»Was brauchst du am dringendsten?« Diese Frage stellt die niederländische Journalistin Maite Vermeulen vielen Menschen, die in Entwicklungsländern unterhalb der leben. Direkt nach dem Studium wollte sie eigentlich selbst bei einer Hilfsorganisation anheuern, um nicht zu fragen, sondern um zu helfen. Vor über 4 Jahren entschied sich die junge Niederländerin anders und begann für das konstruktive zu schreiben. Ihre Motivation:
Die Menschen fühlen sich hilflos, wenn wir nur über das Problem der Armut sprechen. Journalisten müssen gegen diese Erschöpfung angehen und mehr darüber berichten, was getan werden kann.Maite Vermeulen
Wie schwer das ist, spürte Vermeulen vor allem, als sie nach dem schweren Erdbeben im Jahr 2010 in den Slums von Haiti recherchierte. 37 Sekunden bebte die Erde damals. Ein paar Augenblicke, die das Leben kosteten und Millionen obdachlos machten. »Was brauchst du am dringendsten?«, fragte sie dort auch den Haitianer Lebrun, der sein Haus durch das Erdbeben verloren hatte. Was er ihr dann sagte, erschütterte ihren Glauben, zu wissen, was Menschen in Krisensituation wirklich benötigen. In den letzten 2 Jahren hat Maite Vermeulen dann nachgespürt, ob Lebruns Perspektive die Welt retten könnte. Ihr Fazit hat sie mir im Interview verraten:
Ende 2014 recherchierst du auf Haiti, was Menschen dort helfen könnte. Ein paar Monate später stehst du auf einer Bühne in Amsterdam und dass es total öde sei, die Welt zu retten. Was ist die Lösung?
Maite Vermeulen:
Während meiner Recherchereisen machten mich viele Menschen auf die Lösung aufmerksam. Aber erst auf Haiti sprach Lebrun, der unterhalb der Armutsschwelle lebt, sie direkt aus. Es war nicht das, wozu uns die Werbung in der Weihnachtszeit aufruft zu spenden. Nicht Bildung, Essen oder Kleidung – sondern ein Katasteramt, also mehr Bürokratie. Das wünschen sich Menschen wie Lebrun.
Lebrun würde gern ein Backsteinhaus bauen, sagt er. Er will für die Materialien sparen. Aber was, wenn jemand eines Tages vor seiner Tür steht und behauptet, das Land, auf dem er wohnt, zu besitzen? Seine Ersparnisse wären auf einen Schlag dahin.aus dem Artikel von Maite Vermeulen
Bürokratie für alle!
Wenn ich Bürokratie google, lautete eine Definition: »engstirnige, umständliche Beamtenwirtschaft«. Ist das unbürokratische Leben für Menschen in armen Ländern nicht schon kompliziert genug?
Maite Vermeulen:
Sieh es doch mal so: Bürokratie ist das System, das Prozesse so organisiert, dass sie für alle gleich sind. Dadurch bekommst du auch eine Baugenehmigung, wenn du sie brauchst. Bei dem Erdbeben auf Haiti wurden auf einen Schlag obdachlos. Wenn die Menschen dort die Möglichkeit bekommen, ihren Grund und Boden bei einem Katasteramt zu registrieren, könnten sie darauf stabile Backsteinhäuser bauen anstelle der wackligen Hütten, die beim nächsten Erdbeben wieder wie Kartenhäuser zusammenklappen. Außerdem ist ein Katasteramt notwendig, um Steuern einzutreiben. Napoleon richtete in den Niederlanden die ersten Katasterämter ein, um durch die Steuern seine Kriege zu finanzieren. Ohne eine funktionierende Verwaltungen geht Staaten viel Geld durch die Lappen.
Heute können wir uns kaum vorstellen, wie kompliziert die Welt ohne Bürokratie wäre. Aber versuchen wir es einmal: ein Leben ohne Adresse, ohne Sozialversicherungsnummer. Könnten wir ein Bankkonto eröffnen? Nein. Ein Unternehmen gründen? Auf gar keinen Fall. Wählen gehen? Niemals.aus dem Artikel von Maite Vermeulen »What’s deadly dull and can save the world?«
Hilfsorganisationen verschätzten sich beim Wiederaufbau auf Haiti um Warum finanzieren sie immer noch nicht mehr in die Menschen Land zuteilen, auf denen sie ihre Häuser selbst aufbauen können?
