Hat Münster das Rezept gegen rechts?
In keinem anderen Wahlkreis schnitt die AfD so schlecht ab wie hier. Das liegt nicht nur an weltoffenen Studenten und integrierten Geflüchteten.
4,5% der Stimmen für den AfD-Kandidaten Martin Schiller,
Seitdem die Ergebnisse der Wahl 2017 bekannt sind, sind die Westfalen gefragt. Journalisten von
Kurz nach der Wahl waren wir in der Fußgängerzone unterwegs und haben nachgefragt.
Ich bin ehrlich: Als Neu-Münsteranerin überzeugen mich die Antworten nicht. Mir kam die Stadt seit meiner Ankunft ziemlich konservativ vor. Klar, es gibt viele Studenten. Aber am meisten Radau machen hier eigentlich
Zunächst wollte ich aber wissen, was an den Erklärungsversuchen der letzten Wochen dran ist.
Die gängigen Antworten: Studenten, Stabilität, Streitkultur
Die Antworten, die in den Schlagzeilen zu lesen waren, sind meist ein Mix aus 5 Faktoren:
- Junge Studentenstadt Münster: Mehr als 60.000 Studierende – knapp 1/5 der Einwohner – waren im Wintersemester 2015/16 an den Hochschulen der Stadt eingeschrieben. Nicht nur sie machen Münster zu einer jungen Stadt:
Der Faktor »Studentenstadt« spricht deutlicher für diesen Erklärungsversuch: Laut einem - Bildungsbürgertum: Neben den vielen Studenten arbeiten in der 300.000-Einwohner-Stadt auch
- Keine Zukunftsängste: Münster hat im Gegensatz zu vielen anderen Regionen im Osten der Republik oder auch im nahen Ruhrgebiet keinen Strukturwandel hinter sich, der
- Integration von Geflüchteten: Selbst die
- Bürgerbewusstsein: Was mir ebenfalls schon bei meiner ersten Münster-Recherche zur traditionell sehr hohen Wahlbeteiligung auffiel: das ausgeprägte Bürgerbewusstsein und – auf der anderen Seite – die Offenheit im Rathaus gegenüber den Anliegen der Bewohner. Diese genießen weitreichende Beteiligungsmöglichkeiten wie den Bürgerhaushalt, bei dem Münsteraner mit darüber entscheiden können, wie und wofür Geld ausgegeben wird. Ein weiteres Beispiel für eine lebendige Debatte in der Stadt:
Bildung, Wohlstand, Stabilität und das Gefühl, mitbestimmen zu können – all das beeinflusst bestimmt die Wahlentscheidung der Münsteraner. Aber reicht das für ein bundesweites Alleinstellungsmerkmal?
Vielleicht fehlt ein Blick in die Geschichte. Münster ist traditionell konservativ. Früher war es die
Die unkonventionelle Antwort: das »schwarze Münster«
Am Domplatz erinnert ein Denkmal an Clemens August Graf von Galen, der in den Jahren 1933–1946 Bischof von Münster war. In das kollektive Gedächtnis der Stadt ist er als Symbol des Widerstands gegen die Nationalsozialisten eingegangen: In seinen Osterpredigten nahm er mutig Stellung gegen die sogenannten
Die Stadt Münster war für die NSDAP ein schwieriges Pflaster, was sehr häufig in der Lageberichterstattung der Gestapo und der Partei betont wurde. Man sah allenthalben den politischen Katholizismus am Werk, es wurde die ›offensichtliche Oppositionsstimmung‹ in der katholischen Bevölkerung […] beklagt […]
Ich frage bei Historiker Thomas Großbölting nach, der im »Exzellenzcluster Religion und Politik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster forscht.
In gewisser Weise hatten es die Gestapo und Parteistellen in Münster schwer, weil es mit der Zentrumspartei und den katholischen Verbänden und Organisationen eine besondere Konstellation gegeben hat.
Schon vor dem Interview warnt er aber per E-Mail davor, Münster als »gallisches Dorf« zu zeichnen, in dem schon immer Widerstand geleistet wurde.
Man muss auch quellenkritisch die Entstehung dieser Gestapo-Berichte hinterfragen. Geheimdienste und Repressionsapparate trommeln immer, um zu zeigen, wie groß der Feind ist und wie wichtig es ist, dass sie ihre Arbeit machen.
Eine scharfe Trennlinie zwischen Katholiken und Nationalsozialisten will er nicht ziehen.
