Expert:innen sind sich einig: Israel handelt »völkermörderisch«
Unsere niederländischen Kolleg:innen haben mit 7 renommierten Genozid-Forscher:innen über Gaza gesprochen. Diese sind bei Weitem nicht so gespalten wie die öffentliche Meinung: »Israels Handlungen sind völkermörderisch.«
Ein Viertel der Babys im Gazastreifen ist akut unterernährt und Israel verweigert Tausenden Lastwagen mit Hilfsgütern die Einreise. Das Militär beschießt alle, die sich in der
Zum wiederholten Mal ordnet die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu an, dass viele Bewohner:innen Gazas ihre Unterkünfte verlassen sollen, während sein Finanzminister ankündigt, dass Gaza in ein paar Monaten
Begeht Israel hier Völkermord?
Dass dem so ist, glauben inzwischen nicht mehr allein Aktivist:innen. Nachdem zuvor bereits Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch sowie die
Genozid oder Völkermord?
Die Begriffe »Genozid« und »Völkermord« werden rechtlich und politisch meist synonym verwandt. Allerdings kann der Ausdruck »Völkermord« irreführend sein, da er suggeriert, es gehe ausschließlich um Tötungen. Tatsächlich umfasst ein Genozid mehr als nur Mord: Auch massive physische oder psychische Gewalt, Zwangssterilisationen, Vertreibung oder die vorsätzliche Verweigerung lebensnotwendiger Versorgung gelten als genozidale Handlungen.
Doch Völkermord ist nicht nur Gegenstand gesellschaftlicher Debatten – sondern auch ein wissenschaftliches Thema. Dieses Forschungsfeld betrachtet die Frage nicht als ein Ja-oder-Nein, sondern als einen Prozess. Kein Lichtschalter, sondern ein »Dimmer«, sagt Ugur Ümit Üngör, Professor für Holocaust- und Genozidstudien an der Universität Amsterdam und dem NIOD-Institut.
Und anders als in der öffentlichen Meinung sind sich führende Genozidforschende überraschend einig: Die Regierung Netanjahu, sagen sie, befinde sich mitten in diesem Prozess – laut der Mehrheit sogar in dessen Endstadium. Deshalb sprechen die meisten Forschenden inzwischen nicht mehr nur von »völkermörderischer Gewalt«, sondern von »Völkermord«.
Wir haben 7 Genozid-Expert:innen aus 6 verschiedenen Ländern zu ihren eigenen Einschätzungen und denen ihrer Kolleg:innen befragt.
Wen haben wir interviewt?
1) Shmuel Lederman: Israelischer Forscher an der Offenen Universität Israels;
2) Dirk Moses: Australischer Professor an der City University of New York und Chefredakteur des »Journal of Genocide Research«;
3) Melanie O’Brien: Australische Juristin, Forscherin an der University of Western Australia und Präsidentin der International Association of Genocide Scholars;
4) Raz Segal: Israelischer Genozidforschender an der Stockton University in New Jersey, USA;
5) Martin Shaw: Britischer Professor am Institut Barcelona d’Estudis Internacionals, emeritierter Professor an der University of Sussex und Autor unter anderem des Buches »What Is Genocide?«;
6) Uğur Ümit Üngör: Niederländischer Professor an der Universität Amsterdam und am NIOD-Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien;
7) Iva Vukušić: Kroatische Genozidforschende an der Universität Utrecht.
Zudem sprachen wir mit 3 weiteren Wissenschaftler:innen aus dem In- und Ausland aus angrenzenden Fachgebieten.
»Es gibt kein Gegenargument, das alle Beweise berücksichtigt«
»Ob ich jemanden nennen kann, dessen Arbeit ich respektiere und der nicht von Völkermord spricht? Nein, es gibt kein Gegenargument, das sämtliche Beweise berücksichtigt«, sagt der
Wissenschaftler:innen, die sagen, es handle sich nicht um Völkermord, gebe es vielleicht noch, sagt Ugur Ümit Üngör von der Uni Amsterdam. »Aber ich kenne keine.« Es gebe jedoch Forscher:innen, die das Label »Völkermord« früher abgelehnt hätten, inzwischen aber ihre Meinung geändert hätten – so etwa
Wir haben auch das maßgeblichste wissenschaftliche Fachjournal des Gebiets untersucht, das
Doch auch hier fällt auf: Die Mehrheit sehen in Gaza Völkermord oder zumindest völkermörderische Gewalt. Und das ist bemerkenswert für ein Forschungsfeld, in dem es keine einheitliche Definition dessen gibt, was Völkermord eigentlich ist.
