Was du zum Kampf um die Demokratie in der Türkei wissen musst
Erst wird der wichtigste Oppositionspolitiker festgenommen, nun Massenproteste. Wie das System Erdoğan funktioniert und warum es bröckelt.
Es gibt dieses Protestlied des türkischen Rappers Şanışer. Es heißt »Susamam« (deutsch: »Ich kann nicht schweigen«). Darin besingen er und 19 weitere Musiker:innen die Missstände in der Türkei. Es geht um Korruption, misshandelte Frauen, Polizeigewalt, Umweltschutz und Faschismus. Das Video dazu hatte 2019 eine Woche nach seiner Veröffentlichung bereits mehr als 20 Millionen Aufrufe. In der Kommentarspalte darunter sind in den vergangenen Wochen viele neue Beiträge hinzugekommen. »Und hier sind wir wieder«, schreibt eine Person. »Ich hoffe, dass die Dinge anders sein werden, wenn ich das nächste Mal dieses Lied höre«, jemand anderes.
In der Türkei läuft aktuell der vielleicht letzte Kampf um den Fortbestand der dortigen Demokratie. Mitte März wurde Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister Istanbuls, abgesetzt und verhaftet – wenige Tage zuvor war ihm bereits das für eine Präsidentschaftskandidatur notwendige Universitätsdiplom entzogen worden. Der beliebte Politiker der oppositionellen

Die Lage wirkt schlecht, aber sie ist nicht hoffnungslos. Denn dass sich Erdoğan überhaupt zu einem solch radikalen Schritt hat hinreißen lassen, zeigt 2 Dinge:
- Die Machtbasis, mit der er seit mehr als 2 Jahrzehnten in unterschiedlichen Rollen die türkische Politik dominiert, bröckelt.
- Erdoğan hat die Breite und Größe des Protests gegen die Verhaftung seines größten Rivalen unterschätzt.
Nie war es wichtiger als jetzt, das System Erdoğan zu verstehen. In Zeiten, in denen weltweit Autokratien auf dem Vormarsch sind und die internationale Ordnung wankt, kämpft die Türkei vielleicht ein letztes Mal um ihre Demokratie. Im Verständnis dieser Machtbasis liegt auch der Schlüssel dafür, wie seine autokratische Dauerherrschaft enden könnte – und was dafür geschehen muss. Denn noch ist in der Türkei nicht alles verloren.
Ein chronisch instabiles Land
Wer verstehen will, warum Recep Tayyip Erdoğan so lange Zeit so beliebt war, muss ein wenig früher ansetzen. Am besten gleich bei Mustafa Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei. Wer heute durch Istanbul läuft, sieht überall sein Gesicht. Einmal im Jahr steht zum Zeitpunkt seines Todes eine Minute lang das gesamte Land still.

4 Mal putschte das
Hinzu kam der Konflikt mit der kurdischen Minderheit im Land, der immer wieder gewaltsam ausbrach. Als Erdoğans Partei AKP 2002 an die Macht gelangte, sprach wenig dafür, dass sie sich dort mehr als 2 Jahrzehnte lang würde halten können. »Das ist eine der größten Überraschungen in der Geschichte der türkischen Politik«, sagt Ismail Küpeli.
Küpeli ist in diesen Tagen ein gefragter Gesprächspartner, wenn es darum geht, die aktuelle Situation zu erklären. Der Politikwissenschaftler hat zur kurdischen Frage in der Türkei promoviert und ist zudem Experte für Nationalismus und Rechtsextremismus. Ideologien, die für Erdoğans Herrschaft heute eine große Rolle spielen. Küpeli unterscheidet dabei allerdings zwischen 2 Phasen. »Bis 2015 war es so, dass es einem Großteil der türkischen Wähler:innen unter der AKP-Regierung einfach besser ging.« In den kurdischen Gebieten herrschte relativer Frieden, im Rest der Türkei relativer Wohlstand. Die AKP war so beliebt, dass sie sich auch in freien Wahlen locker durchsetzte. Parallel baute sie allerdings auch schon ihre Kontrolle über die Institutionen bis in die 2010er-Jahre enorm aus. »Die AKP hat den Staat weitgehend übernommen. Danach war der politische Wettbewerb generell unfair«, sagt Küpeli. Vergleiche zu US-amerikanischen Plänen von heute drängen sich auf – auch wenn die Länder sehr unterschiedlich sind.

Reform und Repression
Nach der Aufhebung seines Politikverbots konnte Erdoğan ab 2003 als Ministerpräsident regieren. In seiner ersten Amtszeit gab er sich noch als demokratischer Reformer. Er setzte sich für Minderheitenrechte ein, schaffte die Todesstrafe ab, beschnitt die Befugnisse des Militärs und arbeitete an einem EU-Beitritt der Türkei. Als konservativer Muslim von der Schwarzmeerküste wurde er zum Idol der religiösen Bevölkerung Anatoliens, die lange Zeit von der westlich geprägten Elite dominiert wurde. Sie hielten ihm auch dann die Treue, als die Reformen stockten und die
Als die Unzufriedenheit mit seiner praktischen Politik wuchs, baute Erdoğan noch stärker auf die Mobilisierung islamistischer und nationalistischer Wählerschichten.
Erdoğan entwickelte sich vom vermeintlichen Reformer zum Kulturkämpfer. Die Rhetorik seiner Reden wurde schärfer, er wandte sich nun vor allem gegen den Westen und die kurdische Minderheit. »Es gelang der AKP immer schlechter, durch als positiv wahrgenommene Politik Zustimmung zu generieren. Sie musste daher auf ideologische Mobilisierung und ganz konkrete Wahlfälschung zurückgreifen«, sagt Küpeli. Manch einer half Erdoğan in dieser Zeit unfreiwillig. Die EU, weil sie den türkischen Beitrittsprozess immer wieder bremste und damit Erdoğans Opfermythos bediente. Die übrigen türkischen Parteien, weil sie sich chronisch zerstritten zeigten und sich durch antikurdischen Nationalismus auf die Regierungsseite ziehen ließen. »Die Opposition hat in all den Jahren oft nicht verstanden, worauf es ankommt.«
Im Laufe der Jahre nahm die Repression in der Türkei weiter zu. Während der sogenannten
Dennoch wurden Erdoğans Wahlergebnisse mit der Zeit immer schlechter. 2017 stimmte noch eine knappe Mehrheit für eine Verfassungsänderung, die ihm nach seinem Wechsel ins Präsidentenamt mehr Befugnisse ermöglichte. Bei den Kommunalwahlen 2019 verlor die AKP die Hauptstadt Ankara und die größte Metropole Istanbul an die CHP, 5 Jahre später sogar den Status als landesweit stärkste Partei. 2023 erreichte die AKP bei den Parlamentswahlen bloß noch 35,6% der Stimmen, ihr geringster Anteil seit über 20 Jahren, und konnte sich nur durch die Unterstützung ihrer rechtsextremen und islamistischen Koalitionspartner an der Macht halten. Bei der parallel stattfindenden Präsidentschaftswahl setzte sich Erdoğan trotz großer Hoffnungen der Opposition knapp gegen deren gemeinsamen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP durch.

Der ideale Kontrahent
»Müsste ich den idealen Politiker erschaffen, der Recep Tayyip Erdoğan schlagen kann, es wäre Ekrem İmamoğlu.«
Dass das Momentum der Opposition mit der Enttäuschung von 2023 nicht endete, hat vor allem mit Ekrem İmamoğlu zu tun. Es gibt einige Parallelen zwischen Erdoğan und ihm. Beide wurden Oberbürgermeister von Istanbul, haben ihre Wurzeln an der Schwarzmeerküste und sind gut darin, unterschiedliche Wählergruppen anzusprechen. İmamoğlu sei sowohl für den eher türkisch-nationalistischen Flügel der CHP als auch für die linke kurdische Opposition akzeptabel, sagt Ismail Küpeli. »Durch İmamoğlus Doppelrolle als Istanbuler Oberbürgermeister und Kandidat, der verschiedene politische Lager auf sich vereinigen kann, ist es für die CHP der günstigste Moment seit vielen Jahren.«

Dass Erdoğan diese Stärke seines Kontrahenten nervös machte, zeigte sich nicht erst in dessen Verhaftung, sondern auch in der Politik der vorherigen Monate. Da er laut türkischer Verfassung eigentlich keine vierte Amtszeit als Präsident anstreben dürfte, blieben mit Blick auf die für 2028 geplante nächste Wahl 2 Optionen zum persönlichen Machterhalt: Vorgezogene Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung. In dieser Situation trieb das Erdoğan-Lager den Friedensprozess mit dem eigentlichen Staatsfeind Nr. 1 Abdullah Öcalan und seiner kurdischen
In dieser verfahrenen Situation wird nun İmamoğlu im März 2025 verhaftet. Was in den Wochen danach bis heute geschieht, zeigt auch, dass eine parlamentarische Kooperation zwischen linken kurdischen Abgeordneten und der AKP immer unwahrscheinlicher geworden ist. Denn die Solidaritätsbekundungen reichen von der extrem rechten, aber Erdoğan-kritischen »Partei des Sieges« bis zur linken kurdischen Opposition. »Das ist ein Spektrum, das jenseits solcher besonderen Ereignisse nie zusammenkommen wird«, sagt Ismail Küpeli.
Der Politikwissenschaftler glaubt, dass Erdoğan neben der Einigkeit seiner Gegner:innen auch die Mobilisierungskraft der jungen Generation überrascht habe. In Regierungskreisen habe wohl die Hoffnung vorgeherrscht, dass die 20-Jährigen, die nur die AKP an der Spitze des Staates kennten, die Verhaftung İmamoğlus einfach hinnehmen würden – dass der Status quo und Gewohnheit die Herrschaft zementieren würden. »Das hatten Erdoğan und die AKP unterschätzt – und ich ehrlich gesagt auch«, sagt Küpeli. Es scheint, als sei nun der Moment gekommen, wo sich die jahrelange Unzufriedenheit über die Unterdrückung auf der Straße entlädt.
Der Druck auf Erdoğan ist plötzlich sichtbar und groß. Allein zur größten Demo im Istanbuler Stadtteil Maltepe kamen Hunderttausende, die CHP sprach sogar von 2,2 Millionen Menschen. Aber kann er wirklich zum Erfolg führen?
Warten auf internationale Unterstützung
Vieles wird dabei von denjenigen abhängen, die anders als İmamoğlu und einige seiner Unterstützer:innen noch nicht in Haft sitzen. Nicht wenige Türk:innen hoffen, dass sie gerade den Anfang vom Ende der Herrschaft Erdoğans erleben. Und es gibt mehrere positive Anzeichen dafür, dass ihre Hoffnung begründet ist:
- Die Opposition steht zusammen. Sie hat ihre ideologischen Widersprüche überwunden und ist laut – das ist deutlich anders als noch 2016, als Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der kurdischen HDP, verhaftet und bis heute nicht entlassen wurde. Die CHP bricht nicht in Flügelkämpfe aus und hat durch die Wahl von İmamoğlus Stellvertreter Nuri Aslan zum Istanbuler Oberbürgermeister erfolgreich verhindert, dass die Regierung eine:n staatlichen Zwangsverwalter:in aus ihren Reihen ernennt.
- Ein Symbol des Widerstands findet sich derzeit in İmamoğlus Ehefrau Dilem. Sie hat für ihre bemerkenswerten Reden viel Aufmerksamkeit erhalten. Auch Ekrem İmamoğlu selbst gibt sich aus der Haft kämpferisch, entwickelt sich zur Stimme aller, die vom Regime unterdrückt werden – und spricht aus, was viele denken. Ende März veröffentlichte er in der New York Times einen Meinungsbeitrag. Darin nennt er die Türkei eine »Republik der Angst« und sieht die große Gefahr, dass sein Land einen Punkt ohne Wiederkehr auf dem Weg zum Autoritarismus überschreite. »Niemand ist sicher. Innerhalb eines Augenblicks können Wählerstimmen annulliert und die Freiheit genommen werden.« İmamoğlu kritisiert in seinem Text allerdings auch die zu schwachen internationalen Reaktionen auf seine Festnahme.
Es ist eine Kritik, der sich Ismail Küpeli anschließt: »Eigentlich könnte man ganz viel tun. Die Türkei ist nach wie vor auf gute Beziehungen mit Deutschland und der EU angewiesen – sowohl im Bereich der Zollunion als auch bei Investitionen.« Es würde laut Küpeli auch schon helfen, wenn sich deutsche Politiker:innen deutlicher äußern würden, »damit Erdoğan sieht, dass er nicht nur im eigenen Land Millionen Menschen gegen sich hat, sondern auch der Westen sich anders positioniert«.
Hoffnung auf Rückenwind aus der EU hat Küpeli allerdings wenig, gerade mit Blick auf andere autoritäre Regime wie Ungarn. »Wie will man die Türkei für Dinge kritisieren, die auch in den EU-Ländern passieren? Das ist die große Problematik.«

Das Hoffnungsszenario
Für Küpeli gibt es 2 mögliche Szenarien, wie es in der Türkei weitergeht:
- Die Regierung sieht ein, dass sie sich verschätzt und den Bogen überspannt hat. Ekrem İmamoğlu wird wieder freigelassen. Es gibt Wahlen, an denen er teilnehmen kann.
- Die Regierung versucht wie 2013 den Widerstand gewaltsam zu zerschlagen. Dann würden freie Wahlen für die Türkei in weite Ferne rücken, die junge Generation ihre Hoffnung auf einen friedlichen Machtwechsel verlieren. Die Folgen: Zunehmende Emigration, politische Gewalt und möglicherweise eine weitere internationale Isolation der Türkei. Ob Erdoğan dies riskieren will, ist fraglich.
Die Erfahrung und die repressive Reaktion der türkischen Regierung auf die Proteste sprechen eher für Variante 2. Doch etwas bereite ihm Hoffnung, sagt Küpeli. »Die Menschen gehen immer wieder auf die Straße, obwohl sie wissen, dass die Polizei sie angreifen wird und sie in Haft vielleicht Folter erleben werden. Das Engagement, gerade der jungen Menschen, ist nach wie vor sehr stark.« Die Demokratie in der Türkei werde sicherlich nicht daran scheitern, dass sich zu wenige für sie einsetzten.
Am Taksim-Platz, dem symbolhaften Zentrum Istanbuls, wird das »Denkmal der Republik« der kemalistischen Gründungsväter der Türkei seit 2021 von einer neuen Moschee überragt. Wer vor ihr steht, blickt genau auf den Gezi-Park, den Ursprung der riesigen Proteste vor 12 Jahren. Im einstig pulsierenden Nachtleben der Umgebung ist es merklich ruhiger geworden. Was als säkular gilt, ist zunehmend in den Hintergrund gerückt. Wenn die Opposition weiter so groß und geschlossen bleibt, könnte Istanbul bald auch wieder der Ort für die vielfältigen Lebensentwürfe aller Türk:innen sein.
Redaktion: Dirk Walbrühl
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