»Nichts über uns ohne uns«: Was Inklusion mit Macht, Gerechtigkeit und mit dir zu tun hat
Behinderte Menschen stellen weltweit die größte marginalisierte Menschengruppe dar und werden gleichzeitig am wenigsten beachtet. Der Global Disability Summit ist ein Schritt, dies zu ändern – lokal, national und international. Für alle Menschen.
Seit vielen Jahren arbeite ich als Bildungsreferentin und erkläre Menschen ohne Behinderung, wie das Leben mit Behinderung aussieht – und welche Formen von Diskriminierung – Ableismus genannt – ich und andere erleben. Dabei stoße ich immer wieder auf große Unsicherheit: Viele lehnen behinderte Menschen nicht ab, haben aber Angst, im Umgang mit uns etwas falsch zu machen. Die meisten kennen keine behinderten Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld oder Alltag, obwohl statistisch gesehen jede zehnte Person in Deutschland eine Behinderung hat.
Warum ist das so?
Ich selbst musste mit 18 Jahren in die Nachbarstadt ziehen, um dort mein Abitur machen zu können – ein harter Kampf für etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Diese strukturelle Ausgrenzung trägt mit dazu bei, dass viele Nichtbehinderte gar kein positives oder neutrales Bild vom Leben mit Behinderung entwickeln können. Und davon, wie es sich als behinderte Person ebenso gut leben lässt – sofern es das Umfeld durch Barrierefreiheit zulässt. Dies bestätigen auch Studien, die die Lebensqualität von Menschen untersuchen, die durch einen Unfall eine Behinderung erworben haben.
Nur 4% aller Behinderungen sind angeboren
Und dann ist da noch ein anderer Mechanismus, der trennt: Die Coronapandemie hat gezeigt, wie stark viele Nichtbehinderte darauf reagieren, wenn ihnen durch uns ihre eigene Verletzlichkeit vor Augen geführt wird. Statt sich ehrlich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie wir als Gesellschaft jedes Leben wertschätzen und schützen können, entsteht oft eine Abwehrhaltung.
Ironischerweise sind allerdings nur 4% aller Behinderungen angeboren – das heißt: Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens selbst eine Behinderung zu erwerben, ist ziemlich hoch. Besonders im Alter.
Warum also verdrängen, statt hinzuschauen? Und genau das wollen wir jetzt gemeinsam tun! Denn: Behindertenpolitik geht uns alle an.
Wie Behindertenpolitik, globale Ungleichheit und Kolonialismus zusammenhängen
Lange Zeit habe ich Behindertenpolitik vor allem aus nationaler Perspektive betrachtet – schlicht weil ich hier geboren wurde und die Probleme hierzulande meinen Alltag bestimmten. Erst mit meinem Masterstudium in Bologna wurde mir klar, welches Machtgefälle schon innerhalb der EU für behinderte Migrant:innen existiert.
Es gibt bis heute keinen einheitlichen EU-Behindertenstatus. Das bedeutet: Um in Italien Sozialleistungen zu erhalten, müsste ich meinen deutschen Behindertenstatus aufgeben – ein hoher Preis, der mich auch selbst im Studium einschränkt. Viele Unterstützungsangebote der Universität bleiben mir so verwehrt, was mein Studium unnötig erschwert.
Diese Erfahrung hat meinen Blick geschärft für die strukturellen Hürden, denen behinderte Migrant:innen ausgesetzt sind – und sie hat mein Interesse an europäischer und internationaler Behindertenpolitik geweckt. Seitdem beschäftige ich mich intensiv damit, wie Inklusion grenzübergreifend gedacht und umgesetzt werden kann.
In der internationalen Politik und auf diplomatischer Bühne wird Behindertenpolitik bislang nämlich überwiegend ignoriert.
Der Global Disability Summit (GDS)
Der GDS ist eine internationale Konferenz, auf der sich Politiker:innen, Aktivist:innen und Organisationen aus aller Welt für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzen. Ziel ist es, konkrete Maßnahmen zu entwickeln, um Inklusion weltweit in Bereichen wie Bildung, Katastrophenschutz oder Entwicklungszusammenarbeit zu verankern. Der Gipfel findet alle 4 Jahre statt – zuletzt 2025 in Berlin und Amman.
Die Lebensrealitäten behinderter Menschen im Globalen Norden und Globalen Süden unterscheiden sich deutlich. Rund 70% von ihnen leben im Globalen Süden. Dort sind Behinderungen oft eine Folge struktureller Armut – einer Armut, die eng mit der kolonialen Ausbeutungsgeschichte verflochten ist. Dies erschwert den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, beides zentrale Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben – und zwar für Menschen mit und ohne Behinderung.