Ist es überhaupt sinnvoll, in der Vergangenheit Münsters nach Gründen für Münsters Resistenz gegen rechts im Jahr 2017 zu suchen? »Man kann bestimmt Ansätze finden«, sagt der Historiker. Aber vielleicht solle man stärker auf die 1950er- und 1960er-Jahre schauen als auf den Nationalsozialismus. »In dieser Zeit bildet sich ein Eigenbewusstsein heraus, mit dem man auf Kardinal von Galen zeigt, die Gestapo-Berichte heranzieht und sagt: Schaut mal hier, Münster ist widerständig gewesen! Aus dieser Selbstzuschreibung könnte etwas gewachsen sein, das erklärt, warum die politische Kultur in dieser Stadt anders ist.«
Erklärungsansätze für das schlechte Abschneiden der AfD in seiner Stadt findet der Historiker eher bei Einzelnen und ihrem Engagement. So erinnert er an den Protest gegen einen Neujahrsempfang der AfD im Rathaus im Januar 2017. Auf Initiative eines Studenten
Eine lebendige Zivilgesellschaft führt vielleicht dazu, dass es eine schnellere politische Verständigung über Dinge gibt, die man nicht will.
Zur Debatte um die Umbenennung des Hindenburgplatzes, bei der es auch darum ging, für welches Geschichtsbild die Stadt eigentlich stehen will, hat er sogar ein Buch herausgegeben.
Wir haben ein Jahr lang gekabbelt, wie der Platz heißen soll. Und bei allen Blessuren, die sich die Gegner zugefügt haben, war das doch ein lehrreicher und fairer Austausch, der in der Stadtgesellschaft stattgefunden hat. Vielleicht hilft so etwas auch, um sich dann mit der AfD auseinanderzusetzen.
Diese Auseinandersetzung im Vorfeld der Wahl hatte aber auch in Münster unterschiedliche Ergebnisse: In einem Wahlbezirk im Süden der Stadt erhielt AfD-Kandidat Martin Schiller knapp 22% der Stimmen, in der Killingstraße im Stadtteil Kinderhaus immerhin fast 14%.
Zurück in die Zukunft in Kinderhaus
Kinderhaus gilt in Münster als sozialer Brennpunkt. Arbeitslose, Migranten, Kriminalität –
Nicht weit von der Killingstraße, in der es die AfD auf 14% schaffte, steht Thomas Kollmann an einem sonnigen Herbsttag mit einer Gruppe aus Stadtvertretern und engagierten Bürgern vor einer sanierungsbedürftigen Plattenbausiedlung. Trotz Ausreißern nach oben wie hier blieb der Stimmenanteil für die AfD mit 6,8% aber auch in Kinderhaus überschaubar. Immer noch zu viel, findet Kollmann, der sich im Begegnungszentrum Kinderhaus engagiert. »Wir müssen weiter daran arbeiten, dass sich Menschen nicht abgehängt fühlen.« Das Begegnungszentrum an der Sprickmannstraße beherbergt Initiativen von somalischer Hausaufgabenbetreuung bis zu aserbaidschanischen Tanzgruppen. Kollmann ist dort Geschäftsführer und heute Mitorganisator eines »Zukunftsspaziergangs« durch den von Migration geprägten Stadtteil.
Mit Ideen für Zukunftsspaziergänge konnten sich Münsteraner in diesem Jahr
Spricht man Markus Lewe auf das Münsteraner Wahlergebnis an, sagt er, er habe sich gefreut, es sei aber kein Grund, hochmütig zu werden. Seine Erklärung ist ebenfalls ein Mix aus den oben beschriebenen Faktoren: kein verunsichernder Strukturwandel, vorausschauende Politik in Sachen Geflüchtete, wenig soziale Probleme – und: »Münster versteht sich als Friedensstadt.« Eine Anspielung auf den
Das ist auch beim Spaziergang in Kinderhaus präsent: Er beginnt an einem idyllisch gelegenen Fachwerkhaus, auf dessen Grundstück im 14. Jahrhundert
Historische Narrative und Dialog
Was bedeuten die Ausflüge in die Stadtgeschichte für meinen Anfangsverdacht? Sind es Kirche und Konservatismus, der Münster weniger empfänglich für die hysterischen Rufe am rechten Rand macht? Ganz zerstreut hat er sich nicht. Aber viel wichtiger scheinen diese beiden Punkte:
- Narrative haben oft mehr Wirkungsmacht als Ereignisse und Fakten: Die Münsteraner bauen ihre kollektive Identität als »Stadt des Friedens« und um Figuren wie Bischof Clemens August Graf von Galen, der im Jahr 2005 sogar seliggesprochen wurde. Geschichtsbewusstsein prägt die politische Kultur – und damit auch die Auseinandersetzung mit neuen Parteien wie der AfD.
- Dialog und Transparenz als Erfolgszutaten für die Zukunft:
In Münster wird offenbar viel miteinander gesprochen. Nicht nur beim Zukunftsspaziergang in Kinderhaus mischen sich Bürger ein und suchen gemeinsam mit der Stadt nach Lösungen. Die gibt sich umgekehrt transparent – und vermeidet so ein Gefühl, dass
Titelbild: Presseamt Münster / Britta Roski - copyright