Europa rüstet auf: Ist das wirklich alternativlos?
Ein Aktivist und ein Experte schätzen ein, was verantwortungsbewusste Verteidigung bedeutet.
Was einst als Tabu galt, scheint aktuell Konsens: Europa muss aufrüsten – und mobilisiert Milliarden für Panzer, Raketen und Munition.
Am 21. März einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten auf einen gemeinsamen Plan zur Wiederaufrüstung Europas, den die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Wochen zuvor vorgestellt hatte.
Komplett neu ist diese Entwicklung nicht. Bereits seit 2014, nachdem Russland in den Osten der Ukraine eingefallen war, haben europäische Staaten ihre Rüstungsausgaben erhöht.
Währenddessen regt sich in Medien und Zivilgesellschaft nur leiser
Das haltet ihr von den Aufrüstungsplänen der EU bzw. Deutschlands:
Doch wie zwingend ist diese militärische »Zeitenwende«? Gibt es Alternativen für die Friedenssicherung? Und falls diese nicht umsetzbar sind: Wie können wir Aufrüstung verantwortlich gestalten, um ein Wettrüsten zu vermeiden?
»Wir geraten in einen Eskalationszyklus«
Jakob de Jonge bereitet die Entwicklung in Europa große Sorgen.
De Jonge kann nicht nachvollziehen, wie Europa davon überzeugt sein kann, den Konflikt mit Russland militärisch zu lösen: »Wir haben so viele Waffen in die Ukraine gesteckt, aber sind selbst mit Unterstützung der USA offenbar nicht in der Lage, Russland aus der Ukraine zu drängen.« Diplomatisch hätte man dem Land besser helfen können, ist er nach wie vor überzeugt.
Generell unterstützt er die derzeitige Aufrüstung Europas nicht. Zu groß sei die Gefahr einer Aufrüstungsspirale, wie sie Europa vor dem Ersten
»Wir geraten in diesen Eskalationszyklus, in dem jede Partei Entscheidungen trifft, die ihrer Meinung nach gut für die eigene Sicherheit sind. Aber diese Maßnahmen werden von der anderen Partei wiederum als Provokation interpretiert«, sagt de Jonge.
Die Folge: Auch die andere Partei rüstet auf,

Andere Theoretiker:innen der Internationalen Beziehungen sagen hingegen, starke militärische Mittel auf beiden Seiten könnten für einen Machtausgleich sorgen, und damit für mehr Stabilität. Diese
De Jonge lässt dieses Argument nicht gelten. Er ist der Auffassung: »Während des Kalten Krieges gab es ein Machtgleichgewicht, nicht wegen der Atomwaffen, sondern vor allem, weil regelmäßige diplomatische Kontakte stattfanden.«
Seiner Ansicht nach befinden wir uns im Übergang von einer »unipolaren« zu einer
Worin liegt diese Alternative?
»Wir müssen Kriege beenden. Nicht gewinnen«
Friedensaktivist de Jonge wünscht sich mehr »Kreativität« vonseiten der EU. Er möchte nicht, dass sie auf dieselben vermeintlichen Lösungen setzt wie die USA in einem veralteten System des letzten Jahrhunderts, so drückt er es aus. Er wünscht sich neue Visionen, die die aktuellen Verhältnisse der Weltbühne besser reflektieren.
Er schlägt folgende Punkte vor:
- Neue Narrative: Zuerst müsse man sich von dem Narrativ der »Abschreckung« und des »Sieges« lösen. Denn in einer multipolaren Welt, in der mehrere Länder Atomwaffen besitzen, sei dieses nicht mehr passend. »Wir müssen keine Kriege gewinnen. Wir müssen Kriege beenden.«
Auch das Narrativ, die eigene Sicherheit durch Investitionen in die Verteidigung zu wahren, müsse hinterfragt werden: »Unsere Sicherheit hängt von der Sicherheit unserer Gegner ab und umgekehrt.« Kurz: Nur durch Rücksicht auf die Sicherheitsbedürfnisse anderer Länder machen wir die Welt stabiler. - Kriegsrhetorik vermenschlichen: De Jonge sagt: »Die Menschen sprechen nur abstrakt über Aufrüstung.« Dass diese im konkreten Fall dazu beitragen könne, das eigene Haus durch einen Raketenangriff zu verlieren, selbst in den Krieg ziehen zu müssen und Menschen zu töten – darüber sprächen die wenigsten. Deshalb fordert er: »Wir müssen die Kriegsrhetorik wieder vermenschlichen.« Er ist sicher: Dann gäbe es mehr Widerstand gegen die Aufrüstungspläne.