Die offizielle juristische Definition entstand nach dem Holocaust
Den Begriff prägte der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin im Jahr 1944. Er verband das altgriechische genos (Volk) mit dem lateinischen caedere (töten). Seit den 1930er-Jahren suchte er nach einer Möglichkeit, die Zerstörung von Gruppen sichtbar zu machen – schockiert von der Straffreiheit für den Genozid an den Armenier:innen im
Erst nach dem Krieg fanden seine Vorschläge Gehör – bei den damals gerade gegründeten Vereinten Nationen. Es folgten Jahre des Feilens und Streichens. Die USA, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien bemühten sich darum, dass ihre eigenen Verbrechen – wie Stalins Massenhinrichtungen politischer Gegner, die Atombomben auf Japan, struktureller Rassismus in den USA oder die Gewalt in den europäischen Kolonien – nicht unter den Begriff Genozid fielen.
So musste Lemkin zusehen, wie die Weltmächte sein Ideal beschränkten. Wie unvollkommen sie auch sein mag – 1948 einigte man sich auf eine juristische Definition von Völkermord, mit der alle Großmächte leben konnten:
Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.
Heißt konkret:
- Das Töten von Mitgliedern der Gruppe
- Das Zufügen von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe
- Die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die auf ihre vollständige oder teilweise physische Vernichtung abzielen
- Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe
- Die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe
Ein Meilenstein für Lemkin – und ein entschärfter Kompromiss. Besonders durch die schwer fassbare Formulierung »in der Absicht«. Denn: Wie weist man die nach?

Seitdem ist der Begriff stets umstritten geblieben. Nach der juristischen Verankerung entwickelte sich ein eigenes wissenschaftliches Feld, das sich zunächst vor allem der Holocaustforschung widmete. Doch nach und nach wuchsen die Genozidstudien zu einem viel breiteren interdisziplinären Forschungsgebiet heran – mit Soziolog:innen, Politikwissenschaftler:innen und Jurist:innen, die jeweils eigene Methoden und Konzepte verwenden.
Während Holocaust-Historiker:innen darauf beharrten, die Shoah sei einzigartig – die »archetypische« Form des Völkermords –, begannen andere in den 1990er-Jahren, Vergleiche mit Ruanda, Bosnien-Herzegowina und sogar mit Genoziden vor dem Zweiten Weltkrieg zu ziehen. Für manche Historiker:innen war das schmerzhaft.
Für Uğur Ümit Üngör von der Uni Amsterdam ist das Forschungsfeld – wie jede Wissenschaft – im ständigen Wandel. Der Begriff Völkermord, sagt er, werde durch neue Fälle weiterentwickelt. So habe etwa Chinas Umgang mit den Uigur:innen, die massenweise in
Und dennoch – trotz all dieser internen Uneinigkeit sind sich die meisten Genozidforschenden einig, sagen alle, mit denen wir sprechen: In Gaza verübt Israel einen Völkermord.
Einige Forschende sprachen schon kurz nach dem 7. Oktober von Genozid, andere folgten später
Einige zogen diese Schlussfolgerung sehr früh. Zum Beispiel 6 Tage nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober: Raz Segal, ein israelischer Genozidforscher, und der renommierte britische Spezialist Martin Shaw. Wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen – Shaw betrachtet auch den Angriff der Hamas als völkermörderisch.
Andere waren zunächst vorsichtiger.
Für viele der von uns befragten Forschenden spielte die israelische Reaktion auf das
Doch die Regierung Netanjahu änderte nichts.
Für Shmuel Lederman, Dozent an der Offenen Universität Israels, war es eine Verkettung vieler Ereignisse. Zunächst lehnte er das Genozid-Etikett ab, doch nachdem der IGH sein Urteil aussprach, Israel den Grenzübergang von Rafah schloss und

Für Melanie O’Brien, Präsidentin der
Die Kluft zwischen Holocaust-Historiker:innen und den Kolleg:innen, die Genozide in einem breiteren Zusammenhang betrachteten, schrumpfe mit der andauernden israelischen Gewalt, sagt Uğur Ümit Üngör. Zwar gebe es kleine Holocaustzentren in den USA, die laut Üngör an der Einzigartigkeit der Shoah festhalten wollten. Doch ihnen gegenüber steht eine wachsende Zahl von Holocaust-Forschenden in den USA, die offen von Genozid sprechen.
