Wir müssen über Jungs reden: Denn heutzutage Söhne großzuziehen, kann ganz schön Angst machen. Ein paar Fakten dazu:
Die unangenehme Frage, der wir uns stellen müssen, lautet: Wie können wir gegenhalten und Jungs von heute so begleiten, dass sie als Männer keine Probleme bekommen bzw. nicht selbst zum Problem werden?
Die Autorin und Journalistin Anne Dittmann hat sich diesen Fragen in ihrem neuen Buch »Jungs von heute, Männer von morgen« angenommen. Sie selbst ist Mutter eines Sohnes und möchte ihn feministisch erziehen. Er soll lernen, sich gut um sich selbst zu kümmern, radikalen Einflüssen zu widerstehen und offen über seine Gefühle zu reden. Ihre Methode verrät sie in diesem Interview.
Maryline Boudot:
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie enttäuscht waren, als Sie erfuhren, dass Sie einen Jungen bekommen werden. Das klingt erst mal hart. Warum haben Sie so gefühlt?
Anne Dittmann:
Mein Traum war es, ein Mädchen zu bekommen und es feministisch zu erziehen. Ich wollte ihr zeigen, wie sie sich durchs Patriarchat bewegen kann, wie sie für sich selbst einsteht und selbstbestimmt leben kann. So geht es vielen modernen Frauen: Sie fühlen sich mit Mädchen und anderen Frauen verbunden. Dagegen sind wir Männern gegenüber skeptisch: Wir haben gelernt, Gewalt zu durchschauen, und sind sensibilisiert für Unterdrückungsmuster. Wenn wir an einen Mann denken, gehen wir in Hab-Acht-Stellung.
Als ich erfahren habe, dass ich einen Jungen bekommen werde, war ich erst mal überfordert und wusste nicht, wie ich diese Verbundenheit herstellen kann. Aber die Enttäuschung hielt nicht lange an, denn ich habe mir gedacht: »Na toll, was bist du denn für eine Feministin?«
Wie war es dann, als Ihr Sohn zur Welt kam?
Anne Dittmann:
Ich habe schnell gemerkt: Der Penis ist das Uninteressanteste an dem Kind. Doch die Projektion von außen hat mein Sohn ab dem ersten Tag seiner Geburt gespürt. Schon im Krankenhaus hieß es: »Das ist ein starker Junge, mit dem kann man schon mal ruppiger umgehen, der hält das aus.«
Woher kommen diese Geschlechterzuschreibungen überhaupt?
Anne Dittmann:
US-Psycholog:innen haben 2003 einen Fragebogen entwickelt:
Das gilt bis heute in der Wissenschaft als zuverlässiges Messinstrument für Männlichkeitsausprägungen. Es erfasst 11 Eigenschaften: Gewinnen, emotionale Kontrolle, Risikobereitschaft, Gewalt, Dominanz, Playboy, Selbstständigkeit, Vorrang der Arbeit, Macht über Frauen, Geringschätzung von Homosexuellen und Streben nach Status. Diese Normen galten lange Zeit und teilweise auch heute noch als »natürlich männliche Eigenschaften«. Viele Jungen werden so erzogen.
Was machen diese Normen mit Jungen und Männern?
Anne Dittmann:
Das hat 2017 eine Analyse von 78 Studien mit rund 20.000 männlichen Teilnehmern gezeigt.
Männer begehen 3-mal so häufig Suizid wie Frauen. Grund dafür sind die negativen Auswirkungen der traditionellen männlichen Geschlechterrolle: Männer suchen sich seltener Hilfe, gehen bei Beschwerden erst zum Arzt, wenn es oft schon zu spät ist, oder unterdrücken ihre Gefühle durch Alkohol. Sie sterben auch eher durch riskantes Verhalten, wie beispielsweise bei Autounfällen. Das wünscht sich kein Elternteil für seinen Sohn.
Hatten Sie Angst, dass Ihr Sohn auch einer jener Männer werden könnte, die der toxischen Männlichkeit verfallen?
Anne Dittmann:
Die Möglichkeit, dass sie jene Männer werden, gibt es bei allen Jungen. Ich habe die Entscheidung getroffen, dass mein Sohn diese Normen nicht erlernen soll. Dadurch wird er zwar gewisse Privilegien nicht haben, wird vermutlich kein Topmanager einer großen Firma, aber dafür wird er ein glücklicheres Leben führen.
Wie können Eltern heute ihre Söhne besser begleiten?
Anne Dittmann:
Wir dürfen jene Männer nicht nur als Antivorbilder nehmen und unseren Söhnen damit vermitteln, wie sie nicht sein sollen. Es reicht nicht, dass wir ihnen Gewalt aberziehen. Wir müssen ihnen vorleben, wie sie fürsorgliche Männer werden.
Viele Mütter empfinden sich gar nicht als Vorbild für ihren Sohn, weil sie denken, dass Jungen männliche Vorbilder brauchen. Dafür gibt es aber überhaupt keinen wissenschaftlichen Boden. Auch Mütter können und sollten Vorbilder für ihre Söhne sein.
Wie machen Sie das?
Anne Dittmann:
Unsere eigene Erwartungshaltung ist ein wichtiger Schlüssel. Es gibt so viele Dinge, von denen wir glauben, dass Jungs sie nicht machen. Zum Beispiel, dass sie nicht über Gefühle sprechen oder sich nicht für Haushaltsaufgaben interessieren. Diese Mythen sitzen tief in uns.
Wichtig ist, sich immer wieder zu fragen: Würde ich das auch von einem Mädchen erwarten? Würde ich genauso handeln, wenn ich eine Tochter statt eines Sohnes hätte? Würde ich dann sagen: »Deine Haare sind zu lang, die müssen jetzt mal ab!«? Ohne moderne Jungen und Männer wird es keine gerechte Welt geben
Wir sollten ihnen auch zumuten, dass sie sich in weiblichen Sphären aufhalten. Kinder sind sehr neugierig und interessieren sich zum Beispiel auch für Menstruation. Die dürfen wir auch Jungs ohne Scham erklären. Dann fällt es ihnen als erwachsene Männer auch nicht schwer, für ihre Freund:innen Tampons kaufen zu gehen.
Auch wir Mütter sollten uns hinterfragen, ob wir uns auch in männlichen Sphären aufhalten. Traue ich mir zu, ein Regal aufzubauen? Kann ich die Reifen von meinem Auto wechseln? Dadurch lernen unsere Kinder, dass es keine am Geschlecht orientierten Aufgabenverteilungen gibt und sie sich frei entfalten können.
Weltweit lastet Care-Arbeit auf den Schultern von Frauen – also Hausarbeit, Betreuung von Kindern und Pflege von Angehörigen. Wie schaffen wir es, dass die Jungen später mehr solcher Aufgaben übernehmen?
Anne Dittmann:
Wie engagiert sich unsere Söhne als erwachsene Männer und Väter in der Care-Arbeit einbringen werden, hängt damit zusammen, ob und wie regelmäßig sie bereits heute den Geschirrspüler ausräumen, auf die Geschwister aufpassen, sich um den Hund kümmern, Wäsche aufhängen, staubsaugen, kochen oder den Müll runterbringen.
dass sich Jungen in deutschen Haushalten nicht annähernd so viel in die Hausarbeit einbringen müssen wie Mädchen. Im Alter zwischen 10 und 13 Jahren verbringen Jungen ca. 44 Minuten pro Tag und Mädchen 61 Minuten mit Care-Arbeit. Pro Woche sind das 2 Stunden mehr Hausarbeit für Mädchen – ein Unterschied von knapp 39%. Das ist enorm.
Daher sollten wir auch Jungen früh in die Care-Arbeit miteinbeziehen. Zum Beispiel zusammen die Wäsche in die Waschmaschine schmeißen, einen Kuchen backen oder den Tisch abräumen. Statt Autos oder Dinosaurier können wir Jungen auch einen Besen, eine Spielküche oder einen Kaufladen schenken.
Was aber, wenn sich ein Junge für nichts anderes als Autos und Dinosaurier begeistern lässt?
Anne Dittmann:
Dann ist das auch in Ordnung. Wir sollten unsere Kinder nicht zwingen, mit bestimmten Sachen zu spielen. Aber auch mit einem Auto lassen sich Care-Praktiken erleben. Gemeinsam mit dem Kind können wir überlegen: Was für Autos transportieren kranke oder behinderte Menschen? Wie putzt man ein Auto? Welche Lappen sind am besten für den Lack? Ein Auto lässt sich auch super als Kuchen backen. Es gibt viele Möglichkeiten, das typische Autothema aufzubrechen.
Genauso bei Dinosauriern. Denn die haben nicht nur gekämpft, sondern viele männliche Dinosaurier haben die Eier gebrütet. T-Rex-Männchen haben sich um die Kinder gekümmert und ihnen Futterstellen gezeigt.
