»Ich verstehe die Faszination des Westens für den IS-Terror nicht«
Es liegt an uns, ob wir den »Islamischen Staat« besser verstehen. Dieser Psychiater, der Täter und Opfer aus Syrien behandelt, erklärt, warum das so vielen Menschen helfen würde.
24. Oktober 2017
– 8 Minuten
Joseph El-Khoury
Wie können wir Selbstmordattentäter verstehen?
Wer Joseph El-Khoury diese Frage stellt, muss seine Antwort darauf erst einmal auf sich wirken lassen: »Genauso, wie wir verstehen, warum würden, nur um 2 Meter Boden zu erkämpfen.«
Enthauptungen, messerschwingende Vermummte, Bombenanschläge – die Horrorbilder, die der IS um die Welt sendet, erklärt der Libanese El-Khoury bewusst sachlich. Für ihn sind sie nur die Spitze des Eisbergs, auf dem die schwarze Flagge der Dschihadisten weht. Mit allem, was darunterliegt, beschäftigt er sich im im Londoner King’s College. Doch dort ist er kein gewöhnlicher Student. Bereits seit 2012 behandelt er als Psychiater im Libanon Opfer und Täter des Syrienkrieges – egal ob Geflüchtete, oder Milizen. Unter seinen Patienten sind auch Libanesen, die aus den Gebieten des zerfallenden »Islamischen Staats« zurückkehren und gefährlich sein könnten.
Tausende IS-Unterstützer kehren in ihre Heimatländer zurück
Es ist zu erwarten, dass also Menschen, die den IS unterstützt haben, nach dem Krieg in Syrien und im Irak in ihre Heimatländer zurückkehren. Diese Heimatländer sind darauf aber nicht gut vorbereitet. Das kann auch El-Khoury bestätigen, für den europäische und arabische Programme, in denen IS-Rückkehrer entradikalisiert werden sollen, noch nicht die optimale Lösung sind. Was muss also mit diesen Rückkehrern geschehen? Schon der Blick in die eigene Geschichte könnte Antwort darauf geben:
Joseph, du studierst in London und arbeitest in Beirut – was ändern knapp 3.500 Kilometer Luftlinie an der Perspektive auf den IS?
Joseph El-Khoury:
Ihr in Europa konzentriert euch darauf, die politische Gewalt des IS in euren Ländern zu verhindern. Alles dreht sich um einige wenige Menschen, deren Taten eine katastrophale Wirkung entfalten können. Natürlich ergibt dieser Fokus Sinn, da schon jetzt zu schweren politischen Spannungen führt. Terrorismus zu untersuchen ist deshalb sehr wichtig für den Westen. Um den Einfluss des IS in der arabischen Welt zu verstehen, hilft der Fokus auf Terrorismus allein nicht weiter.
Warum?
Joseph El-Khoury:
In der arabischen Welt haben wir nicht den Luxus, uns mit einzelnen Anschlägen zu beschäftigen. Es ist viel komplexer, denn radikale Denkweisen und Fundamentalisten haben Gesellschaften über die letzten 50–60 Jahre stark geprägt. Wer einen Eindruck davon bekommen will, wie sehr sich die arabische Welt verändert hat, sollte anschauen.
Ein Mensch, der denkt, hängt starr an überlieferten Grundsätzen, lehnt Neuerungen ab und will sich der modernen Zeit nicht anpassen. Diese Grundsätze können politische oder religiöse Überzeugungen sein.Bundeszentrale für politische Bildung
Fundamentalismus und Terrorismus sind 2 grundverschiedene Konzepte, die leider häufig verwechselt werden. Für den Westen, der hauptsächlich mit Terrorismus zu kämpfen hat, gilt: Auch die Welle des islamistischen Terrorismus wird vorübergehen, genauso wie der wie jener der in Europa endete.
Das klingt so, als müssten wir uns um Terroristen eigentlich keine Gedanken mehr machen, sondern einfach nur abwarten, bis sich das Problem von selbst erledigt.
Joseph El-Khoury:
Ich sage nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und Gefährder nicht beobachten und untersuchen sollten. Ich verstehe nur nicht die Faszination im Westen für den IS als den Inbegriff einer übermächtigen Terrororganisation, die er nicht ausschließlich ist. Terrorismus, die Horrorschlagzeilen über Enthauptungen, das alles ist nur ein kleiner Teil von dem viel größeren Phänomen »Islamischer Staat«. Auch wenn seine territoriale Macht zusammenbricht, bleibt sein fundamentalistisches Netzwerk im arabischen Raum bestehen und die vielen Menschen werden nicht so einfach in ihren Prä-IS-Alltag zurückkehren. Und das sind nicht alles Gotteskrieger. Wenn der Islamische Staat zerfällt, wird es wichtig sein, diese Menschen voneinander zu unterscheiden.
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.