerichtete norwegische Politikpraxis der Minderheitsregierungen zu tun haben. Es hängt vermutlich aber auch mit dem 22. Juli 2011 zusammen, einem der dunkelsten Tage der norwegischen Geschichte. Dem Tag, an dem Anders Behring Breivik bei seinem Attentat auf der Insel Utøya und im Regierungsviertel Oslos 77 Menschen tötete, die meisten davon junge Sozialdemokrat:innen während ihres Sommercamps.

Denn Breivik war nicht nur ein radikaler Islamfeind, sondern auch 7 Jahre lang Mitglied der Fortschrittspartei gewesen. In seinem vor der Tat verfassten Manifest erwähnte Breivik die Partei in mehr als 20 Zusammenhängen. Er lobte ihren migrationskritischen Ansatz, ihre Strategie und empfahl anderen westeuropäischen Bewegungen ausdrücklich das norwegische Modell. Ob er nun wegen eines parteiinternen Konflikts oder seiner generellen Abkehr vom demokratischen Weg austrat, bleibt unklar. Aus ideologischen Gründen, das zeigt die Lektüre seines Manifests, hat er die Partei jedenfalls nicht verlassen.
Nach der Tat begann eine intensive Debatte über die Mitschuld der Fortschrittspartei an Breiviks Attentat, an deren Ende deutliche Stimmverluste bei den kommenden Kommunal- und Stortingswahlen standen. Dies führte dazu, dass die Rechtspopulist:innen ihre Rolle als stärkste Kraft im rechten Lager einbüßten. »Erst durch diese Verluste ist die Fortschrittspartei überhaupt als Koalitionspartner für die konservative Høyre-Partei akzeptabel geworden«, sagt Tobias Etzold. Dass sich die Rechtspopulist:innen seitdem gemäßigter gaben und heute von manchen Beobachtern als konservative Kraft eingeordnet werden, hält er für eine mögliche Folge der Distanzierung von Breivik.
In der Regierung habe die Partei laut Etzold zwar Einfluss auf die immer schon etwas restriktivere Migrationspolitik Norwegens genommen, allerdings auch viele ihrer Forderungen nicht durchsetzen können. »Ich würde sagen, die Gesellschaft ist sich relativ treu geblieben. Es gibt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Mitte-rechts- und Mitte-links-Lager.«
Sind 5 Jahrzehnte Politik vom rechten Rand also einfach verpufft?
Offenheit trotz Rechtspopulismus
Ein Anruf bei Jonas Bals. Der Anstreicher, Gewerkschafter und Historiker war einige Jahre lang bei den norwegischen Sozialdemokrat:innen aktiv, 2024 trat er aus Kritik am aktuellen Führungsstil aus. Bals hat mehrere Bücher zur Geschichte des Faschismus geschrieben und beschäftigt sich intensiv mit dem norwegischen Rechtspopulismus. »10% werden niemals etwas anderes wählen«, sagt er über die Anhänger der Fortschrittspartei. »Dann gibt es weitere rund 10–20%, um deren Herzen und Köpfe wir kämpfen.«

- 1993 glaubten 35% der erwachsenen Norweger:innen, dass Einwanderer zu einer größeren kulturellen Vielfalt beitragen, 2021 waren es 73%.
- Der Anteil derer, die die Begrenzung von Migration für eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe hielten, sank parallel von rund 50% auf weniger als 20%.
Spricht man Bals darauf heute am Telefon an, hat er 2 Erklärungen. Die erste lautet: »Während sich in Schweden die Einwanderer in wenigen Gegenden konzentriert haben, hat die norwegische Politik dezentralere Strukturen geschaffen. Eine Folge davon war, dass viele Menschen direkte Erfahrungen mit Einwanderern gesammelt haben. Das ist sehr wichtig, um Fremdenfeindlichkeit zu überwinden.«
Wie stark ist die Fortschrittspartei?
Ihre besten Ergebnisse bei Stortingswahlen erreichte die Fortschrittspartei in den Jahren 2005 und 2009 mit jeweils mehr als 22% der Stimmen. 2021 reichte es nur zu 11,7%, dem niedrigsten Wert seit 1993. Aktuell profitiert die Partei aber von den schlechten Zustimmungsraten für die derzeitige Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre – und liegt Meinungsumfragen zufolge wieder im Bereich ihrer Wahlrekorde.
Die zweite hat mit der norwegischen Arbeitnehmer:innen-Politik zu tun.
Dass der Erfolg der Fortschrittspartei gesellschaftlich folgenlos geblieben sei, glaubt Bals allerdings nicht. »Die öffentliche Diskussionskultur hat sich geändert. Die Fortschrittspartei testet pausenlos ihre rhetorischen Grenzen aus. Auch wenn sie diejenigen rausschmeißen, die zu weit gehen und dabei erwischt werden, ist es schwieriger geworden, über echte Probleme wie Jugendkriminalität und soziale Kontrolle zu sprechen.« Und auch die sozialen Medien und der nach rechts rückende »Zeitgeist« machten vor dem hohen Norden nicht halt. In den neuesten Meinungsumfragen gehe der Trend wieder leicht in Richtung Migrationsskepsis.
Kritisch gegenüber Trump: Anders als die AfD sieht die Fortschrittspartei Trump gerade im Hinblick auf dessen Umgang mit der Ukraine kritisch. Hier greift die norwegische Solidarität.
Mehr oder weniger Brandmauer?
Vergleicht man Deutschland und Norwegen, sind es 2 sehr unterschiedliche Ansätze im Umgang mit der radikalen Rechten, die sich gegenüberstehen. Die Zusammenarbeit mit der rhetorisch gemäßigteren Fortschrittspartei ist in Norwegen, zumindest von konservativer Seite, weitestgehend normalisiert und treibt niemanden auf die Straße. Auch nur der Anschein einer Zusammenarbeit mit der AfD führt in Deutschland hingegen zu Massenprotesten und großem politischen Widerstand. Während Norwegen trotz Rechtspopulist:innen in der Regierung vergleichsweise progressiv geblieben ist,
Extremismusforscher Tobias Etzold kann dem pragmatischeren Umgang in Norwegen hingegen durchaus etwas abgewinnen. Er glaubt daran, dass die Rechtspopulist:innen so von außen moderiert werden konnten und das zu ihrer Mäßigung beigetragen hat. Den Vergleich mit der heutigen, radikalisierten AfD scheut er in diesem Zusammenhang, aber er sagt:
Hoffnung macht vor allem eines: Norwegen hat es trotz einer starken Partei am rechten Rand geschafft, eine konsensorientierte Gesellschaft zu bleiben. Und das nicht allein infolge des rechtsterroristischen Massenmords von Anders Behring Breivik, sondern vor allem durch tief verankerte soziale Werte und die kritische Auseinandersetzung mit menschenverachtender Ideologie und Rhetorik.
Es ist ein Grundkonsens, der in Norwegen trotz der Erfolge der Fortschrittspartei die Jahrzehnte überdauert hat – und den in Deutschland schon ein Bundestagswahlkampf mit AfD-Dauerpräsenz nachhaltig gefährdete. Es ist höchste Zeit, dass sich Politik, Medien und Gesellschaft ihrer Verantwortung bewusst werden. Ein Blick nach Norden dürfte dabei nicht schaden.
Redaktion: Dirk Walbrühl
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily