Skandinavier sind am glücklichsten? Warum das Quatsch ist und worauf es wirklich ankommt
Wo leben die glücklichsten, erfülltesten Menschen? Eine bekannte Rangliste sieht Finnland auf Platz 1. Eine neue Studie liefert nun eine gänzlich andere Antwort und zeigt, wie schwierig es ist, Glück zu messen.
»Finnland bleibt das glücklichste Land der Welt« – so titelte nicht nur
Solche Nachrichten können neidisch machen. Immerhin landet Deutschland meist nicht einmal in den Top 10, diesmal auf Platz 22 der insgesamt 147 untersuchten Länder. Woran liegt der finnische Erfolg – am Schulsystem, der sauberen Luft, der Saunakultur? Und haben die langen dunklen Winter wirklich gar keinen Effekt auf das Wohlbefinden?
Bevor wir weiter nach Antworten suchen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Grundlage dieser Rangliste. Denn was genau wird hier eigentlich gemessen – und wie?
Die jüngst erschienene »Global Flourishing Study« kommt nämlich zu einem ganz anderen Ergebnis. Im Ländervergleich konnte Indonesien die höchsten Werte auf dem »Flourishing«-Index erzielen, der mehrere Dimensionen von Wohlbefinden und Glück misst. Schweden, als Vertreter der skandinavischen Länder, erreichte in dieser Analyse sogar noch weniger Punkte als Deutschland und landete im unteren Mittelfeld.
Dabei liegen Skandinavien und Indonesien denkbar weit auseinander, nicht nur geografisch. Müssen wir jetzt also eher von den Indonesier:innen lernen?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, schauen wir heute ins Kleingedruckte der Studien. Dabei zeigt sich: »Glück«, »Wohlbefinden« und »Zufriedenheit« universell zu messen, ist schwerer, als es aussieht – und trotzdem wichtig.
Der World Happiness Report – eine einzige Frage entscheidet übers Glück
Wer davon ausgeht, dass das Länderranking im World Happiness Report auf einem komplexen Fragebogen beruht, liegt falsch. Tatsächlich wird »das glücklichste Land der Welt« mithilfe einer einzigen
Die Urheber des World Happiness Reports schreiben dazu, dass die Cantril-Leiter den Menschen ermöglichen soll, unabhängig von ihrer Kultur und Herkunft zu entscheiden, was ihnen am wichtigsten ist. Die Frage erwähnt bewusst keine Konzepte wie Glück, Wohlbefinden oder Zufriedenheit und ist daher leicht in viele Sprachen zu übersetzen und verständlich, so die Forschenden.
Das ist zweifelsohne eine Stärke der Befragung, gleichzeitig lässt die Frage so viel Raum für Interpretation, dass es schwierig ist, Allgemeingültiges aus den Ergebnissen abzuleiten. Auch die Aussage, dass in Finnland die glücklichsten Menschen leben, gibt das Ergebnis so nicht her – auch wenn viele Medien es gern darauf herunterbrechen.

»Man kann von einer einzelnen Frage nicht zu viel erwarten, denn die Zufriedenheit ist ein komplexes Konstrukt, das sich aus verschiedenen Dimensionen zusammensetzt«, sagt auch der Soziologe
Während etwa für den einen Wohlstand der wichtigste Faktor ist, der ihn auf der Leiter ein paar Stufen nach oben befördert, ist es für die nächste Person vielleicht der soziale Zusammenhalt oder die physische Gesundheit. Was genau die zentralen Faktoren für die Antworten sind, können die Forschenden im World Happiness Report nur mutmaßen: Dafür analysieren sie andere Daten, wie das Bruttoinlandsprodukt oder die gesunde Lebenserwartung in einem Land, und stellen Zusammenhänge her. Das kann Anhaltspunkte geben und zeigt Trends – was genau davon die Menschen dazu bewegt, sich oben oder unten auf die Leiter zu platzieren, erklärt es aber nicht.
Ein anderer Blick auf das gute Leben: Die Global Flourishing Study
Eine etwas umfassendere Antwort darauf, wie es weltweit um das gute, gelingende und glückliche Leben steht, könnte nun die Global Flourishing Study liefern. Die Ergebnisse der Studie sind kürzlich im
»Flourishing« beschreiben die Forschenden als ein übergreifendes Konzept, das die Qualität aller Lebensbereiche einer Person erfassen soll. Dafür wurden Fragen zu verschiedenen Bereichen des Lebens gestellt: Gesundheit, Wohlbefinden, Lebenssinn, Charakter, soziale Beziehungen und finanzielle Sicherheit.
Hier findest du einige Originalfragen aus der Studie. Beantworte sie selbst und schaue, wie es um das »Flourishing« der PD-Leserschaft steht. Je weiter rechts die Antworten liegen, desto höher ist das Flourishing. Alle Befragungen sind anonym.
In einem weiteren Schritt wurden auch demografische Angaben und Fragen zur Kindheit erhoben.
Hier kannst du beispielhaft 3 der Kindheitsfragen beantworten:
Aus den Antworten bildeten die Forschenden eine Art globalen Index für das gelingende Leben. Die Studie soll jährlich mit denselben Personen wiederholt werden – um sichtbar zu machen, wie sich das globale »Flourishing« im Lauf der Zeit verändert.
»Eine solche Messung kann zeigen, welchen Anteil eine jede Dimension an der Gesamtzufriedenheit hat – und wie sich diese Dimensionen gegenseitig beeinflussen«, erklärt Soziologe Sebastian Sattler. »Menschen, die mit ihrer Gesundheit unzufrieden sind, können weniger in der Lage sein, soziale Beziehungen zu pflegen. Das wiederum kann ihre Zufriedenheit im Bereich Beziehungen beschränken.«
Andersherum sei es auch vorstellbar, dass sich eine belastende finanzielle Situation durch hohe Zufriedenheit mit sozialen Beziehungen kompensieren lasse. So etwas zu analysieren, ist jedoch nur möglich, wenn auch all diese Bereiche erfasst werden. Damit hat die Global Flourishing Study einen Vorteil im Vergleich mit einer Befragung, wie sie dem Ranking im World Happiness Report zugrunde liegt.
Welches Land ist denn nun das Beste? Das Problem mit den Rankings
Die verschiedenen Herangehensweisen erklären, wieso die Länder im World Happiness Report anders abschneiden als in der Global Flourishing Study. Keine der Studien liegt falsch – es handelt sich lediglich um andere Sichtweisen.

In der Global Flourishing Study betonen die Forschenden sogar, dass die Ergebnisse nicht genutzt werden sollten, um verschiedene Länder in einem Ranking gegeneinander zu stellen. (Journalist:innen tun das natürlich trotzdem.) Denn Ländervergleiche bringen grundsätzlich einige Probleme mit sich, die in Artikeln über diese Studien leicht vergessen werden. Sie zu kennen, kann helfen, die Ergebnisse solcher Studien in Zukunft richtig einzuordnen.
Halb glücklich, halb unglücklich: Mittelwerte sagen wenig über die Realität
»Wenn man nur auf Länderebene vergleicht und auch nur einen Gesamtindex anschaut, dann kann es passieren, dass Unterschiede innerhalb von Ländern übersehen werden«, sagt Soziologe Sattler. Auch innerhalb von Ländern gebe es häufig eine Schere zwischen arm und reich oder zufrieden und unzufrieden – und vielerorts wachse diese. Deshalb sei es wichtig, die einzelnen Dimensionen zu betrachten und nicht nur das Gesamtbild.
»Angenommen, es gäbe ein Land, das bei der Hälfte der Dimensionen sehr unglücklich und bei der anderen Hälfte sehr glücklich ist: Dann könnte man zum Schluss kommen, dass im Mittel die Situation erträglich erscheint«, so Sattler.

Wenn es etwa der einen Hälfte der Bevölkerung insgesamt sehr schlecht und der anderen sehr gut geht, könnte man das »Leiden« der einen Hälfte beim Blick auf den Durchschnitt vergessen. Und wenn ein Land bei Gesundheit und Einkommen miserabel abschneidet, dafür aber bei den sozialen Beziehungen glänzt, landet es womöglich insgesamt im Mittelfeld.
Über den Alltag der Menschen vor Ort sagen solche Durchschnittswerte allein am Ende wenig. Rankings verschleiern oft, wie unterschiedlich die einzelnen Lebensbereiche tatsächlich erlebt werden.
Was, wenn jemand kein Telefon hat? Es kommt auf die Methode an
»Methodische Aspekte haben einen maßgeblichen Einfluss darauf, wo ein Land im Ranking steht«, sagt Sattler. Entscheidend ist etwa, welche Länder überhaupt berücksichtigt sind und wie die Stichproben für die Befragungen ausgewählt werden. In wirtschaftlich benachteiligten Ländern kann es etwa bei Internet- oder Telefonbefragungen schwierig sein, einen repräsentativen Ausschnitt der Bevölkerung zu erreichen. Können Menschen weder lesen noch schreiben, schließt auch das sie oftmals von der Teilnahme an einer Studie aus. Zudem kann die Teilnahmebereitschaft in Ländern sinken, wo das Vertrauen in die Wissenschaft gering ist.
Dieses Problem geht noch weiter: Wenn die Teilnahmebereitschaft etwa mit der Zufriedenheit zusammenhängt und eher unzufriedene Menschen gar nicht erst an der Befragung teilnehmen, mindert das die Aussagekraft einer Studie.
Nach der Pandemie oder im wirtschaftlichen Aufschwung: Das Timing macht einen Unterschied
Umfragen sind zudem immer nur Momentaufnahmen. Gesellschaften verändern sich, nicht nur mit wechselnder Politik. Eine Zufriedenheitsumfrage während einer Pandemie dürfte andere Ergebnisse liefern als danach. Auch in Krisen- und Kriegszeiten stellt sich die Frage: Lassen sich überhaupt verlässliche Aussagen generieren, wenn Menschen auf der Flucht sind oder anderweitig ums Überleben kämpfen?
All diese Punkte müssen Forschende bedenken und ihre Ergebnisse dementsprechend einschränken – was sie in den meisten Fällen auch tun. Nur liest so weit kaum jemand.
Es ist leichter, nur schnell über den Platz im Ranking zu berichten als über die Frage, auf welchem methodischen Fundament dieses Ranking überhaupt steht.
»Glück« ist Ansichtssache
Ein weiteres Problem: Menschen können die gleichen Fragen in unterschiedlichen Ländern auf verschiedene Weise verstehen. »Oft gibt es soziale und kulturelle Unterschiede, wie bestimmte Wörter zu verstehen sind«, sagt Sattler. Glücklichsein oder der Sinn des Lebens etwa, kann in jedem Land etwas anderes bedeuten – dieses Problem erwähnten die Forschenden des World Happiness Report.
Eine weitere Frage, die sich laut Sattler stellt: »Welchen Referenzpunkt legen Menschen bei der Beantwortung zugrunde? Vergleichen sie sich mit anderen innerhalb ihres Landes, ihres Umfelds oder mit dem, was sie insgesamt als optimal ansehen würden?« Das kann die Antworten auf die Fragen stark beeinflussen und dafür sorgen, dass die Ergebnisse schwer zu interpretieren sind.
Bevor dieser Artikel erschienen ist, habe ich auf der Startseite von Perspective Daily gefragt: »Würdest du dich als glücklich bezeichnen?« Wer versucht, diese Frage zu beantworten, merkt schnell, dass die Antwort gar nicht so leicht zu finden ist. Antworte selbst und sieh, welche Antworten andere Leser:innen für sich gefunden haben. Unter dem Artikel können wir im Kommentarbereich darüber diskutieren:
Die Wahrheit ist: Länder sind kaum zu vergleichen
Rankings, wie Medien sie immer wieder aus den Studien herauslesen, haben noch ein weiteres, ganz grundlegendes Problem: Viele Länder sind einfach nicht vergleichbar. Sie unterscheiden sich beispielsweise in ihrer Altersstruktur oder der Verteilung von Bildung. Das beeinflusst auch die Ergebnisse solcher Studien.
»Zudem kann die Bereitschaft, offen über Wohlbefinden zu sprechen, auch über Länder oder sogar einzelne Personen variieren. In manchen Kreisen ist es etwa sehr viel schambehafteter, über materielle Unsicherheit zu sprechen, als in anderen«, sagt Sattler. Das kann sich auf das Antwortverhalten auswirken.
Wenn die Ergebnisse solcher Studien also so viele Unsicherheiten mit sich bringen: Könnte man es dann nicht auch einfach ganz lassen?
Warum »Glücksstudien« trotzdem wichtig sind
Obwohl wir vielleicht nicht sagen können, welches das »glücklichste Land der Welt« ist, können Ländervergleiche großen Nutzen haben. Zumindest, wenn wir das Gesamtbild betrachten, das die Studien zeigen. »Die Daten aus solchen Studien helfen, die globalen Ungleichheiten sichtbar zu machen, aber auch die Ungleichheiten innerhalb von Ländern, etwa nach Gender, Alter oder Migrationshintergrund«, sagt Sebastian Sattler. Eine große Unzufriedenheit in einem Land zeige immer einen Handlungsbedarf, auch wenn der genaue Grund dafür zunächst unklar sei.
Diesen herauszufinden, ist Aufgabe weiterer Forschung. Die Daten, die in der Global Flourishing Study erhoben werden, können in Zukunft dabei helfen und spannende Einsichten liefern. Die Befragungen sollen jährlich wiederholt werden und können mit der Zeit auch Trends für die ausgewählten 22 Länder aufzeigen. Das hilft Forschenden, zu verstehen, welche Auswirkungen politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Veränderungen haben.
Ein hohes Wirtschaftswachstum muss beispielsweise nicht zwangsläufig mit hoher Zufriedenheit einhergehen, sondern kann auf Kosten der Gesundheit generiert werden.