Was sind die Gegenargumente?
Im westlichen Diskurs werden immer wieder dieselben Argumente vorgebracht, weshalb die israelischen Handlungen nicht als Völkermord eingestuft werden sollten. Ein Auszug:
- Es handelt sich um einen militärischen Krieg zur Zerschlagung der Hamas.
- Es gibt keinen klaren Ausrottungsplan.
- Noch sind nicht alle Gazaner getötet worden.
- Es ähnelt nicht dem Holocaust.
- Ein Gerichtsurteil steht noch aus.
Das seien Missverständnisse und Vereinfachungen, sagen die Genozid-Expert:innen. So spreche die offizielle juristische Definition ausdrücklich von der »vollständigen oder teilweisen« Zerstörung. Muss die Opferzahl an die 6 Millionen der Shoah heranreichen? Nein –
Und, so sagt O’Brien, geschehe ein Genozid nicht erst, weil ein Gericht das so feststelle. »Er geschieht, weil er geschieht.«
Muss es dafür einen schriftlichen Plan geben – wie das berüchtigte Protokoll der Wannseekonferenz der Nazis zur »Endlösung«? Nein. In den letzten 30 Jahren haben die Ruanda- und Jugoslawien-Tribunale sowie der IGH in einer Reihe von Urteilen eine Rechtsprechung aufgebaut, die den Begriff weiterentwickelt hat. So entschied der IGH 2007, dass eine gezielte Absicht auch ohne direkten Beweis vorliegen kann – etwa wenn sich aus einem »Verhaltensmuster« schließen lässt, dass die (teilweise) Zerstörung einer Gruppe Ziel der Gewalt war. Ausschlaggebend sind dabei Ausmaß, Art und Intensität der Taten. Bedeutet das, dass der IGH Israel letzten Endes auf jeden Fall des Völkermords schuldig sprechen wird?
Nein, solange der IGH an einer »Lichtschalter«-Definition festhalte, sei die Wahrscheinlichkeit »fifty-fifty«, schätzt Dirk Moses, Chefredakteur des »Journal of Genocide Research«. Es gebe eine juristische und eine sozialwissenschaftliche Realität.
Die israelische Gewalt in Gaza stützt Moses Ansicht nach eine Theorie, die im Forschungsfeld schon länger schwelt: Die absolute Trennung zwischen militärischen und genozidalen Zielen ist mitunter nicht haltbar. Dieses künstliche Unterscheidungsmerkmal hatten die Weltmächte 1948 in das Abkommen hineingezwängt – doch in der Praxis verschwimmen diese Kategorien häufig.
Hinter der israelischen Politik, sagt der Australier, stecke eine »doppelte Intention«. So diene die Blockade von humanitärer Hilfe, die Zerstörung von Krankenhäusern und das Aushungern der Menschen in Gaza gleich 2 Zielen: Sie träfen die Hamas. Aber ebenso eindeutig (und vor allem) träfen sie die Zivilbevölkerung, nicht als unbeabsichtigte Kollateralschäden – sondern gezielt.
Ein weiteres Beispiel: Israels Einsatz von künstlicher Intelligenz, um mithilfe von Telefondaten mögliche Hamas-Kämpfer zu lokalisieren. Diese Technik ist so grob und wird mit so geringer menschlicher Kontrolle angewandt, dass ein Luftangriff schnell mit dem Tod Dutzender – oder wie in einem

Laut einer Geheimdienstquelle des
Letzteres nennt Shmuel Lederman »voraussehbare Folgen«. Und darin, sagt Lederman, liege der Genozid. Denn: Man akzeptiere die völkervernichtende Wirkung der eigenen Handlungen – auch wenn sie nicht das Hauptziel seien.
Wer Israel des Völkermords beschuldigt, schadet der Karriere
Obwohl mittlerweile auch zurückhaltende Genozidforschende die Auffassung vertreten, dass Israels Handlungen in Gaza genozidal sind, ist das wissenschaftliche Umfeld stark angespannt. Forschende erleben immer wieder, dass es ihrer Karriere schadet, wenn sie Israel des Völkermords bezichtigen. Es droht der Antisemitismusvorwurf – vor allem in den USA.