Gerade deshalb ist der Ansatz des Global Disability Summit so wichtig: Der Gipfel wird bewusst gemeinsam von einem Land des Globalen Nordens und einem des Globalen Südens ausgerichtet – um einen Dialog auf Augenhöhe zu ermöglichen. Aufgerüttelt durch meine Erfahrungen als europäische Migrantin, wuchs mein Interesse und der Wunsch, mich als Bildungsreferentin und Journalistin in die Diskussionen einzubringen. Daher war ich auch auf dem Civil Society Forum und Global Disability Summit Anfang April in Berlin unterwegs.
Zu den zentralen Themen des Weltgipfels gehörten humanitäre Hilfe, Klimagerechtigkeit, politische Teilhabe, Finanzierung, barrierefreie Infrastruktur, Bildung und viele mehr.

Historisch gesehen, stellt die UN-Behindertenrechtskonvention einen der größten Fortschritte auf internationaler Ebene dar. Sie wurde 2006 verabschiedet und trat 2008 in Kraft. Inzwischen haben 185 Staaten sowie die Europäische Union sie ratifiziert bzw. formell anerkannt.
Trotzdem ist in der inklusiven Entwicklungszusammenarbeit noch eine Menge Luft nach oben.
(K)eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit
Nach Angaben der bisherigen Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) hat Deutschland in der vergangenen Legislaturperiode erstmals systematisch erhoben, in welchem Umfang entwicklungspolitische Vorhaben ihres Ministeriums das Thema Behinderungen aufgreifen und Inklusion fördern. Demnach sind Inklusionsmaßnahmen bereits in rund 15% aller Projekte verankert.
Ein zentrales Anliegen inklusiver Entwicklungsarbeit ist es, Menschen mit Behinderung in humanitären Krisen nicht zu übersehen. Das gilt zum Beispiel nach Naturkatastrophen, in kriegerischen Konflikten oder bei Extremwetterereignissen infolge der Klimakrise. Ein konkretes Beispiel ist das Projekt »Plattform Wiederaufbau Ukraine«. Es setzt sich dafür ein, zerstörte Städte von Beginn an barrierefrei wiederaufzubauen und die gesundheitliche Versorgung der Zivilbevölkerung nach Bombenangriffen sicherzustellen.
Solche Ansätze zeigen, wie wichtig es ist, Inklusion frühzeitig mitzudenken – gerade in Krisensituationen.
In Artikel 11 und 32 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten genau dazu: inklusiver humanitärer Krisenbewältigung und Entwicklungszusammenarbeit. Der Global Disability Summit zielt darauf ab, Inklusion dauerhaft mit entwicklungspolitischem Handeln zu verknüpfen. Die dort beschlossenen Selbstverpflichtungen werden fortlaufend überprüft, um sicherzustellen, dass Inklusion kein Randthema bleibt, sondern integraler Bestandteil aller Programme wird.
Inklusion ist also kein Luxus, sondern Grundvoraussetzung für gerechte Entwicklungszusammenarbeit.
Politisches Empowerment für Menschen mit Behinderung
»Nichts über uns ohne uns« – dies ist das Motto der internationalen Behindertenbewegung und ein wichtiger Schritt, um die Rechte behinderter Menschen weltweit umzusetzen und weiter zu stärken. Bereits einen Tag vor dem Global Disability Summit kamen Vertreter:innen der Zivilgesellschaft beim Civil Society Forum zusammen, um genau dieses Prinzip mit Leben zu füllen.
Im Gegensatz zum Global Disability Summit, der vom Entwicklungsministerium in Deutschland thematisch gestaltet wurde, setzten hier Selbstvertretungen aus dem Globalen Norden und Globalen Süden das Programm auf – und bestimmten die inhaltlichen Schwerpunkte selbst.
Ein zentrales Thema war etwa die Situation behinderter Frauen und die Rechte behinderter Kinder – Bereiche, die auch innerhalb der Community noch immer zu wenig Beachtung finden und beim Weltgipfel häufig nur am Rande diskutiert wurden. Die abschließende zivilgesellschaftliche Deklaration des Forums hat diesen Missstand ausdrücklich benannt und klare Forderungen formuliert, um künftig mehr Raum dafür zu schaffen.

Darüber hinaus ist es ein Meilenstein,
In Gesprächen mit behinderten Menschen aus dem Globalen Süden zeigte sich auch mir, dass zwar viele ähnliche Hürden erleben – sich die jeweiligen Lebenswelten und Möglichkeiten aber dennoch deutlich unterscheiden.
Katastrophenschutz – von allen, für alle
2 Themen dominierten die Debatten besonders: Der »Disability Data Gap«, also fehlende Daten in Sachen Behinderung, und inklusiver Katastrophenschutz.
