Auf zwei Rädern in die Zukunft: Die Geschichte der Fahrradstadt
Fahrradfahren boomt, die Fahrradstadt erscheint als zukunftsweisendes Mobilitätskonzept in der Raumplanung. Doch ist diese Idee wirklich neu? Ein Blick in unsere Nachbarländer.
Nicht nur heute gilt das
In England nannte man diese Zweiräder »Hobby Horse«
Demokratisierung des Fahrrads
In den 1890er-Jahren kamen die ersten modernen Fahrräder mit Pedalantrieb und Luftreifen auf den Markt, und mit ihrer Popularisierung setzte eine kleine Revolution ein. In der Schweiz wurde das Fahrrad aus heimischen Fabriken wie Condor und Villiger mit einem Preis ab 82 Franken für breite Gesellschaftsschichten erschwinglich – zum ersten Mal in der Geschichte war die Masse mobil. Mit dem neuen »Volksgaul« waren keine teuren Pferde, Kutschen oder Zugtickets mehr notwendig, um von A nach B zu kommen.
Die Arbeiterschaft radelte von den Außenquartieren der Stadt zu den Fabriken und der Fahrtwind kündete ihnen die sich beschleunigende Moderne an. Insbesondere Frauen fanden im Sattel ein völlig neues Freiheitsgefühl. Die ersten Damenmodelle avancierten als Symbole der Emanzipation zu einem Verkaufsschlager und mit ihnen verschwanden die viktorianischen Röcke und Korsagen zugunsten skandalöser Pluderhosen – ein modischer Tabubruch mit gesellschaftlicher Signalwirkung. Das Fahrrad war somit nicht bloß ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Vehikel mit ordentlicher politischer Sprengkraft, das
Fahrradstädte der ersten Stunde
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Fahrrad zum Verkehrsmittel Nummer eins und dominierte das Straßenbild. Während um
Die Städte von damals waren zweifellos Fahrradstädte – allerdings ohne die heute übliche Fahrradinfrastruktur. Das Fahrrad war ein derart selbstverständlicher und unangefochtener Bestandteil des Straßenverkehrs, dass getrennte Radwege als unnötig erachtet wurden. Die anderen Verkehrsmittel müssten sich schlicht nach den Zweirädern richten, hieß es aus der Politik.

Nur auf Überlandstraßen, wo die Fahrräder deutlich in der Minderheit waren, begann man in der Zwischenkriegszeit, Radstreifen einzuführen, wie erstmals im Raum Basel 1929. Die fehlende Absicherung des Fahrrads im städtischen Verkehrsraum – etwa durch eigene Spuren oder rechtliche Regelungen – erweist sich aus heutiger Sicht als verpasste Chance der Stadt- und Verkehrsplanung und führte dazu, dass es in der Nachkriegszeit von der Straße verdrängt wurde.
Autowahn statt Fahrradtraum
Der Aufstieg des Automobils beendete in der Nachkriegszeit vorerst den Fahrradrausch des frühen 20. Jahrhunderts. Wie einst das Fahrrad war auch das Auto zunächst ein luxuriöses Gefährt der Oberschicht; schließlich gehörte es seit jeher zu ihren Privilegien, sich ohne Muskelanstrengung fortzubewegen. Noch 1945 rollten in Zürich pro 100.000 Einwohner:innen gerade einmal 6 Motorwagen über die Straßen, doch 5 Jahre später hatte sich die Menge bereits versechsfacht.
Mit dem Wirtschaftswunder parkte das Auto bald auch in den Garagen der Mittel- und Arbeiterschicht. Alle hatten nur noch Augen für das Automobil – selbst die Fahrradindustrie passte sich an und brachte das Klapprad auf den Markt, das sich bequem im Kofferraum verstauen ließ. Diese Entwicklung steht auch symbolisch für den Bedeutungsverlust des Fahrrads, das vom Alltagsmobil zum reinen Sport- und Spielgerät für Kinder und Freizeitenthusiasten degradiert wurde.
Das Auto stieg in den 1950er-Jahren zum unangefochtenen Maßstab der Stadtplanung auf. Während in Europa viele vom Krieg zerstörte Metropolen den
Das Fahrrad wurde vom Auto jedoch nicht nur von der Straße verdrängt, sondern auch aus dem kollektiven Gedächtnis. Seine Geschichte ist bis heute nur bruchstückhaft aufgearbeitet und bleibt meist auf technik- und sportgeschichtliche Perspektiven beschränkt. Der Siegeszug des Automobils wird dabei häufig als eine zwangsläufige, lineare Entwicklung dargestellt, bei der das