- Diplomatie und neue Sicherheitsordnung:
Mithilfe von Diplomatie könne eine neue, globale Sicherheitsordnung geschaffen werden, die die aktuelle internationale Lage besser reflektiere. Zu dieser neuen Ordnung gehören laut de Jonge Abkommen zwischen Staaten, die ein Aufrüsten beschränken. In den letzten Jahren des Kalten Krieges wurden viele solcher Abrüstungsabkommen zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossen, was unter anderem zur Abkühlung der Feindseligkeiten führte. Laut de Jonge müssen diese nicht mehr nur zwischen Russland und den USA, sondern auch mit neuen Großmächten, wie China, ausgehandelt werden. Zudem wünscht er sich eine
Was aber, wenn die andere Partei nicht sprechen will? Für de Jonge gilt: Die EU müsse ihre Außenpolitik auch selbstkritisch reflektieren. Es seien nicht immer nur die anderen Parteien, die nicht sprechen wollten. Und selbst wenn: Europa müsse immer versuchen, diplomatische Kanäle offen zu lassen. Denn ansonsten würden Konflikte mit militärischen Mitteln ausgetragen. Und dies sei unter allen Umständen zu vermeiden. - In Frieden investieren: De Jonge beklagt, dass zuletzt Gelder für die Entwicklungshilfe und interkulturelle Zusammenarbeit in den Niederlanden gekürzt wurden.
Hoffnung, dass seine Vorstellung bald Realität wird, hat de Jonge im Moment wenig. Aktuelle politische Verantwortliche hätten zu sehr einen »Tunnelblick«. Stattdessen setzt er auf Politiker:innen der Zukunft. Und auf »verantwortungsbewusste« Bürger:innen, wie er sie nennt.
Dafür hat er die »Neue Friedensinitiative« gegründet, einen Zusammenschluss von 15 niederländischen Friedensorganisationen. Gemeinsam wollen sie ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es Alternativen zur Aufrüstung gibt, und Menschen auf die Straße bringen, um diese einzufordern.
Gleichzeitig arbeitet die Europäische Union weiter an ihrer militärischen Unabhängigkeit von den USA. Die Aufrüstung schreitet voran. Doch eine entscheidende Frage bleibt: Kann das überhaupt auf ethisch verantwortliche Weise geschehen?
Verteidigung, ja. Aber kein »blindes Aufrüsten«
Anruf bei Max Mutschler. Er forscht am
Er sieht die aktuelle Situation mit etwas anderen Augen und ist überzeugt: »Aufrüstung kann in der Tat der Friedenssicherung dienen.« In Verteidigung zu investieren, wenn es keine übergeordnete Gewalt gebe, die vor einem Angriff schütze, sei legitim. Jedoch nur unter bestimmten Bedingungen.

Zunächst sei eine richtige Bedrohungsanalyse nötig. Das heißt: Schauen, wo liegt die Gefahr, auf welche können wir reagieren, und wo haben wir hingegen noch Lücken? Wenn man einfach blind hochrüste, wie es Mutschler ausdrückt, entstehe eine gefährliche Rüstungsdynamik. Stichwort: »Sicherheitsdilemma«, wie es schon de Jonge angesprochen hat.
Ein weiterer wichtiger Schritt sei die sogenannte Rüstungskontrolle. Diese müsse von Anfang an mitgedacht werden.
Das Konzept besteht aus 3 wichtigen Prinzipien:
- Krieg verhindern: Das oberste Ziel der Rüstungskontrolle lautet: Man muss mit allen Mitteln eine Situation vermeiden, in der Krieg wahrscheinlich wird. Dies ist laut Mutschler gegeben, wenn eine Seite das Gefühl bekommt, sie muss jetzt angreifen, um nicht selbst angegriffen zu werden. »Zu Anfang des Kalten Krieges galt der Spruch: Wenn man denkt, die andere Seite steht kurz vor dem Erstschlag, muss man selbst den Erstschlag ausführen.« Die gestiegene Präzision und Reichweite moderner Waffen erhöhe die Gefahr einer Eskalation – umso wichtiger sei es, dieser Dynamik gezielt entgegenzuwirken.
- Ressourcenaufwand begrenzen: Statt viel Geld in Verteidigung zu investieren, das dann an anderer Stelle fehle – etwa in den Bereichen Bildung oder Gesundheit –, sollten nur die wirklich nötigen Finanzmittel aufgebracht werden. Eine richtige Bedrohungsanalyse gebe Klarheit darüber, wie viel Geld tatsächlich nötig sei.