Beim Thema Datenlücke zeigte sich, wie wenig belastbare Zahlen zur Lebensrealität behinderter Menschen – sowohl in Deutschland als auch international – tatsächlich vorliegen.
Solche Erkenntnisse machen klar: Arbeitsmarktprogramme müssen gezielt auf behinderte Frauen zugeschnitten sein. Entwicklungsministerin Schulze brachte es für die Datenlage auf internationaler Ebene zur Entwicklungszusammenarbeit auf den Punkt: »Wir haben festgestellt, dass wir zu wenig Daten über unsere Partnerländer haben.«
Aus diesem Grund erschien der erste »Global Disability Inclusion Report« – eine internationale Bestandsaufnahme zur Lebenssituation behinderter Menschen. Der Report untersucht etwa erstmals die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung im internationalen Vergleich. Weitere Berichte sollen folgen, um Fortschritte künftig messbar zu machen.
Im Bereich Katastrophenschutz offenbarte die Flut im Ahrtal ein dramatisches Versäumnis: 13 Menschen mit Behinderung kamen ums Leben, weil sie Evakuierungs- und Rettungspläne nicht berücksichtigt hatten.
Während in Deutschland erste Papiere und Gremien geschaffen wurden, um diesem Umstand Rechnung zu tragen, fehlen praktische Maßnahmen.

Vertreter:innen aus dem Globalen Süden berichteten währenddessen, wie stark ihre Länder bereits unter Naturkatastrophen litten – und wie sehr sie auf finanzielle Unterstützung aus dem Norden angewiesen seien. Die historische Verantwortung dafür sei unübersehbar.
Gleichzeitig wiesen die Vetreter:innen des Globalen Südens an dieser Stelle nochmals auf die Chance hin, nach einer Katastrophe das Umfeld barrierefrei aufzubauen und dies stets mitzudenken.
Alle Selbstvertretungsorganisationen forderten außerdem, behinderte Menschen in jeder Weise am Prozess des inklusiven Katastrophenschutzmanagements zu beteiligen – nicht nur als zu rettende Opfer, sondern als Expert:innen, etwa bei der Entwicklung von Warnsystemen. Und zwar: für alle Menschen.
Meilenstein für echte Inklusion: Die Berlin-Amman-Deklaration
Der Global Disability Summit endete mit der Berlin-Amman-Deklaration – einem starken Signal für inklusive Entwicklungs- und Katastrophenhilfe.
Hier die wichtigsten Forderungen für die Zukunft in Kurzform:
- »15 for the 15«: Bis zum nächsten Gipfel 2028 sollen 15% aller nationalen Entwicklungsprogramme Inklusion von Menschen mit Behinderung als klares Ziel verankern – und dafür eigene Budgets bereitstellen.
- Starke Selbstvertretung: Menschen mit Behinderung müssen in allen politischen Entscheidungsprozessen mitreden und mitbestimmen.
- Anerkennung von Mehrfachdiskriminierung: Intersektionale Benachteiligungen – etwa Behinderung plus Armut oder Geschlecht – müssen gezielt erfasst und bekämpft werden.
- Inklusive Projektzielgruppen: Menschen mit Behinderung sollen als zentrale Adressat:innen in jedem Entwicklungsprojekt berücksichtigt und aktiv eingebunden werden.
- Inklusive humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz: Rettungs- und Wiederaufbaupläne müssen Behinderte gleichberechtigt berücksichtigen.
- Daten für den Wandel: Es braucht eine systematische Erhebung von Lebens- und Bedarfsdaten, um Maßnahmen passgenau zu planen und Erfolge messbar zu machen.
Obwohl die Berlin-Amman-Deklaration mit diesen Forderungen rechtlich nicht so verbindlich ist wie die UN-Behindertenrechtskonvention, setzt sie neue Standards und Maßstäbe für politische Debatten und Trends in der internationalen Behindertenpolitik.
Sie betont die Dringlichkeit der Klimakrise und ihre Folgen für behinderte Menschen weltweit – und zielt darauf ab, überprüfbare Zielsetzungen zu schaffen, um Fortschritte ebenso wie Rückschritte sichtbar zu machen.
Gerade für behinderte Menschen aus dem Globalen Süden, die von Geld aus der Entwicklungszusammenarbeit abhängig sind, sind quantifizierbare Ziele essenziell. Denn nur so können sie die reichen Länder im Zweifelsfall öffentlich bloßstellen, wenn sie ihre eigenen Ziele nicht einhalten – und stattdessen nur Sonntagsreden halten.
Wer Inklusion wirklich will, muss Menschen mit Behinderung weltweit nicht nur mitdenken, sondern ihnen Macht, Ressourcen und Mitsprache geben – vom Klassenzimmer bis zum Katastrophenschutz. Alles andere bleibt bloße Rhetorik.
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