Dabei wird übersehen, dass technologische Entwicklungen nie neutral, sondern stets politisch und sozial umkämpft sind und gesellschaftliche Machtverhältnisse und kulturelle Werte widerspiegeln. Die Autoeuphorie der 1950er-Jahre war somit keine Frage des Fortschritts oder Zeitgeistes, sondern das Ergebnis intensiven Lobbyings einflussreicher Automobilverbände.
Besonders ironisch zeigt sich der Seitenwechsel beim Touring-Club Schweiz (TCS): 1896 ursprünglich als Interessensverband für Radfahrer:innen gegründet, fusionierte er 1944 mit dem Automobilclub Schweiz (ACS) zum Dachverband Schweizerischer Strassenverkehrsverband (SSV) und ließ die Anliegen der Fahrradfahrer:innen kurzerhand fallen. Ohne politischen Fürsprecher geriet das Fahrrad in der Schweiz ins Abseits der Stadtplanung.
Ölkrise und Rückkehr des Fahrrads
Kopenhagen und Amsterdam sind heute die unangefochtenen
Plötzlich rückte das Fahrrad als kostengünstige und umweltfreundliche Alternative wieder ins Zentrum. In den Niederlanden und in Dänemark erleichterten die kulturelle Verankerung des Fahrrads und das Fehlen einer starken Autolobby den Wandel, aber es brauchte auch mutige Aktivist:innen, die nachts Radwege auf den Asphalt malten, um politischen Druck zu erzeugen.
Anders in der Schweiz: Trotz neuer Interessengruppen wie dem 1979 gegründeten
Dass es nie zu spät ist, eine Verkehrswende einzuleiten, hat in den letzten Jahren
Zürich auf dem Weg zur Velohauptstadt?
Könnte Zürich bald zur nächsten großen Fahrradstadt werden? Aktuell gehört die
In der Schweiz ist die Fahrradförderung seit 2018 Verfassungsauftrag, und auch die Stadt Zürich hat sich dieses Ziel nun auf die politische Agenda gesetzt. Mit der 2021 vorgestellten
Ironischerweise lässt sich für den Ausbau zur Fahrradstadt das Erbe der Autobahnträume nutzen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende der Fahrradära eingeläutet haben. Ein Beispiel dafür ist der Stadttunnel, der am 22. Mai 2025 eingeweiht wird. In den 1950er- und 1960er-Jahren ursprünglich als Teil des »Expresstrassen-Y«-Projekts geplant,
Eine große Vision für die Umgestaltung der Stadt Zürich liefert das Projekt »E-Bike City« der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), das untersucht, wie eine urbane Zukunft aussehen könnte, die dem Fahrrad oberste Priorität einräumt. Derzeit entfallen 88% der Straßenfläche auf Autos, während Fahrräder und Fußgänger:innen mit bescheidenen 11% auskommen müssen.

Da die historisch gewachsenen Straßen der Stadt nicht verbreitert werden können, sollen 37% der für Autos reservierten Fläche für Fußgänger:innen, Fahrräder, E-Bikes und Grünflächen umgenutzt werden, indem die Stadt für den Autoverkehr in ein einspuriges Netz von Einbahnstraßen verwandelt wird. Dadurch bliebe zwar jedes Gebäude weiterhin auch für den motorisierten Verkehr erreichbar, aber Autofahren würde durch die Umwege deutlich unattraktiver werden – ein wichtiger und notwendiger Schritt,
Das Fahrrad als Wegweiser ins postfossile Zeitalter
Vielleicht bewahrheitet sich für Fahrradstädte das geflügelte Wort:
Nun gilt es, die Narrative in den Köpfen zu verändern, denn Mobilität ist nicht nur eine Frage technologischer Innovation, sondern vor allem eine Frage politischer Weichenstellungen und gesellschaftlicher Werte.
Wie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht das Fahrrad auch heute wieder im Zentrum eines Kulturkampfs: Damals als Symbol der Emanzipation und der Beschleunigung der Moderne, heute als Sinnbild für eine postfossile Lebensweise, Entschleunigung und materielle Reduktion.
Doch die Wiederentdeckung des Fahrrads ist weit mehr als eine ökologische Notwendigkeit – sie ist eine pragmatische Antwort auf die Herausforderungen urbaner Mobilität. Für kurze Strecken in der Stadt ist das Fahrrad unschlagbar schnell, verbessert die Erreichbarkeit und fördert ganz nebenbei die Gesundheit der Bevölkerung. Zudem schafft es als platzsparendes Verkehrsmittel wertvollen Raum für Fußgängerzonen, Grünflächen und lebendige Stadtviertel. Vielleicht liegt die Zukunft der Mobilität weniger in futuristischen Hightech-Visionen als in der Rückbesinnung auf die radikale Einfachheit von zwei Rädern und die Kraft der Muskeln.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 7. März 2025 bei Reatch. Reatch ist eine unabhängige Ideenschmiede für kritische Wissenschaftler:innen und Wissenschaftsbegeisterte in der Schweiz. Auf ihrer Plattform stellen sie Lösungen für die Herausforderungen von heute und morgen vor. Im Rahmen unserer Kooperation veröffentlichen wir gegenseitig Artikel und freuen uns über den inspirierenden Austausch und die Zusammenarbeit.
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