So wurde nach Protesten die Berufung von Raz Segal zum Leiter des Genozidzentrums der Universität von Minnesota zurückgezogen. Und die Universität Harvard sah sich einem so starken Druck ausgesetzt, »anti-israelische« Stimmen zum Schweigen zu bringen, dass 2 Leiter des Zentrums für Nahoststudien entlassen wurden.
Segal, selbst jüdisch, berichtet, ihm werde regelmäßig Antisemitismus vorgeworfen – vor allem von fachfremden Wissenschaftler:innen aus Israel und Deutschland. Diese »nutzen diesen Vorwurf, um ihre Kollegen anzugreifen«. Auch O’Brien sagt, dass der Antisemitismusvorwurf eine abschreckende Wirkung auf die freie Meinungsäußerung über Israels Verhalten habe. »Wissenschaftler:innen sind weniger bereit, offen über das zu sprechen, was passiert.«
Diese Spannungen führen zu tiefer Frustration. Der Holocaust-Forscher Omer Bartov trat nach 20 Jahren aus dem Redaktionsteam der
Ein deutscher Experte, der anonym bleiben will, bezeichnet das Thema in Deutschland als »vergiftet«: Man werde sofort als Antisemit:in diffamiert, wenn man auch nur von »möglichem Völkermord« spreche. Wären diese Taten von einem anderen Land verübt worden als Israel, sagt er, dann wären alle Deutschen sofort alarmiert und würden von genozidaler Gewalt sprechen – wie bei dem
Laut Dirk Moses befindet sich das Forschungsfeld in einer Krise, solange es das künstliche Unterscheiden zwischen genozidalen und militärischen Zielen nicht überwindet. Damit ermögliche man Massentötungen an Palästinenser:innen im Namen der Selbstverteidigung gegen die Hamas. Besonders problematisch sei das im Bereich der Holocaust-Studien, wenn dort Israels Handlungen auf diese Weise gerechtfertigt würden. Moses sagt: »Dann ist ein Teil des Forschungsfeldes eigentlich tot – nicht nur konzeptionell widersprüchlich, sondern mitschuldig.«
Lenkt die Begriffsdiskussion nicht ab?
Professor Martin Shaw nennt es enttäuschend, dass selbst seriöse Zeitungen nicht bereit seien, »die Frage direkt zu benennen«. Gleichzeitig äußern viele Expert:innen Frustration darüber, welch große Bedeutung Politik und Medien der Genozidfrage in Gaza beimessen. Warum endlos über den präzisen Begriff streiten, während jetzt Menschen ermordet, vertrieben, ausgehungert und ganze Städte zerstört werden? Welchem Menschen in Gaza ist es wichtig, ob er bei einem Bombenangriff stirbt, der als »ethnische Säuberung« gilt, ob er verhungert in einer »Tat gegen die Menschlichkeit«, ob er seine Eltern durch ein »Kriegsverbrechen« verliert oder ob er unter Trümmern in einem »Völkermord« erstickt?

Lenkt diese Begriffsdiskussion nicht ab von der eigentlichen Frage: Was ist zu tun?
Juristisch gesehen sei es durchaus entscheidend, ob es sich um Völkermord handele oder nicht, sagt O’Brien. »Wir haben eine Völkermordkonvention, die die Unterzeichner verpflichtet, Genozid zu verhindern. Diese Pflicht greift bereits beim bloßen Risiko eines Völkermords. So etwas gibt es bei anderen Verbrechen nicht.«
Die Fixierung auf den Begriff hängt laut Expert:innen eng mit der quasi-heiligen Aufladung des Genozidbegriffs zusammen – seiner Stellung als »Verbrechen der Verbrechen«, dem ultimativen Bösen. Doch das sei nicht zwingend gerechtfertigt, sagen sie. »Kriegsverbrechen« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« seien für die Opfer genauso grausam – und würden ebenso streng geahndet. Mit lebenslanger Haft.
Aber: Völkermord sei immer ein moralisch aufgeladener Begriff gewesen, betont Shaw. »Anders als Krieg, der prinzipiell legitim sein kann, ist Genozid das nicht. Völkermord ist eine Kategorie, die das monumentale Böse umfasst: den Versuch, Zivilbevölkerungen, Gesellschaften, Gruppen zu zerstören.« Und deshalb liege in diesem Begriff immer auch ein Aufruf zum Handeln.
Dieser Artikel erschien zuerst am 14. Mai 2025 bei der
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