Ziel ist nicht, dass alle unsere Jungs langhaarig und mit lackierten Fingernägeln rumlaufen. Wenn sie das wollen, gerne. Wenn nicht, dann ist das auch ok. Es geht darum, ihnen Alternativen aufzuzeigen – oder auch vorzuleben.
Und wenn ein Kind bisher nicht so erzogen wurde, wie führt man es da ran?
Anne Dittmann:
Zum Beispiel kann beim Essen darüber gesprochen werden, wer sich das Gericht ausgedacht hat, wer war dafür einkaufen und wer hat es zubereitet. In einem zweiten Schritt kann dann geschaut werden, ob die Aufgaben gerecht verteilt waren oder ob man es beim nächsten Mal anders macht. Kinder haben einen krassen Gerechtigkeitssinn. Wir können unseren Kindern so viel mitgeben, indem wir aushandeln, wer welche Aufgabe im Haushalt gerne übernehmen möchte, dabei alle Bedürfnisse einbeziehen und gemeinsam einen Konsens finden.
Verwirrt es Jungen denn nicht, wenn sie zu Hause feministisch erzogen werden und dann in der Außenwelt mit Männlichkeitsnormen konfrontiert werden?
Anne Dittmann:
Es bringt nichts, alles Toxische von unseren Kindern fernzuhalten und sie in eine Blase zu hüllen. Das funktioniert nicht lange, und früher oder später werden sie mit der Realität konfrontiert.
Ich habe meinem Sohn schon früh vermittelt, dass viele Menschen leider mit einem anderen Weltbild aufgewachsen sind. Wir sprechen offen darüber, dass Jungen in älteren Generationen kurze Haare haben und keine pinkfarbenen Klamotten tragen sollten. Er versteht das und weiß, dass es leider die Norm ist.
Wie gehen Sie damit um, wenn Ihr Sohn antifeministische Erfahrungen gemacht hat?
Anne Dittmann:
Auch darüber sprechen wir offen. Er weiß, dass er immer mit mir reden kann, wenn er das möchte. Es ist auch in Ordnung, wenn mein Sohn in seiner
anders verhält als zu Hause, wenn er ein anderes Vokabular benutzt, um Anerkennung zu bekommen, und sich zugehörig fühlt.
Ich sehe es eher positiv, wenn mein Sohn zu Hause feministisch erzogen wird und trotzdem die Codes von außerhalb kennt. Das heißt, dass er sehr anpassungsfähig ist und sich gut in verschiedenen Milieus bewegen kann.
Gleichzeitig kann ich das auch mit meinem Sohn reflektieren: Tut dir das gut, wenn du dich entsprechend verhältst? Machst du das nur, um dazuzugehören? Sind das deine Freunde? Würdest du ihnen auch deine Geheimnisse anvertrauen?
Vielen Jungen fällt es schwer, sich zu öffnen. Wie können wir Jungen dazu ermutigen, offen über ihre Gefühle zu sprechen?
Anne Dittmann:
Psycholog:innen empfehlen »Action-Love« als das geeignetste Mittel, um eine emotionale Verbindung zu Jungen herzustellen. Das heißt, dass man gemeinsame, bewegungsintensive Aktivitäten nutzt – etwa eine Autofahrt, einen Spaziergang zum Supermarkt –, um mit ihnen über ihre Gefühle zu sprechen. Das kann Jungen helfen, sich besser zu öffnen.
Außerdem ist es wichtig, früh die Vielfalt der Gefühle mit den Kindern zusammen zu erkunden und zu benennen. Zum Beispiel beim gemeinsamen Lesen eine Pause zu machen und zu überlegen: »Wie fühlt sich die Figur gerade?« So lernen die Jungen verschiedene Emotionen kennen und bekommen einen positiven Zugang dazu.
Ich habe keine eigenen Kinder, aber einen Patensohn. Kann ich ihm feministische Werte vermitteln, auch wenn ich ihn nicht so oft sehe?
Anne Dittmann:
Absolut. Andere Bezugspersonen können genauso Einfluss auf die Kinder haben und als Vorbilder dienen. Es kommt nicht drauf an, wie viel Zeit wir mit ihnen verbringen, sondern auf die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen, ob sie sich von uns verstanden fühlen und ob wir bereit sind, sie mit in unsere Erfahrungswelt zu nehmen und in ihre eigene einzutauchen.