Solche Zusammenhänge können mit der Zeit genauer untersucht werden – und zeigen, welche Hebel die Politik hat, um die Zufriedenheit der eigenen Bevölkerung zu verbessern.
Einige spannende Ansätze für weitere Forschung bietet die Global Flourishing Study schon jetzt, wie die folgenden 3 Beispiele zeigen:
1. Im Alter steigt das »Flourishing«
Die aktuelle Studie zeigt einen globalen Alterseffekt, der sich erheblich von den Ergebnissen anderer Studien unterscheidet: Frühere Forschung zum Wohlbefinden zeigte häufig einen U-förmigen Verlauf der Zufriedenheit über die verschiedenen Altersgruppen. Junge und ältere Leute waren also tendenziell zufriedener als Menschen im mittleren Alter. Das ist bei den neuen Daten anders: Hier zeigt sich nun in mehreren Ländern, dass jüngere Leute nicht zufriedener sind als Menschen
Sind ältere Menschen zufriedener?
Im Durchschnitt aller untersuchten Länder fühlten sich die über 50-Jährigen etwas wohler als jüngere Erwachsene. Dieses Muster war nicht universell: In Ländern wie Indien, Ägypten und Japan berichten jüngere Menschen über ein höheres Maß an Wohlbefinden, während in Polen und Tansania das Wohlbefinden mit dem Alter abnimmt. Der Flourishing-Index reicht von 0 bis 10.
Sattler findet diese Beobachtung beunruhigend. Ob die jungen Menschen ihr ganzes Leben über weniger zufrieden bleiben oder sich das Blatt noch wendet, muss sich zeigen. Die Daten könnten aber ein guter Anlass sein, sich intensiver mit ihren Lebensbedingungen und Perspektiven auseinanderzusetzen. Denn einiges spricht dafür, dass sie es gerade besonders schwer haben.
Die Zahl psychischer Erkrankungen junger Menschen ist in den letzten Jahren immer weiter angestiegen. Woran liegt das? Meine Kollegin Maryline und ich haben mithilfe einer Psychologin nach Antworten gesucht:
2. Sind Kinder in Deutschland resilienter?
Bei einem weiteren Punkt der Studie stach Deutschland auf rätselhafte Art und Weise hervor: Eine schlechte Gesundheit als Kind hing hierzulande – anders als in anderen Ländern – mit einem späteren hohen »Flourishing« zusammen. Weshalb, ist allerdings noch unklar. Forschende könnten in Zukunft untersuchen, ob sich dieser Trend fortsetzt und welche Rolle
3. Wohlstand führt nicht zu höherem »Flourishing« – wichtig ist etwas anderes
Eine weitere Erkenntnis heben die Forschenden
Ein überraschendes Ergebnis ist, dass reichere Länder, darunter die USA und Schweden, nicht so erfolgreich sind wie andere. Sie schneiden bei finanzieller Stabilität gut ab, aber bei Sinnhaftigkeit und Beziehungen schlechter. Mehr Geld zu haben bedeutet nicht immer, dass es den Menschen im Leben besser geht.
Während Länder wie Indonesien und die Philippinen im World Happiness Report eher mäßig
Manche dieser Zusammenhänge zeigten sich den Forschenden zufolge fast überall: Personen, die eine Arbeit haben, die verheiratet sind oder die regelmäßig an (religiösen) Gemeinschaften teilnehmen, berichteten im Schnitt über ein erfüllteres Leben. Woran genau das liegt? Auch das können Forschende nun genauer unter die Lupe nehmen.
Trotz aller Einschränkungen: Was uns »Glücksstudien« zeigen
Die gute Nachricht ist: Wir müssen uns nicht allzu sehr den Kopf darüber zerbrechen, wer warum auf Platz 1 landet, und neidisch auf die Länder der ersten Plätze schielen. Beachtet man die Einschränkungen und verkürzt die Ergebnisse nicht auf simple Länderrankings, können die Daten aber durchaus dabei helfen, die Lebensbedingungen für Menschen zu verbessern. Sie geben Hinweise darauf, wo dringend Unterstützung nötig ist – und wer am ehesten Hilfe leisten kann (die »Älteren« den »Jüngeren« zum Beispiel).
Anders als es die Überschriften in den Medien nahelegen, schauen sich die »Glücksforscher:innen« genau das an. Mit den Ergebnissen der Global Flourishing Study steht ihnen dafür jetzt ein neuer Pool an Daten zur Verfügung. Das Besondere: Die Daten der Studie sind Open Source. So können Wissenschaftler:innen weltweit daran mitarbeiten, die offenen Fragen zu beantworten – und dem guten, glücklichen und gelingenden Leben für alle näherzukommen.
Titelbild: Depositphotos / Collage - copyright