Maite Vermeulen:
Ganz einfach, weil das Konzept Bürokratie als Hilfsmaßnahme langweilig und kompliziert ist. Nach dem Taifun war ich ein paarmal auf den Philippinen und in Nepal. Ich bekam das starke Gefühl, dass Hilfsorganisationen sich eher auf die Regionen konzentrierten, die für Journalisten leicht zu erreichen waren und wo sie ein klares Bild davon bekamen, wofür die Spendengelder genutzt wurden: zum Beispiel für den Bau bestimmter Häuser und Schulen. Alle Maßnahmen, die sich nicht so einfach darstellen lassen, sind schwer zu vermitteln. Denn ihr Einfluss kann nicht direkt gemessen werden.
1.019 Jahre bis zur Weltrettung?
Dass Bürokratie die Welt retten kann, klingt erst einmal sehr konstruktiv. Doch ist die Idee überhaupt umsetzbar?
Maite Verbeulen:
Diese Frage habe ich mir natürlich nach meinem TEDx Talk auch gestellt. Und ich bin auf Antworten gestoßen, die zeigen, wie unrealistisch es ist, in Entwicklungsländern ein ähnliches Verwaltungssystem aufzubauen wie in den Niederlanden. In Uganda wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem mit dem neuesten Computersystem Landparzellen und Grundstücke vermessen werden sollten. Das niederländische Katasteramt errechnete aber, dass auf diesem Wege die Vermessung von Uganda
Die Antwort hätte ich jetzt nicht erwartet. Also Daumen runter für die Bürokratie in Entwicklungsländern?
Maite Vermeulen:
Noch nicht. Wir müssen das Problem aus einer anderen Richtung angehen: Eine Möglichkeit wäre, die Registrierung der Grundstücke an einen Zensus zu knüpfen. In vielen Schwellenländern findet ungefähr alle 10 Jahre eine solche Volkszählung statt. Die Menschen müssen vor Ort gezählt werden. Wie wäre es also, wenn jeder Zähler auch eine Kamera und ein Gerät mit GPS-Ortung mitnehmen würde? So könnte er Koordinaten mit den Menschen verbinden, die dort leben. Das heißt aber leider noch nicht, dass ihnen das Land automatisch gehört.
Warum?
Maite Vermeulen:
Vor allem in ländlichen Regionen ist das Interesse an Grundstücksurkunden sehr gering. In Ruanda wurden mithilfe von Luftaufnahmen und Bauern, mit denen man Grundstücksgrenzen ablief, Ruander konnten sich danach für 8 US-Dollar eine offizielle Grundstücksurkunde abholen. Aber 3 Millionen dieser Dokumente blieben liegen. Einige Hilfsorganisationen konzentrieren sich jetzt darauf, den Menschen zu erklären, warum die Papiere wichtig für sie sind. Dass sie damit ein Darlehen bei einer Bank aufnehmen können, dass damit kein chinesisches Großunternehmen einfach so eine Straße durch ihr Land bauen kann und dass ihre Kinder das Grundstück rechtmäßig erben werden.
Gibt es noch andere Lösungen, die du dir gerne genauer anschauen möchtest?
Maite Vermeulen:
Momentan recherchiere ich zu den der NGO in Afrika. Die Organisation macht nichts anderes, als Geld direkt an Bedürftige zu verteilen – eine Art Momentan ist es noch ein Forschungsprojekt. Ich sehe darin aber bereits eine große Veränderung, wie wir in Zukunft über Entwicklungshilfen nachdenken werden. Ich glaube, dass es viel effizienter ist, den Menschen das Geld direkt zu geben, damit sie sich selbst helfen können.
Das Weltretter-Image von Hilfsorganisationen bleibt dann auf der Strecke …
Maite Vermeulen:
Ich hatte bei meinen Recherchen immer das Gefühl, dass Menschen, die für ihr Land verantwortlich sind und etwas bewegen können, nicht genug unterstützt werden. Meist geben Hilfsorganisationen die Verantwortung erst an Einheimische ab, wenn die großen Geldtöpfe ausgeschöpft sind. Aber dieser Gedanke gehört an die erste Stelle. Auf Haiti leiten Hilfsorganisationen immer noch Wie soll das Bildungsministerium an seinen Aufgaben wachsen, wenn es kaum Einfluss auf die Bildung hat? Dafür müssen Hilfsorganisationen einen Schritt zurücktreten und anderen das Rampenlicht überlassen. Um die Welt zu retten, brauchen wir mehr langweilige und unspektakuläre Lösungen und weniger Samariter.
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.