- Schaden so gering wie möglich halten: Komme es doch zum Krieg, gelte es, so wenig Leid wie möglich zu erzeugen – etwa durch den Einsatz von Waffensystemen, die möglichst wenig Zerstörung anrichten. Mutschler erklärt: »Wollen wir Raketen mit hoher Sprengkraft in städtischen Gebieten einsetzen, wo vor allem Zivilist:innen die Leidtragenden sind? Was ist mit Nuklearwaffen?« Solche ethischen Fragen müssten mitgedacht werden.
Wie kann Rüstungskontrolle in der Praxis aussehen? Zum Beispiel, indem man zeitgleich zur Aufrüstung auch Obergrenzen für die Anzahl an Waffen festlege, erklärt Mutschler und fügt hinzu: »Am besten verhandelt man dabei mit der Gegenseite, um Abkommen zu schließen, in denen sich beide auf bestimmte Obergrenzen einigen.« Oder darauf, dass Waffenkontingente von beiden Seiten schrittweise wieder abgebaut werden.
Ähnlich wie in den Abrüstungsverträgen zwischen den USA und der Sowjetunion, die Jakob de Jonge angesprochen hat.
Bekanntes Beispiel: Der
Gerade deshalb müsse man daran arbeiten, sie wiederherzustellen, sagt Mutschler: »Bei allen gegensätzlichen Interessen, die uns jetzt von Russland trennen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch gemeinsame Interessen haben.« Zum Beispiel, einen Krieg zu vermeiden, der in die nukleare Dimension abdriftet. »Diese gemeinsame Position kann ein Ausgangspunkt für erfolgreiche Rüstungskontrolle sein«, schließt der Rüstungsexperte.
Schauen wir also auf die aktuellen Verteidigungspläne der Europäischen Union. Wird dort Rüstungskontrolle mitgedacht?
»Die eigentliche Zeitenwende ist noch nicht passiert«
Mutschler findet kritische Worte für die Pläne der EU: Er sehe wenig Bereitschaft für Rüstungskontrolle.
Das haben wir zuletzt bei der Debatte um die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland durch die USA gesehen. Man hätte parallel ein Angebot an Russland machen sollen und sagen: Wir rüsten in diesem Bereich auf, sind aber bereit, mit euch eine Begrenzung zu verhandeln und später eventuell Schritt für Schritt gemeinsam wieder abzurüsten. Dies ist leider nicht passiert.
Überhaupt ist für Mutschler das, was Europa jetzt plant, keine Wiederaufrüstung. Denn viele EU-Staaten investierten seit Jahren schon viel Geld in Rüstung. Europäische NATO-Mitglieder gäben sogar mehr Geld für das Militär aus als Russland. Daraus schließt Mutschler: »Wir müssen nicht mehr Geld investieren, sondern wir müssen es effizienter investieren.«
Kann sich die EU ohne die USA verteidigen?
Max Mutschler meint: »Ja«. Waffen von den USA zu bestellen, sei oft eine politische Entscheidung gewesen, um gute Sicherheitsbeziehungen zu wahren. Auch wenn die USA Vorreiter in gewissen Waffentechniken seien, könne Europa dennoch seine Autonomie stärken. Denn dafür braucht es laut Mutschler nicht immer die besten Hightechwaffen. »In der Ukraine sehen wir, dass gerade mit einfachen Waffensystemen Krieg geführt wird.«
Das Problem liegt ihm zufolge in den Strukturen. Denn obwohl die EU in Summe über genug technisches Know-how, Rüstungsfabriken und Soldat:innen verfügt, ist das alles nicht gut auf eine gemeinsame Verteidigung abgestimmt.
Was er sich wünscht, wäre mehr Zusammenarbeit auf europäischer Ebene: Bei der Beschaffung, der Entwicklung und Erforschung von
Doch nationale Interessen verhindern diese Zusammenarbeit. Denn im Falle einer europäischen Vereinheitlichung müssten sich einige nationale Hersteller aus dem Markt zurückziehen, Standorte würden geschlossen. Lobbyist:innen der Rüstungsindustrie und einige nationale Politiker:innen setzen natürlich alles daran, dies zu
Aus diesen Gründen sagt Mutschler: »Die eigentliche Zeitenwende, die hat es noch gar nicht gegeben.« Diese trete erst ein, wenn die Ausgaben für das Militär europäisch vereint würden, um dadurch nationale Verteidigungshaushalte zu entlasten. »Die EU war ja mal als ziviles Friedensprojekt gedacht«, fügt Mutschler hinzu.
Einfach nur mehr aufzurüsten, wie es gerade geschieht, das passt nicht dazu.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily